10. März 2022
Divers Bestellformular Diskriminierung AGG
TMC – Technology, Media & Communications

Nonbinär im Geschäftsverkehr

Eine Person mit nichtbinärer Geschlechtsidentität wird diskriminiert, wenn sie im Online-Shop nur zwischen den Anreden „Frau“ oder „Herr“ auswählen kann.

Mit dem Urteil des Oberlandesgerichts Karlsruhe Ende vergangenen Jahres hat erneut ein Gericht die Relevanz geschlechtersensibler Sprache und inklusiver Bestellformulare im Geschäftsverkehr verdeutlicht (OLG Karlsruhe, Urteil v. 14. Dezember 2021 – 24 U 19/21). 

Das Gericht bejahte einen Verstoß gegen das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) sowie eine Verletzung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts (APR), wenn Personen mit nichtbinärer Geschlechtsidentität in Bestellformularen beim Online-Shopping nur zwischen den Anreden „Frau“ oder „Herr“ auswählen können.

Verstoß gegen das AGG und das APR

Die klagende Person hatte in dem Online-Shop eines mittelständischen Bekleidungsunternehmens zwei Laufhosen erworben und sich im Bestellformular zwischen der Anrede „Herr“ oder „Frau“ entscheiden müssen und dabei die Anrede „Herr“ gewählt. Kurze Zeit nach dieser Bestellung gelang es der Person, beim Standesamt ihre Personenstandsdaten zu ändern sowie im Pass in der Kategorie „Geschlecht“ die Auswahl „keine Angabe“ zu treffen. Als die Person einige Zeit darauf wieder in dem Online-Shop bestellte, war sie mangels anderer Auswahlvarianten erneut gezwungen, die Anrede „Herr“ auszuwählen. 

Daraufhin wandte sich die klagende Person an den Online-Shop und verlangte Schmerzensgeld i.H.v. EUR 2.500 und die Unterlassung weiterer Diskriminierungen. Der Online-Shop lehnte die Ansprüche ab, änderte aber nach der Beschwerde das Adressformular: Zunächst führte der Shop die Option „Divers“ ein und änderte die Bezeichnung der Auswahlmöglichkeit später zu „Divers/keine Anrede“.

Die Person mit nichtbinärer Geschlechtsidentität erhob nichtsdestotrotz Klage beim Landgericht Mannheim, das den Entschädigungs- und Unterlassungsanspruch der klagenden Person verneinte und die Klage abwies (LG Mannheim, Urteil v. 7. Mai 2021 – 9 O 188/20). Die Berufungsentscheidung des Oberlandesgerichts Karlsruhe bestätigte dieses Urteil im Ergebnis, betonte jedoch, dass eine Diskriminierung sowie Persönlichkeitsrechtsverletzung im Rahmen des Bestellvorgangs vorgelegen haben.

Diskriminierung im Rahmen des Bestellvorgangs 

Im Einzelnen führte das Oberlandesgericht Karlsruhe aus, dass durch die zwingende Auswahl der binären Anrede zum einen eine Benachteiligung nach §§ 3, 19 AGG vorgelegen habe. Diese sei hier bei der Begründung eines zivilrechtlichen Schuldverhältnisses im Rahmen eines Massengeschäfts gegeben gewesen, weil das Merkmal „Begründung“ weit auszulegen sei und daher auch öffentliche Angebote erfasse. Das Oberlandesgericht Karlsruhe stellte hierzu fest:

Das Diskriminierungsverbot […] verbietet neben diskriminierenden öffentlichen Angeboten zum Beispiel auch, geschäftliche Kontakte mit Merkmalträgern von vornherein zu verhindern […].

Der Zwang, sich im Bestellvorgang zwischen der Anrede „Frau“ und „Mann“ entscheiden zu müssen, führt nach Auffassung des Gerichts zu einer unmittelbaren Benachteiligung i.S.d. § 3 Abs. 1 AGG. Anders als Menschen mit binärer Geschlechtsidentität könne die klagende Person den Kaufvorgang nicht abschließen, ohne im dafür vorgesehenen Feld eine falsche Angabe zu tätigen. Nämlich eine, die nicht der eigenen geschlechtlichen Identität entspreche.

