Der 2. Senat des BAG deutet Neubewertung der Anforderungen an ein Unterrichtungsschreiben gem. § 613a Abs. 5 BGB und der Folgen von Fehlern an.
Für Arbeitgeber ist es häufig eine Herkulesaufgabe, den inhaltlichen Anforderungen der Rechtsprechung an das Unterrichtungsschreiben gerecht zu werden.
Da nur eine nach § 613a Abs. 5 BGB ordnungsgemäße Unterrichtung die einmonatige Widerspruchsfrist gem. § 613a Abs. 6 BGB in Gang setzt, befinden sich Arbeitgeber regelmäßig in einem Dilemma. Wieviel Aufwand bei der Abfassung von Unterrichtungsschreiben ist nötig, wie wenig möglich? Wie ist mit komplexen tatsächlichen und rechtlichen Fragen umzugehen? Schließlich kann ein Arbeitnehmer* durch einen nachträglichen Widerspruch unter Berufung auf Unterrichtungsfehler noch viele Jahre nach einem Betriebs- oder Betriebsteilübergang das Wideraufleben seines „alten“ Arbeitsverhältnisses durchsetzen.
Bisherige Rechtsprechung: Verwirkung des Widerspruchsrechts unter strengen Voraussetzungen einziger Schutz bei Unterrichtungsmängeln
Die vom bislang beim BAG zuständigen Senat entwickelten Grundsätze zur Verwirkung des Widerspruchsrechts sind überaus arbeitnehmerfreundlich ausgestaltet und greifen damit lediglich in Extremfällen. So führt die widerspruchslose Weiterarbeit beim Erwerber regelmäßig erst nach sieben Jahren zur Verwirkung; Ausnahmen in beide Richtungen bleiben möglich. Voraussetzung für die regelmäßige Verwirkung ist, dass der Arbeitnehmer aus Anlass des Betriebsübergangs „grundlegende Informationen“ über den Betriebsübergang in Textform erhalten hat und über sein Widerspruchsrecht nach § 613a Abs. 6 BGB belehrt worden ist (so die Grundsatzentscheidung des BAG vom 24. August 2017 – 8 AZR 265/16).
Immerhin: „Grundlegend informiert“ ist ein Arbeitnehmer bereits dann, wenn er über den mit dem Betriebsübergang verbundenen Übergang seines Arbeitsverhältnisses, den (ggf. geplanten) Zeitpunkt und den Gegenstand des Betriebsübergangs sowie den Erwerber des Betriebs in Kenntnis gesetzt worden ist. Angesichts des langen Zeitraums von sieben Jahren hilft diese Rechtsprechung Arbeitgebern in der Praxis allerdings nur selten weiter.
BAG deutet nach Senatswechsel differenzierte Bewertung von Unterrichtungsfehlern hinsichtlich des Laufs der Widerspruchsfrist an
Vor diesem Hintergrund erlangt eine Entscheidung des 2. Senats (BAG v. 22. Juli 2021 – 2 AZR 6/21 u.a.) besondere Bedeutung, die sich mit der Verwirkung des Widerspruchsrechts eingehend befasst. Die Entscheidung ist schon deshalb spannend, weil sich der seit dem Geschäftsjahr 2021 für Fragen des Betriebsübergangs neuerdings zuständige 2. Senat erstmalig mit den Anforderungen des bisher zuständigen 8. Senats an Unterrichtungsschreiben und den Folgen von Unterrichtungsfehlern befasst.
Im Ergebnis gibt das Urteil in doppelter Hinsicht für Arbeitgeber Grund zur Hoffnung: Zum einen führt der 2. Senat die Verwirkungsrechtsprechung des 8. Senats konsequent auch im Hinblick auf das Bestehen eines tarifvertraglichen Rückkehrrechts fort. Zum anderen deutet das Gericht einen Richtungswechsel an, was die inhaltlichen Anforderungen an das Unterrichtungsschreiben und die Folgen von Unterrichtungsfehlern für den Lauf der Widerspruchsfrist anbelangt.
