13. Januar 2021
Anrede Geschlecht Identität
TMC – Technology, Media & Communications

LG Frankfurt: Keine Anrede entgegen der geschlechtlichen Identität

Die Verpflichtung, zwischen den Anreden „Herr“ oder „Frau“ auszuwählen, diskriminiert Menschen mit nicht-binärer geschlechtlicher Identität.

Das Landgericht Frankfurt a. M. hatte über die Unterlassungs- und Schmerzensgeldklage einer Person mit nicht-binärer Geschlechtsidentität gegen das Vertriebsunternehmen eines deutschlandweit tätigen Eisenbahnkonzerns zu entscheiden (LG Frankfurt a.M., Urteil v. 3. Dezember 2020 – 2-13 O 131/20). Die klagende Person wird in ihrem Alltag mit geschlechtsneutralen Pronomen und mit einem weder einseitig männlich noch weiblich konnotierten Vornamen angesprochen. Eine Änderung im Personenstandsregister veranlasste die klagende Person aber nicht. 

Onlinebuchung konnte nicht ohne Auswahl zwischen „Herr“ oder „Frau“ abgeschlossen werden

Die klagende Person wollte im Onlineshop der beklagten Person eine Fahrkarte buchen. Dabei konnte der Buchungsvorgang nicht abgeschlossen werden, ohne zwischen der Anrede „Herr“ und „Frau“ auszuwählen. Eine geschlechterneutrale Anrede stand nicht zur Verfügung. Gleiches galt für die Registrierung als Kunde*. Die einmal gewählte Anrede wurde für die künftige Kommunikation zwischen der beklagten Person und ihren Kunden, wie beispielsweise bei der Kaufabwicklung oder für Werbeaktionen, verwendet.

Die klagende Person verlangte von der beklagten Person, es zu unterlassen sie dadurch zu diskriminieren, dass sie bei der Nutzung von Angeboten der beklagten Person zwingend eine Auswahl zwischen der Anrede als Herr oder Frau zu treffen habe und keine geschlechtsneutrale Anrede auswählen könne. Zudem solle die beklagte Person es unterlassen, die klagende Person mit „Herr“ oder „Frau“ anzureden. 

Die beklagte Person wandte gegen die Inanspruchnahme ein, dass auch andere Unternehmen und die Öffentliche Verwaltung nur die Auswahl zwischen der Anrede als „Herr“ oder „Frau“ anbieten würden. Die geschlechtsneutrale Anrede „Guten Tag“ werde demgegenüber als distanzlos empfunden und eine Anrede für nicht-binäre Personen habe sich in der Gesellschaft bislang nicht etabliert. 

Kein Anspruch aus dem AGG

Das Landgericht Frankfurt a. M. verneinte einen Anspruch aus dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG), da keine Diskriminierung bei der Begründung, Durchführung oder Beendigung eines Vertrags vorliege. Denn die beklagte Person schließe keine bestimmte Personengruppe von ihrem Angebot aus und biete ihre Dienstleistungen auch nicht für bestimmte Personengruppen nur zu ungünstigeren Konditionen an. 

Der Vertrag habe auch nicht nur für eine bestimmte Personengruppe einen ungünstigen Inhalt. Mangels Bezugs zur vertraglichen Leistung fehle es an einer unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierung im Sinne des AGG. Auch eine bloße Belästigung durch das Schaffen eines „feindlichen Umfelds“ liege nicht vor. Denn die Anrede werde nur zwischen der klagenden und der beklagten Person verwendet und habe keine darüberhinausgehende Außenwirkung. 

Landgericht sieht Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts bei fehlender Auswahlmöglichkeit einer nicht-binär geschlechtlichen Anrede 

Das Landgericht Frankfurt a. M. sprach der klagenden Person aber einen Unterlassungsanspruch analog §§ 823 Abs. 1, 1004 Abs. 1 Satz 2 BGB wegen der Verletzung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts zu. Denn dieses schütze auch die geschlechtliche Identität als konstituierenden Aspekt der eigenen Persönlichkeit (vgl. BVerfG, Beschluss v. 10. Oktober 2017 – 1 BvR 2019/16). Die Anrede mit „Herr“ oder „Frau“ sei dem Geschlecht männlich bzw. weiblich zugeordnet. 

Indem die beklagte Partei die klagende Partei zwingt, eine dieser beiden eindeutig geschlechtsspezifischen Anreden zu wählen, um ihre Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen, zwingt sie die klagende Person sich einem dieser Geschlechter zuzuordnen, was ihrer Identität nicht entspricht und worauf die beklagte Partei auch keinen Anspruch hat, da für die von ihr erbrachten Dienstleistungen das Geschlecht des Vertragspartners völlig irrelevant ist und von ihr, wie sie selbst einräumt, lediglich für die Wahl der passenden – von ihr gewünscht geschlechtsspezifischen – Anrede verlangt wird.

Der geschlechtlichen Identität komme dabei herausragende Bedeutung zu. Dies gelte gleichermaßen auch für die geschlechtliche Identität jener Personen, die weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuzuordnen sind (vgl. BVerfG, Beschluss v. 10. Oktober 2017 – 1 BvR 2019/16). 

Die individuelle Entscheidung eines Menschen über seine Geschlechtsidentität ist zu respektieren. […] Da sich die Geschlechtsidentität eben auch über die Anrede ausdrückt, bedingt ihr Schutz auch die Achtung der Geschlechtsidentität bei der Anrede.