Bereits in dieser objektiven Ungleichbehandlung liegt eine „weniger günstige Behandlung“, für die allein entscheidend ist, ob die Person irgendwelche Nachteile erleidet oder erlitten hat, gleich ob sie materieller oder immaterieller Natur sind […]. Zugleich war die in der Maske des Kundenportals vorgegebene Option „Frau/Herr“ geeignet, Personen mit nicht-binärer Geschlechtsidentität vom Online-Vertragsschluss abzuhalten […].

Unmittelbare Benachteiligung aufgrund „weniger günstiger Behandlung“ 

Diese „weniger günstige Behandlung“ stellt nach Ansicht des Oberlandesgerichts Karlsruhe nicht nur einen Verstoß gegen das AGG dar, sondern begründet auch eine Verletzung des APR. Die geschlechtliche Identität sei dabei als „Schlüsselposition“ im Selbstverständnis einer jeden Person vom Schutzbereich des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts umfasst.

Im Beschluss des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2017 (BVerfG, Beschluss v. 10. Oktober 2017 – 1 BvR 2019/16) führte das Gericht aus, dass zum Schutzbereich auch gehöre, sich weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuzuordnen und nicht entsprechend dieser Zuordnung angesprochen und angeschrieben zu werden.

Nach allgemeinem Verständnis wird die Anrede „Herr“ einer Person männlichen Geschlechts und die Anrede „Frau“ einer Person weiblichen Geschlechts zugeschrieben. Indem die Beklagte der klagenden Person im Rahmen des Bestellvorgangs im Webshop abverlangte, hierzu eine dieser beiden Anredeformen zu wählen, um den Kaufvorgang abschließen zu können, hat sie die klagende Person gezwungen, eine geschlechtsspezifische Anredeform zu wählen, die auf sie nicht zutrifft.

Schutz davor, mit dem falschen Geschlecht angesprochen oder angeschrieben zu werden

Trotz dieser beiden Verstöße kommt das Oberlandesgericht Karlsruhe zu dem Ergebnis, dass weder ein Unterlassungsanspruch noch ein Entschädigungsanspruch gegeben sei.

Für den Unterlassungsanspruch fehle es an der notwendigen Wiederholungsgefahr. Indem der Online-Shop die geschlechtsneutrale Anrede direkt nach der Beschwerde der klagenden Person in das Bestellformular aufgenommen habe, sei deutlich geworden, dass eine Geschlechterdiskriminierung nicht beabsichtigt gewesen sei. 

Wenn der Kunde eine geschlechtsbezogene Anrede nicht wünscht, hat er durch das Anklicken des Buttons „Divers/keine Anrede“ die Möglichkeit, eine geschlechtsneutrale Anredeform zu wählen. Da die klagende Person bei Auswahl dieses Feldes nur noch mit der Höflichkeitsform „Guten Tag Vorname Nachname“ angesprochen wird, wird ihr nicht mehr zugemutet, sich mit der Wahl einer geschlechtsspezifischen Anrede einer Identität zuzuordnen, die der eigenen Identität nicht entspricht.

Entgegen der Auffassung der klagenden Person bestehe auch kein Anspruch, zwischen den Merkmalen „divers“ und „keine Angabe“ gesondert auswählen zu können. Zwar ist dies nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts im Personenstandsrecht so implementiert worden, jedoch ergebe sich daraus kein Anspruch auf die Anerkennung beliebiger Identitätsmerkmale.

Auch durch das AGG wird keine generelle Verpflichtung begründet, […] der betroffenen Person die Möglichkeit zu geben, eine aus ihrer Sicht richtige – positive wie negative – Geschlechtszuordnung vornehmen zu können.

