Die Europäische Kommission reagiert (spät) auf die erheblichen praktischen Auslegungsfragen bei der Zählung aktiver Nutzer:innen nach dem DSA.
Das Ende 2022 in Kraft getretene „Gesetz über digitale Dienste“ (englisch: Digital Services Act – DSA) schreibt vor, dass Plattform-Betreiber:innen am 17. Februar 2023 erstmals Informationen über die Zahl ihrer aktiven Nutzer:innen veröffentlichen müssen. Ab 45 Millionen aktiver Nutzer:innen in der Union gelten Online-Plattformen nämlich als „sehr groß“ und unterliegen damit deutlich strengeren Sorgfalts- und Transparenzpflichten.
Wann ein:e Nutzer:in als „aktiv“ gilt, ist im DSA jedoch nur unzureichend geregelt (insbesondere in Art. 3(p) DSA und Erwägungsgrund 77). Auf dieser Grundlage ergeben sich erhebliche praktische Auslegungsfragen. Nachdem sich mehrere Betreiber von Vermittlungsdiensten ratsuchend zu diesem Thema an die Europäische Kommission gewandt hatten, veröffentlichte diese am 1. Februar 2023 „Fragen und Antworten zur Identifizierung und Zählung aktiver Nutzer im Rahmen des Gesetzes über digitale Dienste“.
Unverbindlicher „Standpunkt der Kommissionsdienststellen“
Bei den Leitlinien handelt es sich nicht um einen „delegierten Rechtsakt“, den die Kommission nach Art. 33 Abs. 3 DSA erlassen könnte und in dem
sie die Methode zur Berechnung der durchschnittlichen monatlichen Zahl der aktiven Nutzer[:innen] in der Union ergänzt und sicherstellt, dass die Methode den Markt- und Technologieentwicklungen Rechnung trägt.
Vielmehr handelt es sich bei dem jetzt veröffentlichten Dokument lediglich um den „Standpunkt der Kommissionsdienststellen“, der „für die Europäische Kommission nicht bindend“ sein soll. Es enthält somit keine verbindliche Auslegung des DSA und
lässt etwaige Beschlüsse oder Standpunkte der Kommission oder delegierte Rechtsakte, die die Kommission in Zukunft gemäß Artikel 33 Absatz 3 des DSA erlassen kann, unberührt.
Hintergrund ist, dass für den Erlass eines delegierten Rechtsakts das nach dem DSA neu zu schaffende „Gremium für digitale Dienste“ konsultiert werden muss. Dieses Gremium existiert jedoch noch nicht, da es aus den „Koordinatoren[:innen] für digitale Dienste“ der Mitgliedstaaten besteht (Art. 62 Abs. 1 DSA), die erst bis zum 17. Februar 2024 benannt werden müssen (Art. 49 Abs. 3 DSA).
Keine entscheidende Auslegungshilfe – Rechtsunsicherheit verbleibt
Das Dokument ist als „Q&A“ aufgebaut und enthält insgesamt 13 Fragen und Antworten. Um es vorwegzunehmen: Der Mehrwert hält sich insgesamt in Grenzen. Kaum eine relevante Auslegungsfrage wird beantwortet, die nicht mit dem bisherigen Verordnungstext zu lösen gewesen wäre. Es verbleibt also Rechtsunsicherheit. Über weite Teile werden lediglich die einschlägigen Passagen aus dem Verordnungstext und den Erwägungsgründen des DSA wiedergegeben.
Der Mehrwert besteht also eher in der komprimierten Darstellung der im Zusammenhang mit der Zählung von aktiven Nutzer:innen relevanten Textpassagen des DSA und weniger darin, dass relevante Abgrenzungsfragen gelöst werden. Im Übrigen empfiehlt es sich, das englische Original der Leitlinien zu lesen, da die deutsche Übersetzung einige Unschärfen enthält.
Leitlinien orientieren sich an Verordnungstext und Erwägungsgründen
Der Großteil der Antworten ergibt sich ohne Weiteres aus einer aufmerksamen Lektüre der relevanten DSA-Vorschriften und des Erwägungsgrunds 77. Zu den interessanteren Aussagen der Leitlinie gehören:
- Bei Online-Handelsplattformen/-Marktplätzen zählen Verkäufer:innen auch dann als aktive Nutzer:in, wenn das angebotene Produkt oder die angebotene Dienstleistung im relevanten Zeitraum nicht erworben wird (Frage 5, Spiegelstrich 5). Es reicht also aus, wenn das Angebot über die Plattform verfügbar ist, und es kommt nicht darauf an, ob es zu einer Transaktion kommt (siehe auch Frage 7, Spiegelstriche 2, 3).
- Entsprechend zählen auch solche Nutzer:innen als „aktiv“, die sich Angebote auf einer Online-Plattform lediglich ansehen, ohne sie zu kaufen. Ausreichend ist z.B. die Suche nach einem Produkt, das Klicken auf ein Suchergebnis oder das Scrollen durch die Suchergebnisse (Frage 9, Spiegelstriche 1, 2).
- Auch solche Nutzer:innen werden als „aktiv“ gewertet, die auf einer Online-Plattform Werbung schalten lassen (Frage 8).
