15. Februar 2023
Europäischer Betriebsrat einstweilige Verfügung
Arbeitsrecht

Europäische Betriebsräte: Umfassende Reform und einstweilige Verfügungen geplant!

Das Europaparlament fordert weitreichende Änderungen der EBR-Richtlinie – nun ist die Kommission an der Reihe.

Am 2. Februar 2023 hat die endgültige Abstimmung im Plenum des Europäischen Parlaments (EP) über den Bericht zur Revision der Richtlinie 2009/38/EG (EBR-Richtlinie) stattgefunden. Der Beschluss, der weitestgehend auf dem sog. Radtke-Bericht (MEP) beruht, wurde mit einer großen Mehrheit angenommen und fordert die Europäische Kommission auf, bis zum 31. Januar 2024 das Gesetzgebungsverfahren für eine neue EBR-Richtlinie einzuleiten. Wir haben uns die zentralen Forderungen angeschaut und deren potenzielle Auswirkungen für die Praxis bewertet:

Künftig drohen einstweilige Verfügungen durch Europäische Betriebsräte

Wenn sich die Vorstellungen des EP durchsetzen, sind auch in Deutschland zukünftig einstweilige Verfügungen des Europäischen Betriebsrats (EBR) möglich. 

Mangels entsprechender Rechtsgrundlage stand dem EBR bisher nach deutschem Recht nach einhelliger Auffassung kein Unterlassungsanspruch zu, auch wenn seine Unterrichtungs- und Anhörungsrechte verletzt wurden. Dementsprechend waren bislang auch keine einstweiligen Verfügungen denkbar (vgl. LAG Köln, Beschluss v. 8. September 2011 – 13 Ta 267/11).

Nun soll nach den Vorstellungen der EU-Parlamentarier* der „Rechtsweg für den EBR“ sichergestellt werden. Dies soll auch Gerichtsverfahren beinhalten, um einen vorübergehenden Stopp von Entscheidungen der zentralen Leitung durch einstweilige Verfügung zu beantragen. Eine so weitgehende Rechtsschutzmöglichkeit sogar für die bloße Anhörung eines Gremiums vorzusehen, erscheint sachlich nicht gerechtfertigt und mit dem deutschen Betriebsverfassungsrecht unvereinbar. Auch in vielen anderen EU-Mitgliedstaaten sind einstweilige Verfügungen (insb. des EBR) bislang nicht vorgesehen.

Wozu einstweilige Verfügungen des EBR führen können, hat unser Nachbarland Frankreich gezeigt: Dort können Betriebsräte und/oder Gewerkschaften – wie in anderen romanisch geprägten Jurisdiktionen – einstweilige Verfügungen erwirken, damit die Unternehmensleitung die Umsetzung von Entscheidungen stoppt (z.B. bei unzureichenden Informationen und/oder deren Fehlen, bei Anträgen von Sachverständigen usw.). Große mediale Aufmerksamkeit erlangte seinerzeit insb. die Fusion von Gaz de France und Suez in den Jahren 2006–2008, an der auch der EBR von Gaz de France beteiligt war. Die Fusion wurde bis zur vollständigen Anhörung des EBR ausgesetzt (Berufungsgericht Paris, Urteil v. 21. November 2006 – RG No 06/59279).

Interessanterweise wurde in der Plenarsitzung des Parlaments am 19. Januar 2023 mehr oder weniger erklärt, dass das Recht des EBR, gerichtliche Unterlassungsklagen zu erheben, ein „Hintertürchen“ für die Einführung der Mitbestimmung auf europäischer Ebene sei, da Unterlassungsklagen die Unternehmen in die Lage versetzen würden, mit dem EBR über Vereinbarungen verhandeln zu müssen, bevor bestimmte Maßnahmen umgesetzt werden könnten. 

Gerichtskosten sind durch Unternehmen zu tragen

In diesem Zusammenhang ist erwähnenswert, dass die Sicherstellung des „Rechtswegs für den EBR“ zudem entsprechende Kostentragungspflichten für das Unternehmen umfassen soll.

In vielen EU-Mitgliedstaaten stellt auch das eine Neuerung dar, nicht jedoch im deutschen Recht: Nach § 40 Abs. 1 BetrVG bzw. § 39 Abs. 1 EBRG haben Unternehmen im erforderlichen Umfang die Kosten für die Rechtsdurchsetzung des Betriebsrats bzw. EBR zu übernehmen. In jedem Fall fehlt im Änderungsvorschlag eine Begrenzung der Kostentragungspflicht durch das in Deutschland geltende Kriterium der Erforderlichkeit.