Kläger reklamierte die Hemmung der regelmäßigen Verwirkungsfrist für das Widerspruchsrecht aufgrund eines tariflichen Rückkehrrechts
Der Entscheidung des 2. Senats liegt eine Klage auf Feststellung des Bestehens eines Arbeitsverhältnisses mit dem früheren Arbeitgeber zugrunde. Zum Wechsel des Arbeitgebers war es aufgrund eines Betriebsübergangs im Juni 2011 gekommen. Nach der Insolvenz der Erwerberin hat der Kläger im Juni 2019 und damit acht Jahre nach dem Betriebsübergang dem Übergang seines Arbeitsverhältnisses widersprochen.
Das Unterrichtungsschreiben enthielt seinerzeit unstreitig nicht alle Informationen, die gem. § 613a Abs. 5 BGB erforderlich sind. In einem Überleitungstarifvertrag wurde zudem den vom Betriebsübergang betroffenen Arbeitnehmern ein Rückkehrrecht zum „alten“ Arbeitgeber bis zum 31. Dezember 2015 eingeräumt, falls die Erwerberin des Betriebs eine Kündigung aus „betrieblichen Erfordernissen“ aussprechen sollte. Der Kläger vertrat die Auffassung, dass das Rückkehrrecht den Lauf der regelmäßigen Verwirkungsfrist für das Widerspruchsrecht gehemmt habe.
Bestätigung der 7-Jahre-Regelverwirkung des bislang zuständigen Senats
Das BAG folgte dem Kläger nicht, sondern stellte fest, dass das Arbeitsverhältnis gem. § 613a Abs. 1 BGB im Juni 2011 geendet hatte.
Das Arbeitsverhältnis sei nicht infolge des Widerspruchs im Juni 2019 wiederaufgelebt, da das Widerspruchsrecht zum Ausübungszeitpunkt bereits verwirkt gewesen sei. Der Widerspruch erst nach einem Zeitraum von rund acht Jahren sei als besonders starkes Zeitmoment zu gewichten.
Das schwache Umstandsmoment, nämlich die widerspruchslose Weiterarbeit nach Erteilung der „grundlegenden Informationen″ im Unterrichtungsschreiben, werde durch dieses besonders starke Zeitmoment ausgeglichen.
Tarifvertragliches Rückkehrrecht lässt Verwirkung unberührt
Das BAG stellte ferner fest, dass die Existenz eines tarifvertraglichen Rückkehrrechts den Zeitpunkt der Verwirkung nicht „hinausschiebe“. Denn das tarifvertragliche Rückkehrrecht sei von dem gesetzlichen Widerspruchsrecht zu unterscheiden. Nicht nur die jeweiligen Voraussetzungen und Rechtsfolgen, auch die Interessenlage sei verschieden.
Dem BAG ist nicht nur aus dogmatischen Gründen zuzustimmen. Andernfalls hätten Arbeitgeber sich künftig noch genauer überlegen müssen, ob sie einen Betriebsübergang durch Rückkehrrechte sozialverträglich flankieren. Es ist für die Rechtssicherheit allemal gut, dass das BAG in Gestalt des 2. Senats die Anforderungen an Zeit- und Umstandsmoment im Verhältnis zueinander nicht weiter verschärft hat, sondern konsequent „auf Linie“ mit dem 8. Senat anwendet. Mehr wäre aus Arbeitgebersicht wünschenswert, gab aber schon der Sachverhalt der Entscheidung nicht her.
Bindung des BAG an Feststellung des Betriebsübergangs durch das LAG?
Der 2. Senat ließ ausdrücklich die Frage unbeantwortet, ob das BAG als Revisionsgericht in Übereinstimmung mit der aus dem Jahre 2007 stammenden Rechtsprechung des 1. und 4., aber entgegen der Auffassung des 8. Senats aus dem Jahre 2019,
an die ,Feststellung‘ eines Betriebsübergangs durch das Berufungsgericht nach § 559 Abs. 2 ZPO gebunden ist.
Die Gegenüberstellung der aktuellen Position des 8. Senats und der anderen Senatspositionen aus dem Jahre 2007 lässt eventuell darauf schließen, dass der 2. Senat entgegen der Auffassung des 8. Senats zu einer Bindungswirkung neigt. Den Landesarbeitsgerichten käme dann bei Streitigkeiten im Kontext von Betriebsübergängen noch größere Bedeutung zu als ohnehin schon. Klarheit wird hier aber erst die weitere Rechtsprechung des Senats bringen.