- Nutzer:innen, die versehentlich auf einen Link klicken oder die Online-Plattform „überflüssig besuchen“ (im Englischen: „superfluous visits“), müssen nicht gezählt werden (Frage 11). Wann jedoch ein „überflüssiger Besuch“ vorliegt, wird nicht näher erläutert.
- Anbieter:innen dürfen zwar sog. unauthentische Nutzer:innen von der Nutzung ausschließen (z.B. Bots, Scraper). Der DSA stellt jedoch keine Erlaubnis dar, Profile von Nutzer:innen zu erstellen oder sie zu tracken. Insgesamt darf der DSA „nicht als Rechtsgrundlage für die Verarbeitung personenbezogener Daten“ verstanden werden (Frage 12, Spiegelstriche 2, 3). Diese Aussage kann sich nur auf das Profiling und Tracking im Zusammenhang mit der Zählung von aktiven Nutzer:innen beziehen. In ihrer Absolutheit ist sie nämlich falsch – z.B. sind die KYC‑Pflichten aus Art. 30 DSA eine gesetzliche Pflicht, die als Rechtsgrundlage zur Verarbeitung personenbezogener Daten nach Art. 6 Abs. 1 lit. c DSGVO dienen kann.
Fragwürdige Regelung für „hybride Online-Plattformen“
Frage 13 befasst sich mit sog. „hybriden Online-Plattformen“. Darunter versteht die Europäische Kommission solche Plattformen, bei denen neben Dritten auch der Anbieter selbst Produkte oder Dienstleistungen anbietet. Diese (Unter-)Kategorie existiert im DSA bisher nicht.
Bei solchen Plattformen sollen alle Nutzer:innen gezählt werden, die auf Angebote zugreifen – also sowohl auf Angebote des Anbieters selbst als auch auf Drittangebote. Dies ist insofern verwunderlich, als es sich bei den eigenen Angeboten des Anbieters nicht um gehostete Inhalte handelt und diese somit eigentlich nicht in den Anwendungsbereich des DSA fallen. Die überaus fragwürdige Begründung der Kommission lautet wie folgt:
Wenn diese beiden Kategorien von Inhalten auf derselben Online-Schnittstelle dargestellt werden, wird jeder Nutzer [jede Nutzerin], der zum Zweck der Inanspruchnahme der eigenen Inhalte des Anbieters [der Anbieterin] auf diese Schnittstelle zugreift, zwangsläufig durch einen bloßen Besuch der Online-Schnittstelle Drittinhalten ausgesetzt sein.
Diese Aussage zeugt von unzureichender Marktkenntnis. Direktzugriffe auf bestimmte Angebote sind ohne Weiteres denkbar – z.B. über einen Direktzugriff nach einer Google-Suche, die Speicherung einer Unterseite als Favorit im Browser oder eine Merklisten- /Favoritenfunktion auf der Online-Plattform. Sofern ein:e Nutzer:in ausschließlich auf die eigenen Angebote des Anbieters zugreift, besteht kein Grund, diesen Zugriff für die Zwecke des DSA zu zählen. Insofern ist zu begrüßen, dass es sich bei der Leitlinie nur um eine unverbindliche Auslegungshilfe handelt.
Anbieter werden von der Kommission aufgefordert, ihre Berechnungsmethode mitzuteilen
Zudem werden in den Leitlinien einige „organisatorische“ Punkte erwähnt:
- Die Kommission wird „im Interesse der Transparenz und um die Überwachung der Einhaltung des DSA während der Anfangsphase seiner Anwendung zu erleichtern“, alle Anbieter auffordern, die von ihnen jeweils angewandte Methode zur Berechnung der aktiven Nutzer:innen an die Kommission zu übermitteln (Frage 3, Spiegelstrich 2).
- Anbieter müssen sicherstellen, dass die veröffentlichten Informationen zur Zahl ihrer aktiven Nutzer:innen über ihre Online-Schnittstelle „leicht verfügbar und zugänglich“ sind (Frage 4, Spiegelstrich 2).
Delegierter Rechtsakt von der Kommission muss folgen
Grundsätzlich ist es zu begrüßen, dass die Kommission sich mit der Frage nach der Zählmethode für aktive Nutzer:innen im DSA auseinandersetzt. Die sehr kurzfristig vor dem Stichtag des 17. Februars 2023 veröffentlichten Leitlinien zu diesem Thema sind jedoch kein „großer Wurf“. Sie enthalten weitestgehend am Wortlaut orientierte Klarstellungen und einige organisatorische Hinweise. Zudem enthält die Leitlinie Unschärfen (z.B. bezüglich der Eigenschaft als Rechtsgrundlage für die Verarbeitung personenbezogener Daten), und im Zusammenhang mit „hybriden Plattformen“ werden sogar neue Fragen aufgeworfen.
Die Kommission muss sich also weiterhin intensiv mit Auslegungsfragen zur Zählung aktiver Nutzer:innen im DSA beschäftigen. Die an sie kommunizierten Zählmethoden der Online-Plattformen (und Online-Suchmaschinen) müssen ausgewertet und auf dieser Grundlage muss schließlich ein delegierter Rechtsakt erlassen werden. Bis dahin sollte die Kommission bei der Sanktionierung von Anbietern wegen (vermeintlich) falscher Berechnungsmethoden äußerst rücksichtsvoll vorgehen.