Kein Entschädigungsanspruch wegen mangelnder Intensität der Benachteiligung

Der klagenden Person stehe zudem kein Entschädigungsanspruch zu, weil nicht jede Benachteiligung den Anspruch auf Ersatz des immateriellen Schadens auslöse. Vielmehr sei eine schwerwiegende Verletzung des Benachteiligungsverbotes nötig, die eine gewisse Intensität der Herab- und Zurücksetzung erfordere.

Für die geringfügige Verletzung des Benachteiligungsverbots spreche, dass sich die Benachteiligung nur im privaten Bereich und nicht in der Öffentlichkeit ereignet habe. Zudem sei der Grad des Verschuldens der Beklagten gering, da es dem Online-Shop nicht darauf angekommen sei, den Kund*innen beim Bestellvorgang gerade eine Angabe zu ihrer geschlechtlichen Identität abzuverlangen. Der Online-Shop habe vielmehr eine korrekte Anrede der bestellenden Person sicherstellen wollen. 

Des Weiteren hätte für die klagende Person hier i.S.d. Schadensabwendung und Schadensminderung die Obliegenheit bestanden, den Online-Shop auf die erfolgte Änderung im Personenstandsregister im Nachgang zur ersten und vor der zweiten Bestellung der klagenden Person hinzuweisen.

Rechtsprechungslinie verdeutlicht Notwendigkeit einer gendersensibleren Sprache im Geschäftsverkehr

Das Urteil des Oberlandesgerichts Karlsruhe lässt sich in eine Rechtsprechungslinie einordnen, die immer häufiger die Bedeutung einer gendersensiblen Sprache, auch im Geschäftsverkehr, betont: Angefangen hat dies mit dem bereits erwähnten höchstrichterlichen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2017 zur sog. Dritten Option sowie mit dem Urteil des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 2018. Herausgestellt wurde, dass niemand entgegen dem eigenen Geschlechtsverständnis angesprochen oder angeschrieben werden dürfe (BGH, Urteil v. 13. März 2018 – VI ZR 143/17 Rn. 45). Erwähnenswert in dieser Rechtsprechungslinie ist auch das Urteil des Landgerichts Frankfurt a. M. (LG Frankfurt a. M., Urteil v. 3. Dezember 2020 – 2-13 O 131/20), das in einem ganz ähnlichen Fall wie das Oberlandesgericht Karlsruhe entschieden hatte, Menschen mit nichtbinärer geschlechtlicher Identität würden diskriminiert, wenn sie verpflichtend zwischen den Anreden „Herr“ oder „Frau“ auswählen müssten.

Wegweisend ist das Urteil des Oberlandesgerichts Karlsruhe – ebenso wie das parallele Urteil des Landgerichts Frankfurt a. M. – schon in sprachlicher Hinsicht, da das Gericht ganz im Sinne seiner eigenen Rechtsprechung eine genderneutrale Bezeichnung vornimmt und statt „Klägerin“ bzw. „Kläger“ stets von der „klagenden Person“ spricht. 

Vielerorts sind Menschen mit den Belangen von Personen mit nichtbinärer Geschlechtsidentität noch nicht regelmäßig konfrontiert. Dies zeugt aber nicht gleichermaßen von einem aktiven Diskriminierungswillen. Das wurde gerade auch in dem vorliegenden Fall deutlich, bei dem der Online-Shop direkt auf die Beschwerde der betreffenden Person reagiert und gehandelt hat. Allerdings müsste die Entscheidung zum Entschädigungsanspruch folgerichtig anders ausfallen, sobald Online-Shops sich gegen die Änderung des Bestellformulars verwehren und keine Bemühungen zur Vermeidung fortgesetzter Benachteiligungen und Diskriminierungen entfalten.

Fraglich erscheint auch, ob in der fehlenden Möglichkeit zur Auswahl zwischen der Angabe „Divers“ und „Keine Angabe“, wie sie im Personenstandsregister gegeben, aber im Bestellformular der Beklagten nicht möglich ist, eine eigenständige Diskriminierung liegt. Die Auswahl führt zwar in beiden Fällen zu einer geschlechtsneutralen Anrede der bestellenden Person, aber die fehlende Differenzierung ermöglicht keine bzw. nur eine ungenaue Geschlechtsangabe im Bestellvorgang. 