(Fehlende) Anpassung im Personenstandsregister ohne Belang für Rechtsschutzbedürfnis der eigenen Geschlechtsidentität

Genauso, wie die beklagte Person fremdes Eigentum zu respektieren habe, habe sie die geschlechtliche Identität der klagenden Person zu respektieren. Die Anrede entgegen der eigenen geschlechtlichen Identität gefährde die selbstbestimmte Entwicklung und die Wahrung der Persönlichkeit. Dies gelte auch dann, wenn die betreffende Person keine Anpassung im Personenstandsregister vorgenommen habe. Denn aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ergebe sich, dass es insofern nur auf das Selbstverständnis der Person ankomme. 

Entscheidend sei das verfestigte Selbstverständnis der Person von ihrer eigenen Geschlechtsidentität, auch wenn sie biologisch ein eindeutiges Geschlecht aufweist und hieran auch nichts zu ändern gedenkt. 

Daraus, dass auch andere Unternehmen oder der Staat nur die Anrede „Herr“ oder „Frau“ verwenden, könne die beklagte Person nichts für sich ableiten. Die Beseitigung der fehlerhaften Anrede sei ihr auch zumutbar. Dabei sei ein gewisser Mehraufwand zu Gunsten des Schutzes der Geschlechtsidentität hinzunehmen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. Oktober 2017 – 1 BvR 2019/16). Weiterhin sei unerheblich, dass es im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung nur wenige Personen nicht-binärer Geschlechtsidentität gebe. Zunächst habe die beklagte Person alle ihr rechtlich, wirtschaftlich und tatsächlich gegebenen Möglichkeiten auszuschöpfen, um die Beeinträchtigung der klagenden Person auszuschließen. Dass die beklagte Person bereits alle ihr in diesem Einzelfall zustehenden Möglichkeiten ausgenutzt habe, sei nicht ersichtlich. Zwar gebe es noch keine allgemeingültige Anrede für Personen nicht-binären Geschlechts. Doch sei eine persönliche Anrede durch die beklagte Person auch nicht erforderlich. Denn im Gegensatz zur Anrede einer Person mit dem falschen Geschlecht gefährde das Weglassen einer geschlechtsspezifischen Anrede die Wahrung der Persönlichkeit nicht. Weiterhin hätte die beklagte Person in diesem Einzelfall z.B. die Anrede „Guten Tag“ oder eine geschlechtsunspezifische Anrede verwenden können.

Zudem können an den analogen Verkaufsstellen der beklagten Person Fahrkarten auch ohne Geschlechtsangabe gekauft werden. Warum dies im Onlinehandel anders sein solle, sei nicht ersichtlich. Insbesondere könne eine Identitätskontrolle ggf. mittels Personalausweises oder einer Kreditkartennummer erfolgen. 

Kein Schmerzensgeld für falsche Anrede

Allerdings habe die klagende Person keinen Anspruch auf Zahlung von Schmerzensgeld. Denn ein solches komme nach der Rechtsprechung des BGH nur dann in Betracht, wenn es sich um eine schwerwiegende Persönlichkeitsrechtsverletzung handelt und die Beeinträchtigung nicht in anderer Weise befriedigend ausgeglichen werden kann.

Ob eine so schwerwiegende Verletzung des Persönlichkeitsrechts vorliegt, dass die Zahlung einer Geldentschädigung erforderlich ist, könne nur auf Grund der gesamten Umstände des Einzelfalls beurteilt werden (BGH, Urteil v. 17. Dezember 2013 - VI ZR 211/12 Rn. 38 m. w. N.). Hier liege kein derart schwerwiegender Eingriff vor. Zwar sei die gegenüber der klagenden Person verwendete Anrede mit „Herr“ herabwürdigend und psychisch verletzend für die klagende Person. Andererseits sei nur ein einzelnes Schreiben verfahrensgegenständlich und die beklagte Person habe auch nicht böswillig gehandelt. Die falsche Anrede sei vielmehr als Reflex des Massengeschäfts erfolgt. 

Auswirkungen auf die Verwendung von Formularen und Vordrucken im Geschäftsverkehr: Angaben zum Geschlecht bzw. zur Anrede nur auf freiwilliger Basis abfragen

Im Jahr 2018 hatte der BGH bereits über die Verwendung des generischen Maskulinums für Vordrucke und Formulare zu befinden gehabt. Diese Praxis hatte der BGH zum damaligen Zeitpunkt für zulässig gehalten, zugleich aber klargestellt, dass niemand entgegen dem eigenen Geschlechtsverständnis angesprochen oder angeschrieben werden darf (BGH, Urteil v. 13. März 2018 – VI ZR 143/17 Rn. 45). Im vorliegenden Fall ging es um die konkrete, individuelle Ansprache einer Einzelperson und nicht nur um die Verwendung eines formularmäßigen Vordrucks. Insofern befindet sich die Entscheidung auf einer Linie mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung.

Wo eine Angabe des Geschlechts nicht zwingend für die Vertragsdurchführung notwendig ist, sollten Unternehmen Angaben zum Geschlecht bzw. zur Anrede auf freiwilliger Basis abfragen. Weiterhin können geschlechtsneutrale Anreden wie „Guten Tag“ oder „Hallo“ oder auch die Verwendung einer individuell von den Kunden* bestimmten Anrede ein probates Mittel darstellen, um inklusiv im geschäftlichen Verkehr zu kommunizieren. 

*Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Lediglich der leichteren Lesbarkeit halber wird künftig bei allen Bezeichnungen nur noch die grammatikalisch männliche Form verwendet.

Tags: Anrede Formular Geschlecht Identität nicht-binär Online
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Annina Barbara Männig