Das OLG Düsseldorf hat seine vielfach kritisierte Rechtsprechung zur Vorabinformationspflicht bei Unterschwellenvergaben aufgegeben.
Das Recht der öffentlichen Auftragsvergabe (Vergaberecht) ist – je nach Höhe des zu vergebenen Auftrags – in das Vergaberecht im Ober- und im Unterschwellenbereich geteilt. Erreicht oder überschreitet der geschätzte Nettoauftragswert den für die jeweilige Auftragsart geltenden EU-Schwellenwert, ist das Oberschwellenvergaberecht gem. § 97 ff. GWB (auch Kartell-Vergaberecht genannt) anwendbar. Bei einem Auftragswert unterhalb des einschlägigen Schwellenwerts gilt das aus dem Haushaltsrecht stammende Unterschwellenvergaberecht, das in Deutschland nicht bundeseinheitlich geregelt ist, sondern nach Bundesland und Person des Auftraggebers variiert.
Einen wesentlichen Unterschied zwischen dem Oberschwellenvergaberecht und Unterschwellenvergaberecht stellt der Umstand dar, dass es im Oberschwellenbereich einen Primärrechtsschutz gegen Entscheidungen des Auftraggebers, insbesondere gegen eine beabsichtigte Zuschlagserteilung gibt. Zur Sicherung dieses Primärrechtsschutzes sieht § 134 GWB eine mindestens zehntägige Vorabinformations- und Wartefrist vor, die Auftraggeber einhalten müssen, bevor sie den Zuschlag zugunsten des Bestbieters erteilen dürfen.
Eine solche Pflicht gibt es im Unterschwellenbereich nicht, sofern im einschlägigen Landesrecht keine Sonderregelung enthalten ist (wie z.B. in Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen).
Überraschende Entscheidung aus dem Jahr 2017: Information über geplante Zuschlagserteilung auch im Unterschwellenbereich
Das für Vergaben des Bundes und von Auftraggebern aus Nordrhein-Westfahlen zuständige OLG Düsseldorf hatte mit seiner Entscheidung vom 13. Dezember 2017 (Az.: 27 U 25/17) gleichwohl entschieden, dass öffentliche Auftraggeber auch im Unterschwellenbereich verpflichtet seien, unterlegene Bieter vorab über die geplante Zuschlagserteilung zugunsten des Bestbieters zu informieren und eine angemessene Frist zu warten, bis sie den Zuschlag erteilen (vgl. Update Real Estate & Public 09/2018).
Ein bereits abgeschlossener Vertrag sollte nach dieser Entscheidung gem. § 134 BGB wegen des Verstoßes gegen ein gesetzliches Verbot nichtig sein, wenn der Auftraggeber gegen die Verpflichtung zur Vorabinformation verstoßen hat. Eine entsprechende Verpflichtung hatte das OLG Düsseldorf aus dem Unionsrecht und nationaler verwaltungsrechtlicher Judikate abgeleitet.
Aufgabe der Rechtsprechung von 2017: Eine Vorabinformations- und Wartepflicht bei Unterschwellenvergaben existiert auf Bundesebene nicht
In neuer personeller Besetzung hat der 27. Zivilsenat des Gerichts, dessen Besetzung derzeit identisch mit der Besetzung des Vergabesenats ist, nunmehr mit Urteil vom 21. Juni 2023 (Az.: 27 U 4/22) seine Rechtsprechung aus dem Jahr 2017 ausdrücklich aufgegeben und klargestellt, dass eine Vorabinformations- und Wartepflicht bei Unterschwellenvergaben – von den genannten landesrechtlichen Sonderregelungen abgesehen – nicht existiert und insbesondere § 134 GWB im Unterschwellenbereich weder unmittelbar noch analog anwendbar ist.
Zur Begründung hat das OLG Düsseldorf darauf hingewiesen, dass eine entsprechende Anwendung des § 134 GWB im Unterschwellenbereich nur dann in Betracht käme, wenn eine planwidrige Regelungslücke bestünde, die auf ein unbeabsichtigtes Abweichen des Gesetzgebers von seinem dem konkreten Gesetzgebungsverfahrens zugrundeliegenden Reglungsplan schließen lässt. Eine solche Regelungslücke liege jedoch nicht vor. In § 46 Abs. 1 Satz 1 der Unterschwellenvergabeordnung (UVgO) sei ausdrücklich eine Unterrichtungspflicht nach dem Abschluss einer Rahmenvereinbarung oder der erfolgten Zuschlagserteilung vorgesehen. Von einer § 134 GWB entsprechenden Vorabinformations- und Wartepflicht sei bei der Ausarbeitung der UVgO bewusst abgesehen worden.
Keine Vorabinformationspflicht aus Verfassungsrecht oder Unionsrecht
Auch aus dem verfassungsrechtlichen Justizgewährungsanspruch des Art. 19 Abs. 4 GG ergebe sich keine Vorabinformations- und Wartepflicht. Der Gesetzgeber sei verfassungsrechtlich nicht verpflichtet, eine auch faktisch realisierbare Möglichkeit eines Primärrechtsschutzes im Vergaberecht zu schaffen, wie bereits das Bundesverfassungsgericht (Beschluss v. 13. Juni 2006 – 1 BvR 1160/03) entschieden habe.
Das Unionsrecht nehme auf Unterschwellenvergaben nur Einfluss, wenn der zu vergebende Auftrag Binnenmarktrelevanz aufweist. Dies sei zum Beispiel bei einem Rahmenvertrag über juristische Beratungsleistungen im deutschen Recht nicht der Fall. Ungeachtet dessen sehe auch das Unionsrecht auf dem Gebiet der Vergabe öffentlicher Aufträge keine allgemeine Regelung vor, nach der die Rechtswidrigkeit einer Handlung in einem bestimmten Stadium des Verfahrens zur Rechtswidrigkeit aller späteren Handlungen in diesem Verfahren führen und ihre Aufhebung rechtfertigen würde. Auf das Vorliegen von Binnenmarktrelevanz kommt es daher im Ergebnis nicht an.
Wertungswiderspruch zum Oberschwellenbereich
Hinsichtlich § 134 GWB hat das OLG Düsseldorf zudem überzeugend darauf hingewiesen, dass die Annahme einer Nichtigkeit eines entgegen einer vermeintlichen Vorabinformations- und Wartepflicht beschlossenen Vertrags im Unterschwellenbereich eine strengere Rechtsfolge bedeuten wurde als ein entsprechender Sachverhalt im Oberschwellenbereich. Im Oberschwellenbereich könne die Verletzung der Vorabinformations- und Wartepflicht nach § 134 GWB nur unter den Voraussetzungen des § 135 GWB im Rahmen eines vergaberechtlichen Nachprüfungsverfahrens zur Unwirksamkeit des Vertrags führen. Es würde einen Wertungswiderspruch darstellen, wenn im Unterschwellenbereich entsprechende Rechtsgeschäfte allgemein und ohne weitere Voraussetzungen nach § 134 BGB nichtig wären.
Rechtssicherheit für Auftraggeber und Unternehmen
Die Entscheidung des OLG Düsseldorf ist zu begrüßen, da sie Rechtssicherheit für Auftraggeber und Unternehmen im Unterschwellenbereich schafft, die angesichts des Flickenteppichs unterschiedlicher vergaberechtlicher Regelungen ohnehin schon vor Herausforderungen gestellt werden. Wenn ein Primärrechtsschutz im Unterschwellenbereich gelten soll, sollte dies klar in einer gesetzlichen Regelung festgelegt und nicht von der Rechtsprechung „erfunden“ werden.