Die Argumentation des Oberlandesgerichts Karlsruhe, dass darin keine Diskriminierung liege, weil es keinen Anspruch auf Anerkennung „beliebiger Identitätsmerkmale“ gebe, überzeugt nicht gänzlich. Soweit das Personenstandsregister eine Differenzierung erlaubt, müssten Personen mit nichtbinärer Geschlechtsidentität auch im Geschäftsverkehr auftreten dürfen und sich nicht der Bequemlichkeit halber anderen Geschlechtsidentitäten zuordnen müssen oder sich bei vorhandener Auswahlmöglichkeit nicht klar positionieren können. 

Auch gibt es Stimmen (vgl. Mörsdorf, in: beckonlineGK, Stand: 1. September 2021, § 21 AGG, Rn. 61 f.; Overkamp, in: jurisPK-BGB, 9. Auflage, § 21 AGG Rn. 22; Deinert, in: Däubler/Beck, AGG, 5. Aufl. 2022, § 21 Rn. 62), die für eine effektive Diskriminierungsprävention die Sanktionierung jeglicher tatbestandsmäßigen Diskriminierung unabhängig von der Intensität der Herab- und Zurücksetzung fordern. Dieser Auffassung hat sich das Oberlandesgericht Karlsruhe ausdrücklich nicht angeschlossen. Für die vom Oberlandesgericht Karlsruhe vertretene Rechtsauffassung spricht zwar, dass Geldentschädigungen aufgrund immaterieller Schäden im deutschen Recht eine Ausnahme darstellen, bei der besondere Schwellen überschritten sein müssen; jedoch erscheint die Durchsetzung geschlechtergerechter und inklusiver Kommunikation im Geschäftsverkehr, ebenso wie die Durchsetzung von Diskriminierungsverboten unter anderen Aspekten, geschwächt. Unternehmen und Geschäftsleute können im Ergebnis Beschwerden abwarten, um dann ihre Prozesse umzustellen, und erfahren keine Sanktionierung dafür, nicht aktiv zur Nichtdiskriminierung beigetragen zu haben. Die weitere Rechtsprechung und die weiteren Entwicklungen dazu bleiben daher abzuwarten.

Maßstäbe für Stellenausschreibungen sind im Geschäftsverkehr angekommen

Es zeigt sich vor dem Hintergrund dieser Rechtsprechungslinie, dass die Maßstäbe für Stellenausschreibungen allmählich auch im allgemeinen Geschäftsverkehr angekommen sind. So gilt für Arbeitgeber*innen bei Stellenausschreibungen schon längst, dass Personen mit nichtbinärer Geschlechtsidentität berücksichtigt und angesprochen werden müssen. Anderenfalls wird eine Benachteiligung nach § 22 AGG vermutet. 

Die Maßstäbe des Oberlandesgerichts Karlsruhe sind nicht nur für klassische Online-Shops relevant, sondern auf Formulare und Korrespondenz im gesamten Geschäftsverkehr gleichermaßen übertragbar. Um einerseits zu einer inklusiven Kommunikation im Geschäftsverkehr beizutragen und alle (potenziellen) Kund*innen und Geschäftspartner*innen gleichermaßen anzusprechen und zu überzeugen und andererseits Inanspruchnahmen wegen diskriminierenden und persönlichkeitsrechtsverletzenden Handelns zu vermeiden, sind Unternehmen und Geschäftsleute gut beraten, von vornherein weitere Anredeoptionen in Bestellformulare zu integrieren oder auf die Angabe der Anrede gänzlich zu verzichten. Stattdessen sind auch neutrale Anreden wie „Guten Tag“ oder „Hallo“ eine gute und mittlerweile übliche Option der Ansprache im Geschäftsverkehr. 

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Annina Barbara Männig