Umsatzsteuerhinterziehung in der Lieferkette eines Unternehmens kann neben Bußgeldern auch zur Versagung des Vorsteuerabzugs führen.
Die Umsatzsteuer steht aufgrund ihres hohen Anteils am Gesamtsteueraufkommen des Staates und der vielen Steuerhinterziehungen – insbesondere durch betrügerische Umsatzsteuerkarussellgeschäfte – sehr im Fokus der Finanzbehörden. Fehler im Bereich der Umsatzsteuer wirken sich für betroffene Unternehmen nicht selten existenzbedrohend aus, denn die Gewinnmarge beträgt selten 19 % des Umsatzes. Hinzu kommt, dass Ermittlungsmaßnahmen, sei es durch die Betriebsprüfung oder durch die Steuerfahndung, häufig erst nach mehreren Jahren ergriffen werden und bis dahin eine entsprechend hohe Summe zzgl. Zinsen aufgelaufen ist, da sich Fehler zumeist über Jahre hinweg fortsetzen.
Der Schaden für den Fiskus infolge von Umsatzsteuerhinterziehungen (teilweise auch als Umsatzsteuerbetrug bezeichnet) liegt Schätzungen zufolge jährlich im Milliardenbereich. Kommen die Finanzbehörden einem Umsatzsteuerbetrug auf die Spur, ist der Umsatzsteuerbetrüger* bereits meist untergetaucht. Den Finanzbehörden bleibt nur die Möglichkeit, sich an anderen Beteiligten schadlos zu halten. Daher versagen sie diesen Unternehmen in der Lieferkette den Vorsteuerabzug oder gewähren die eigentlich vorgesehene Steuerbefreiung für Exporte in andere EU-Staaten sowie Nicht-EU-Staaten nicht.
Dies ist jedoch nur unter bestimmten Voraussetzungen möglich, die der Europäische Gerichtshof (EuGH) in seiner sog. Missbrauchsrechtsprechung aufstellte und die mittlerweile auch im Umsatzsteuergesetz kodifiziert wurden. Erforderlich ist demnach, dass das betreffende Unternehmen den Vorsteuerabzug oder die Steuerbefreiung missbräuchlich geltend macht, weil es den Umsatzsteuerbetrug in seiner Lieferkette kannte oder kennen musste.
Der Bundesfinanzhof (BFH) hat sich erneut mit der Frage befasst, welche Anforderungen an das Kennenmüssen zu stellen sind (BFH, Urteil v. 20. Oktober 2021 – XI R 19/20).
Güter mit bestimmten Merkmalen weisen ein höheres Risiko auf, in Umsatzsteuerbetrug verwickelt zu sein
Umsatzsteuerbetrüger gründen i.d.R. Unternehmen, die dann die Lieferketten am Markt etablierter Unternehmen unterwandern. Um ihr Gewinnpotenzial aus dem Betrug zu steigern, handeln sie häufig mit hochpreisigen, aber kleinen oder gar körperlosen Gütern, die geringe Lagerkapazitäten benötigen und eine hohe Umschlagshäufigkeit haben. In der Vergangenheit waren dies z.B. Mobiltelefone, Chips, Prozessoren oder Emissionszertifikate.
§ 13b UStG (sog. Reverse-Charge-Verfahren) – hiernach schuldet der Leistungsempfänger die Umsatzsteuer mit der Folge, dass die Bedingung für das Funktionieren von Umsatzsteuerkarussellen in Gestalt des Auseinanderfallens von Steuerschuldner und Vorsteuerabzugsberechtigtem nicht erfüllt ist – liest sich wie eine Aufzählung von in der Vergangenheit durch betrügerische Umsatzsteuergeschäfte besonders betroffenen Branchen. Der Gesetzgeber reagiert jedoch regelmäßig erst dann mit einer Erweiterung des § 13b UStG, wenn die entsprechende Branche bereits konkret von betrugsbehafteten Umsatzsteuergeschäften betroffen ist. Eine Absicherung redlicher Unternehmer gegen die Gefahren von Umsatzsteuerkarussellen kann § 13b UStG daher i.d.R. nicht bzw. nur teilweise leisten.
Die Betrüger locken ihre Abnehmer oder Zulieferer meist mit besonders vorteilhaften Preisen, die sie anbieten können, weil sie sich diesen „Rabatt“ durch den Ertrag aus dem Betrug um ein Vielfaches kompensieren lassen können. Zunächst beliefern sie, wie gewöhnlich, ihre Abnehmer und stellen ordnungsgemäße Rechnungen mit Umsatzsteuerausweis. Daher fällt zunächst auch niemandem etwas auf. Der Abnehmer bezahlt dem Betrüger den Kaufpreis inklusive Umsatzsteuer und macht selbst den Vorsteuerabzug geltend. Anstatt die eingenommene Umsatzsteuer wie vom Gesetz vorgeschrieben an das Finanzamt abzuführen, behält der Betrüger sie einfach selbst. Bevor den Finanzbehörden dieses Vorgehen auffällt, taucht der Betrüger unter und ist nicht mehr greifbar.
Bei sog. Umsatzsteuerkarussellen – in die häufig auch redliche Unternehmer, die ihre kaufmännischen Sorgfaltspflichten ordnungsgemäß erfüllen, involviert werden – finden zusätzlich steuerfreie Lieferungen über EU-Grenzen hinweg statt, die es ermöglichen, dieselben Waren im Kreis rotierend zu verschieben. So wird die Umsatzsteuer jedes Mal, wenn die Ware den Kreis durchläuft, von Neuem hinterzogen.