Differenzierte Bewertung von Unterrichtungsmängeln im Hinblick auf Widerspruchsfrist?
Aufmerken lässt vor allem die folgende Aussage des 2. Senats: Es könne dahinstehen, ob künftig an den (strengen) inhaltlichen Anforderungen an das Unterrichtungsschreiben und an den Voraussetzungen für das Anlaufen der Widerspruchsfrist, die der 8. Senat aufgestellt hat, uneingeschränkt festzuhalten sei. Der 2. Senat deutete zugleich an, dass ggf. eine „differenzierte Betrachtungsweise“ geboten sei,
wonach der Beginn der einmonatigen Widerspruchsfrist jedenfalls nicht durch Fehler berührt werde, die regelmäßig für den Willensbildungsprozess der Arbeitnehmer ohne Belang sind.
Ob diese Voraussetzungen im vorliegenden Fall erfüllt waren, brauchte nicht entschieden zu werden, weil das Widerspruchsrecht jedenfalls im Juni 2019 gem. § 242 BGB verwirkt gewesen sei.
Was ist regelmäßig für die Willensbildung von Arbeitnehmer ohne Belang?
Die Bedeutung des Fehlers für den Willensbildungsprozess der Arbeitnehmer ist ein neues Wertungskriterium im Zusammenhang mit der Bewertung von Unterrichtungsmängeln und es wirft Fragen auf. Erkennbar soll die Bedeutung des Fehlers nicht im Einzelfall bezogen auf den jeweilig betroffenen Arbeitnehmer festgestellt werden. Hierauf deutet die Verwendung des Begriffs „regelmäßig“ hin.
Eine individuelle Betrachtung wäre praktisch auch kaum zu bewerkstelligen und würde gänzlich unvorhersehbare Ergebnisse produzieren und der Rechtssicherheit damit einen „Bärendienst“ erweisen. Es dürfte vielmehr darauf ankommen, was typischerweise für die Entscheidung von Arbeitnehmern, ihr Widerspruchsrecht auszuüben, zu wissen wichtig ist. Wie diese Feststellung zu erfolgen hat und ob z.B. nach dem „Empfängerhorizont“ unterschiedlicher Arbeitnehmergruppen und nach einschlägigen Betroffenheiten zu differenzieren ist, lässt der Senat freilich offen. Daher ist die angedeutete Rechtsprechung bislang noch nicht mit einem Gewinn an Rechtssicherheit verbunden.
Allerdings weist die Entscheidung in die richtige Richtung und lässt hoffen, durch eine realistischere Betrachtungsweise des § 613a Abs. 5 BGB zu praxisgerechteren Ergebnissen zu kommen.
Trotz Hoffnungsschimmers weiterhin Sorgfalt bei Unterrichtungsschreiben geboten
Das Urteil des 2. Senats bringt Bewegung in die scheinbar festgefahrene Spirale immer weitergehender Anforderungen an die ordnungsgemäße Unterrichtung aus Anlass von Betriebs- oder Betriebsteilübergängen. Darüber, welche Informationen regelmäßig für die Willensbildung relevant sind und welche nicht, kann derzeit leider nur spekuliert werden. Vorerst ist Arbeitgebern daher weiterhin zu empfehlen, das größtmögliche Maß an Sorgfalt bei der Abfassung des Unterrichtungsschreibens anzuwenden, es sei denn das Unwirksamkeitsrisiko soll, wie so häufig, im Rahmen einer pragmatischen Herangehensweise bewusst in Kauf genommen werden. Die Entscheidung bietet Arbeitgebern jedoch allemal Hoffnung auf künftige Erleichterungen und mag im Fall von Spätwidersprüchen jetzt schon helfen, Ansprüche abzuwehren.
*Gemeint sind Beschäftigte jeder Geschlechtsidentität. Lediglich der leichteren Lesbarkeit halber wird künftig bei allen Bezeichnungen nur noch die grammatikalisch männliche Form verwendet.