Es drohen hohe Geldbußen bei Verstößen gegen EBR-Rechte

Der EP-Vorschlag geht noch weiter: Geldstrafen bei Verstößen gegen EBR-Recht sollen, wie aus dem Kartellrecht oder der DSGVO bekannt, bis zu EUR 20 Mio. oder bis zu 4 % des weltweit erzielten Jahresumsatzes im vorausgegangenen Geschäftsjahr betragen können. Nur zum Vergleich: Die Ordnungswidrigkeitsvorschrift des § 121 BetrVG sieht bislang Geldbußen von bis zu EUR 10.000 vor. Dieser Vergleich zeigt, wie überhöht der Vorschlag ist. Derart drastische Strafen wurden von der liberalen Fraktion Renew Europe, der auch die FDP angehört, kritisch gesehen. Es bleibt abzuwarten, wie die Europäische Kommission diesen Vorschlag umsetzt. 

Verkürztes Verhandlungsverfahren geplant

Anders als bei den uns bekannten nationalen Arbeitnehmergremien (insb. Betriebsrat und Aufsichtsrat) wird der EBR auf der Grundlage einer Vereinbarung entwickelt (sog. „Verhandlungslösung“ oder auch EBR „kraft Vereinbarung“). Hierzu werden Verhandlungen zwischen dem sog. besonderen Verhandlungsgremium und der zentralen Leitung initiiert.

Die Verhandlungszeit zur Gründung eines EBR soll zukünftig halbiert werden. Kommt es innerhalb von 18 Monaten nicht zur Einigung über eine EBR-Vereinbarung (bisher drei Jahre), greifen automatisch die subsidiären Bestimmungen (EBR „kraft Gesetzes“). 

„Länderübergreifende“ Zuständigkeit des EBR

Ebenso grundlegend ist die Frage der Zuständigkeit des EBR: Diese soll nach den Vorstellungen des EP erweitert werden. Der EBR soll zukünftig auch für solche Angelegenheiten zuständig sein, die nur ein einziges Land betreffen, sofern die Entscheidung in einem anderen Land getroffen wurde oder eine große Bedeutung für die europäische Belegschaft hat. 

Bislang ist der EBR nur dann zuständig, wenn mehrere Mitgliedstaaten betroffen sind. Das ist sinnvoll, da bei rein lokalen/nationalen Angelegenheiten die lokalen/nationalen Arbeitnehmervertretungsgremien die Rechte der Arbeitnehmer ohne Weiteres wahrnehmen können. Insofern ist die geplante Änderung kritisch zu sehen und es ist deswegen zu empfehlen, bereits jetzt bei EBR-Vereinbarungen verstärkt darauf zu achten, eine interessengerechte Zuständigkeitsregelung zu treffen. Diese kann z.B. vorsehen, dass der EBR nur dann zuständig ist, wenn eine gewisse Anzahl von Arbeitnehmern in mehreren Mitgliedstaaten negativ betroffen ist.

Stärkung der Anhörungsrechte des EBR geplant

Anders als die nationalen Arbeitnehmergremien (insb. Betriebsrat) hat der EBR ausschließlich Unterrichtungs- und Anhörungsrechte. Vor allem muss die zentrale Leitung den EBR einmal im Kalenderjahr über die Entwicklung der Geschäftslage und die Perspektiven des Unternehmens bzw. Konzerns unterrichten und zusätzlich ad hoc bei außergewöhnlichen Umständen. Diese Anhörungsrechte sollen gestärkt werden. Der EBR soll immer vor der endgültigen Entscheidung der zentralen Leitung eine begründete Antwort auf seine Stellungnahme erhalten. Das ist im Ergebnis eine legitime Forderung. Unternehmen müssen sich aber auf mehr administrativen Aufwand einstellen.

Während eines Unterrichtungs- und Anhörungsverfahrens soll genug Zeit sein, damit sich der EBR mit Arbeitnehmervertretern auf nationaler und lokaler Ebene abstimmen kann. Hiergegen ist im Grunde nichts einzuwenden, solange die Möglichkeit bestehen bleibt, die nationalen Beteiligungsverfahren parallel zum Unterrichtungs- und Anhörungsverfahren auf europäischer Ebene zu starten und ggf. sogar vorher zu beenden. Praxistipp: In EBR-Vereinbarungen kann der zeitliche und inhaltliche Umfang des Unterrichtungs- und Anhörungsverfahrens vereinbart werden.

Schließlich soll auch die Rolle der europäischen Gewerkschaftsverbände gestärkt werden, indem zusätzlich zu dem gewerkschaftlichen Koordinator mind. ein Sachverständiger von der zentralen Leitung zu bezahlen und beiden Zutritt zu den Sitzungen mit dem Management zu gewähren ist. 