Versagung des Vorsteuerabzugs und strafrechtliche Verfolgung
Den dem Steuerzahler hierdurch entstehenden Schaden können die Finanzbehörden durch den nunmehr untergetauchten Betrüger nicht mehr kompensieren. Stattdessen versuchen sie, den Schaden auszugleichen, indem sie Unternehmen in der Lieferkette de facto dafür haftbar machen. Sie werfen diesen Unternehmen vor, den Betrug vorsätzlich oder zumindest grob fahrlässig begünstigt zu haben, indem sie die Geschäftsbeziehung mit dem Betrüger eingegangen sind.
Anforderungen an das „Kennenmüssen“ des Umsatzsteuerbetrugs in der Lieferkette
Die Anforderungen an die Versagung des Vorsteuerabzugs bzw. der Steuerbefreiung, namentlich das „Wissenmüssen“, präzisiert der BFH in seinem Urteil und bezieht sich dabei auf die Rechtsprechung des EuGH.
Die Beweislast liegt bei der Finanzverwaltung. Erforderlich ist, dass der Wirtschaftsbeteiligte alle Maßnahmen ergreift, die vernünftigerweise von ihm verlangt werden können, um sicherzustellen, dass der von ihm getätigte Umsatz ihn nicht an einer Umsatzsteuerhinterziehung beteiligt. Liegen Anhaltspunkte für Unregelmäßigkeiten oder eine Steuerhinterziehung vor, kann er verpflichtet sein, über einen anderen Wirtschaftsteilnehmer Auskünfte einzuholen.
Nicht verlangt werden darf hingegen die Durchführung komplexer und umfassender Überprüfungen der Lieferanten. Die Finanzbehörden dürfen dem Steuerpflichtigen auch nicht faktisch die ihnen selbst obliegenden Kontrollverpflichtungen übertragen. Insbesondere darf nicht verlangt werden, zu prüfen, ob ein Rechnungsaussteller über die betreffenden Gegenstände verfügt hat oder seinen Pflichten zur Erklärung und Abführung der Umsatzsteuer nachgekommen ist.
Steuerstrafrechtliche Folgen
Von der Versagung des Vorsteuerabzugs oder der Steuerbefreiung unberührt bleibt, dass die handelnden Personen im Unternehmen sich selbst der Umsatzsteuerhinterziehung oder der leichtfertigen Steuerverkürzung schuldig gemacht haben können. Aufgrund des hohen Betrugsvolumens steht häufig ein besonders schwerer Fall der Steuerhinterziehung im Raum, der Haftstrafen von bis zu zehn Jahren nach sich ziehen kann.
Auch leitende Angestellte, insbesondere das Management, können sich strafbar machen, selbst wenn sie persönlich nicht in die Geschäfte involviert waren. Der Vorwurf gegen sie lautet, die Implementierung eines effektiven Compliance-Management-Systems unterlassen zu haben. Dem betreffenden Unternehmen drohen darüber hinaus Geldbußen von bis zu EUR 10 Millionen – zusätzlich zur Versagung des Vorsteuerabzugs oder der Steuerbefreiung.
Unternehmen sollten einer drohenden Beteiligung an Umsatzsteuerhinterziehungen durch sorgfältige Vorbeugung und Nachsorge begegnen
Besonders in der aktuellen Zeit, wo Unternehmen aufgrund von Pandemie, Ukraine-Krieg, Rohstoffmangel und gestörten Transportwegen wie infolge des Schiffsunglücks im Suez-Kanal spontan Lieferketten umstellen müssen, bieten sich für Umsatzsteuerbetrüger optimale Gelegenheiten, sich in die Lieferketten von Unternehmen einzunisten, die dringend Zulieferer finden müssen. Unternehmen müssen deshalb besonders darauf Acht geben, wer Teil ihrer Lieferkette wird. Das gilt trotz und auch gerade wegen der schwierigen Lage auf dem Beschaffungsmarkt.
Unternehmen können sich durch Know-Your-Customer(KYC)- und weitere Compliance-Maßnahmen absichern. Da Umsatzsteuerbetrug in der Lieferkette aber auch dann Folgen hat, wenn nicht der eigene Vertragspartner, sondern ein in der Kette vor- oder nachgeschaltetes Unternehmen den Umsatzsteuerbetrug begeht, kann es anzuraten sein, den eigenen Vertragspartner durch eine entsprechende Klausel im Vertrag in die Pflicht zu nehmen. Das gilt sowohl für Beschaffungs- als auch für Absatzverträge.
Zur Verhinderung potenziell existenzbedrohender Steuernachzahlungen und strafrechtlicher Verfolgung von Mitarbeitern und Management ist die Durchführung der erforderlichen Compliance-Maßnahmen substanziell. Gerade auch wenn ein Umsatzsteuerbetrug in der Lieferkette bereits festgestellt wurde, ist der Aufbau eines effektiven Tax-Compliance-Management-Systems von noch größerer Bedeutung, um den Finanz- und Strafverfolgungsbehörden die eigene Vertrauenswürdigkeit zu beweisen. Darüber hinaus sollten sich Unternehmen und betroffene Mitarbeiter frühzeitig steuerlich und strafrechtlich beraten lassen, wenn das Thema Umsatzsteuerbetrug in einer Betriebsprüfung aufkommt oder die Steuerfahndung eingeschaltet ist.
*Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Lediglich der leichteren Lesbarkeit halber wird künftig bei allen Bezeichnungen nur noch die grammatikalisch männliche Form verwendet.