Wie die Chancen für ein zweites Referendum stehen und warum Unternehmen das Risiko eines ungeordneten Brexits nicht ausschließen können.
Die Berichterstattung aus London am vergangenen Samstag war sehr beeindruckend. Schätzungsweise 700.000 Menschen (das sind ca. 1 % der gesamten britischen Bevölkerung) sind nach Veranstalterangaben für ein zweites Brexit-Referendum auf die Straße gegangen.
Es schien, als ob beim People’s Vote March Bürger aus allen Bevölkerungsschichten und aus allen Teilen des Vereinigten Königreichs auf den Beinen waren, um friedlich aber entschlossenen gegen das Brexit-Referendum von 2016 zu protestieren. Aber lassen sich dadurch die Dinge noch mal drehen? Wird die britische Regierung aufgrund der jüngsten Entwicklungen ihren Kurs ändern und den Verlust der EU-Mitgliedschaft aufhalten?
Lassen Sie uns noch mal kurz rekapitulieren: Am 29. März 2017 hat das Vereinigte Königreich seine Austrittserklärung dem Europäischen Rat übermittelt. Art. 50 EUV ermöglicht einem EU-Mitgliedstaat ein Austrittsgesuch abzugeben. Zwei Jahre nach der Austrittsmitteilung finden die EU-Verträge keine Anwendung mehr im Vereinigten Königreich, falls nicht vorher ein Austrittsabkommen in Kraft tritt oder eine Vereinbarung zur Verlängerung der Frist zustande kommt.
Auf dieser Basis scheint es derzeit nur zwei Möglichkeiten zu geben, zu verhindern, dass sich am 29. März 2019 automatisch der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU vollzieht:
- Das Vereinigte Königreich und die verbleibenden 27 EU Mitgliedstaaten (EU-27) vereinbaren im Austrittsabkommen ein anderes Austrittsdatum oder verlängern die Zwei-Jahres-Frist;
- Ein Rückzug der Austrittsmitteilung durch das Vereinigte Königreich. Es ist rechtlich umstritten, ob eine Austrittsmitteilung einseitig zurückgezogen werden kann. Das schottische Berufungsgericht hat dies dem Europäischen Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorgelegt. Mit einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs wird noch in diesem Jahr gerechnet.
Nun ist das Vereinigte Königreich am Zug. Als erster Schritt wäre eine Änderung der Regierungspolitik von Theresa May erforderlich, die bisher an einem EU Austritt am 29. März 2019 festhält. Innerparteilich hat Theresa May aber ein großes, langjähriges Problem: In der EU-Frage muss sie einen sehr starken euroskeptischen Flügel und einen anderen Teil der Konservativen ausbalancieren, die lieber einen Kompromiss in der EU-Frage hätten. Ob ihr das gelingt bleibt spannend, zumal das Austrittsabkommen, neben dem Europäischen Parlament und dem Europäischen Rat auch vom britischen Parlament genehmigt werden muss. Theresa May hat für jedwede Alternative Schwierigkeiten eine Mehrheit hinter sich zu bringen. Die Lage der britischen Regierung ist so prekär, dass auch eine (späte) Niederlage von Theresa May und ein sich anschließender Regierungs- und Politikwechsel nicht ausgeschlossen scheint.
Ein zweites Referendum bleibt unwahrscheinlich
Dass vor Ende März 2019 ein zweites Referendum zustande kommt, scheint sehr unwahrscheinlich. Es setzt ein Parlamentsgesetz voraus und derzeit dürfte es im Unterhaus nicht genug Befürworter dafür geben. Da scheint es derzeit noch wahrscheinlicher, dass sich das Vereinigte Königreich mit Zustimmung des britischen Parlaments und EU-27 auf ein Austrittsabkommen einigen. Auf Grundlage der im Dezember 2017 zwischen den Verhandlungsparteien zustande gekommenen Einigung hinsichtlich der Übergangsphase – deren Eintritt aber vom Abschluss des Austrittsabkommens abhängt – erhält das Vereinigte Königreich bis Ende 2020 weiter Zugang zum Binnenmarkt und würde auch weiterhin an der Zollunion teilnehmen. Es bliebe sämtliches EU-Recht im Vereinigten Königreich anwendbar. Auf politischer Ebene wäre das Vereinigte Königreich aber kein EU-Mitglied mehr und könnte damit auch nicht in den EU-Organen mitentscheiden.
Vermutlich wird auch mit dem Ablauf des 29. März 2019 das Referendum von 2016 an Relevanz verlieren und die künftigen Beziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und EU-27 dürften in den Vordergrund rücken. Der Fokus wird ab diesem Zeitpunkt wahrscheinlich eher auf die Vereinbarung eines Handelsabkommens zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU-27 gerichtet sein. In Betracht kommen hier ein Freihandelsabkommen nach Art. 207 AEUV oder ein Assoziierungsabkommens nach Art. 217 AEUV, in dem die künftigen politischen und Handelsbeziehungen geregelt werden.
Risiken eines ungeordneten Austritts
In trockenen Tüchern ist ein geordneter Brexit noch nicht. Vielmehr besteht weiterhin die Gefahr, dass das Vereinigte Königreich am 29. März 2019 die EU ohne Übergangsregeln verlässt, entweder weil keine Einigung zwischen den Verhandlungsparteien erzielt wird oder eine getroffene Vereinbarung vom britischen Parlament abgelehnt wird. Weniger wahrscheinlich aber theoretisch möglich ist auch, dass die Vereinbarung im EU-Parlament oder beim Europäischen Rat scheitert. Das Europäische Parlament muss dem Austrittsabkommen mit einer einfachen Mehrheit der Stimmen (einschließlich der Stimmen der Mitglieder im Europäischen Parlament des Vereinigten Königreichs) zustimmen. Der Abschluss des Abkommens über die Einzelheiten des Austritts erfolgt durch den Europäischen Rat und bedarf einer sogenannten großen qualifizierten Mehrheit (72% der 27 Mitgliedsstaaten, d.h. 20 Mitgliedsstaaten bzw. 65% der Gesamtbevölkerung der EU-27). Das Vereinigte Königreich hat gemäß Art. 50 Abs. 4 EUV hierbei kein Stimmrecht.
Alle Fälle würden einen harten ungeordneten Brexit nach sich ziehen, bei dem im Vereinigten Königreich von einem auf den anderen Tag das gesamte EU-Recht keine Anwendung mehr findet. Wenn keine Übergangsphase zustande kommt wird im Frühjahr 2019 in unzähligen Bereichen Rechtsunsicherheit bestehen. Auch der Handel wäre betroffen, denn das Vereinigte Königreich wird dann wie ein Staat behandelt, mit dem die EU kein Handelsabkommen abgeschlossen hat. Aus diesem Grund ist es unerlässlich, dass Unternehmen die verbleibende Zeit nutzen, um sich auf das Worst-Case-Szenario vorzubereiten und gleichzeitig auf das Beste zu hoffen.