Zwei Plenarsitzungen pro Jahr

Die subsidiären Bestimmungen sollen nach den Vorstellungen des EP künftig zwei Plenarsitzungen im Jahr vorsehen. Bisher setzen die gesetzlichen Auffangregelungen (EBR „kraft Gesetzes“) nur eine Plenarsitzung pro Jahr an. 

Im Rahmen der Verhandlungen über eine EBR-Vereinbarung werden häufig ohnehin schon zwei Plenarsitzungen im Jahr vereinbart. Empfehlenswert ist aber vor dem Hintergrund der massiven Kosten der Plenarsitzungen, zumindest eine der Sitzungen virtuell abzuhalten. Der europäische Gesetzgeber sollte hier zur Entlastung der Unternehmen – aber auch aus ökologischen Gründen – vorangehen und für die „Default-Lösung“ ebenfalls virtuelle Sitzungen vorschreiben. Hierzu fehlen aber jegliche Anhaltspunkte im Beschluss des Parlaments. Es ist nicht so recht einzusehen, weswegen für ein- bis zweitägige Meetings Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertreter aus ganz Europa an einen Ort fliegen sollen, obwohl eine Unterrichtung und Anhörung mindestens genauso gut via MS Teams durchführbar ist. Praxistipp: Virtuelle Sitzungen vereinbaren!

Eingeschränkte Verwendung von Vertraulichkeitsklauseln

Vertraulichkeitsvereinbarungen sind in der Zusammenarbeit zwischen EBR und zentraler Leitung häufig vorzufinden und haben auch ihre Berechtigung, weil sie dazu beitragen, sensible Informationen zu schützen und gleichzeitig eine offene Kommunikation zwischen den Beteiligten zu ermöglichen. 

Nun soll die „missbräuchliche“ Verwendung von Vertraulichkeitsklauseln eingeschränkt werden, indem die zentrale Leitung objektive Kriterien für die Vertraulichkeit von Informationen darlegt und die Dauer der Vertraulichkeit definiert. Das ist im Ausgangspunkt verständlich, da an einer „missbräuchlichen“ Verwendung von Vertraulichkeitsklauseln kein legitimes Interesse besteht. Abzuwarten bleibt aber, welche genauen Anforderungen für die objektiven Kriterien für die Vertraulichkeit von Informationen und die Dauer der Vertraulichkeit gelten werden.

Es fehlen Regelungen zu den Folgen einer Kündigung einer EBR-Vereinbarung

Wird der EBR sofort aufgelöst? Oder wird dann unmittelbar ein EBR auf Basis der Auffanglösung (EBR „kraft Gesetzes“) gebildet? Explizite Regelungen hierzu fehlen sowohl im EBRG als auch in der EBR-Richtlinie und den nun vorgelegten Änderungsvorschlägen. Die daraus resultierende Rechtsunsicherheit ist sowohl für die Arbeitnehmer- als auch die Unternehmensseite ungünstig.

Auch hier ein abschließender Praxistipp: Es ist sinnvoll, die Folgen der Kündigung einer EBR-Vereinbarung zu regeln (oder bei einer Befristung: die Folgen ihres Auslaufens). Häufig werden etwa Übergangsregelungen oder eine – zeitlich zu beschränkende – Nachwirkung verhandelt.

Fazit: EBR-Vereinbarungen überarbeiten

Gemeinschaftsweit tätige Unternehmen sollten die Entwicklungen auf europäischer Ebene genau verfolgen. Gerade an den Stellen, an denen die Auffanglösung nach Vorstellung des EP strenger wird, sollte die Zeit genutzt werden, um EBR-Vereinbarungen abzuschließen oder bestehende EBR-Vereinbarungen anzupassen. Das betrifft insb. die Regelungen 

  • zur Zuständigkeit des EBR (Stichwort Schwellenwerte),
  • zur Anzahl der Plenarsitzungen,
  • zur Durchführungsweise der (Plenar-)Sitzungen (insb. virtuelle Meetings), 
  • zu Art und Umfang des Unterrichtungs- und Anhörungsverfahrens sowie
  • zu den Folgen der Kündigung einer EBR-Vereinbarung.

Übereiltes Handeln ist aber nicht nötig: Das europäische Gesetzgebungsverfahren wird voraussichtlich noch einige Monate bis Jahre andauern – zunächst obliegt es der Europäischen Kommission, einen Gesetzesentwurf der Richtlinienänderung unter Einbindung der Sozialpartner gem. Art. 154 AEUV zu erarbeiten, dem sodann das EP und der EU-Ministerrat zustimmen müssen. Und erst hiernach müssen etwaige Änderungen der EBR-Richtlinie im nationalen EBRG umgesetzt werden – auch das kann dauern.

*Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Um der leichteren Lesbarkeit willen wird im Beitrag die grammatikalisch männliche Form verwendet.

Tags: Arbeitsrecht einstweilige Verfügung Europäische Betriebsräte