20. April 2012
Arbeitsrecht

Urlaubsanspruch erloschen? Bitte nicht ganz so schnell! Doch!

„Erst sind Sie drei Jahre krank, und jetzt wollen Sie auch noch Urlaub?″ So oder ähnlich werden viele Arbeitgeber reagieren, wenn sie mit den Urlaubs(abgeltungs)ansprüchen von langzeiterkrankten Mitarbeitern konfrontiert werden. Gerichtliche Auseinandersetzungen liegen dementsprechend auf der Hand. Das Arbeitsgericht Bonn hat entschieden, dass das „Ansammeln″ von Urlaubsansprüchen rechtlich zulässig sein kann. Unumstritten ist dieses Urteil allerdings nicht, und bis zu einer höchstrichterlichen Klärung bleibt es spannend.

Arbeitsgericht Bonn: Ansammeln von Urlaubsansprüchen kein Problem

Außerhalb des Anwendungsbereichs entsprechender Tarifverträge verfallen Urlaubsansprüche im Fall langfristiger Erkrankung nicht automatisch mit Ablauf von 15 Monaten nach Beendigung des Urlaubsjahres – meinten die Bonner Richter (ArbG Bonn, Urt. v. 18.01.2012 – 5 Ca 2499/11).

Der Kläger war bei der Beklagten seit dem 20.01.1973 beschäftigt. Seit dem 22.05.2006 war er durchgehend arbeitsunfähig erkrankt. Mit Schreiben vom 29.03.2010 kündigte der Kläger das Arbeitsverhältnis ordentlich. Der Kläger begehrte von der Beklagten mit seiner am 28.02.2011 eingegangenen Klage nunmehr u.a. die Abgeltung von je 31 Urlaubstagen für die Jahre 2006 und 2007, weil er aufgrund seiner Arbeitsunfähigkeit daran gehindert war, den Urlaub in natura zu nehmen.

Das Arbeitsgericht Bonn hat der Klage in diesem Punkt stattgegeben. Der Urlaubsanspruch des Klägers sei nicht etwa gem. § 7 Abs. 3, 4 BUrlG erloschen. Insoweit ist das Arbeitsgericht Bonn der Rechtsprechung des BAG (BAG, Urt. v. 24.03.2009 – 9 AZR 983/07) und der zugrunde liegenden Rechtsprechung des EuGH in Sachen „Schultz-Hoff″ (EuGH, Urt. v. 20.01.2009 – C 350/06) gefolgt, wonach § 7 Abs. 3, 4 BUrlG in gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung so zu verstehen ist, dass gesetzliche Urlaubsabgeltungsansprüche nicht erlöschen, wenn Arbeitnehmer bis zum Ende des Urlaubsjahres und / oder des Übertragungszeitraumes erkrankt und deswegen arbeitsunfähig sind.

Entgegen der Auffassung der Beklagten würden die Urlaubsansprüche auch nicht gleichsam automatisch 15 Monate nach Ablauf des jeweiligen Urlaubsjahres verfallen. Hierfür fehle es an einer Rechtsgrundlage. Ohne eine gesetzliche Grundlage könne von keinem starren 15-monatigen Übertragungszeitraum für Urlaubsansprüche im Fall langfristiger Erkrankungen ausgegangen werden. Soweit der EuGH im „Schulte-Urteil″ (EuGH, Urt. v. 22.11.2011 – C-214/10) entschieden hat, dass Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG einzelstaatlichen Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten wie etwa Tarifverträgen nicht entgegensteht, die die Möglichkeit für einen während mehrere Bezugszeiträume in Folge arbeitsunfähigen Arbeitnehmer, Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub anzusammeln, dadurch einschränken, dass sie einen Übertragungszeitraum von 15 Monaten vorsehen, nach dessen Ablauf der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub erlischt, sei dies für den vorliegenden Rechtsstreit nicht erheblich. Im Streitfall fehle es nämlich gerade an einer auf das Arbeitsverhältnis der Parteien anwendbaren Rechtsvorschrift oder Gepflogenheit, die eine solche Möglichkeit zur Einschränkung der Ansammlung von Ansprüchen auf bezahlten Jahresurlaub in Fall langfristiger Erkrankungen vorsieht.

Praxisfolgen

Es bleibt spannend. Das Urteil des Arbeitsgerichts Bonn steht in diametralem Gegensatz zu einer Entscheidung des LAG Baden Württemberg, wonach Urlaubsansprüche bei durchgehender Arbeitsunfähigkeit spätestens 15 Monate nach Ende des Urlaubsjahres automatisch untergehen und bei einer späteren Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht abzugelten sind (LAG Baden-Württemberg, Urt. v. 21.12.2011 – 10 Sa 19/11).

Was gilt nun? Bis zur höchstrichterlichen Entscheidung dieser Rechtsfrage (gegen die Entscheidung des LAG Baden-Württemberg ist Revision zum BAG anhängig – 9 AZR 225/12) werden verlässliche Prognosen kaum möglich sein.

Das Arbeitsgericht Bonn geht zwar zutreffend davon aus, dass der EuGH in seiner „Schulte-Entscheidung″ allein tarifvertragliche Klauseln nicht beanstandet hat, die einen Ausschluss der Urlaubsansprüche nach 15 Monaten vorsehen und dass zur Möglichkeit bzw. Wirksamkeit individualvertraglicher Ausschlussklauseln oder gar zu einem „automatischen“ Ausschluss keine Aussage getroffen wurde. Meines Erachtens sprechen gleichwohl die besseren Argumente für die Ansicht des LAG Baden-Württemberg. Die Schulte-Entscheidung des EuGH, die das LAG Baden-Württemberg heranzieht, stützt sich auch auf den Zweck des Urlaubsanspruchs. Dieser besteht darin, dem Arbeitnehmer zu ermöglichen, sich zum einen von der Ausübung der ihm nach seinem Arbeitsvertrag obliegenden Aufgaben zu erholen und zum anderen über einen Zeitraum für Entspannung und Freizeit zu verfügen. Dieser Erholungszweck kann nicht erreicht werden, wenn Urlaubsansprüche für mehrere Jahre zeitlich unbegrenzt angesammelt werden. Nimmt man dieses Argument ernst, ist ein automatischer Verfall von Urlaubsansprüchen nach 15 Monaten – unabhängig einer tarifvertraglichen Ausschlussklausel – im Wege der richtlinienkonformen Rechtsfortbildung zu bejahen.

Auch das LAG Hamm hat die Schulte-Entscheidung des EuGH herangezogen und einen „automatischen“ Ausschluss bejaht (LAG Hamm, Urt. v. 12.01.2012 – 16 Sa 1352/11). Anders als das LAG Baden-Württemberg geht das LAG Hamm unter Berücksichtigung von Art. 9 Abs. 1 des Übereinkommens Nr. 132 ILO jedoch von einem 18-monatigen Übertragungszeitraum aus (auch gegen die Entscheidung des LAG Hamm ist Revision zum BAG anhängig – 9 AZR 232/12).

Bis zu einer klarstellenden Entscheidung des BAG ist der Praxis zu empfehlen, in Arbeitsverträgen entsprechende Ausschlussklauseln zu formulieren. Diese wären zwar – sollte das BAG einen anderen Weg einschlagen – unwirksam. Wird bei der Vertragsgestaltung jedoch darauf geachtet, dass der womöglich unwirksame Teil einer Klausel nach den Grundsätzen eines Blue-Pencil-Tests gestrichen werden kann, besteht für die Arbeitsvertragsparteien kein weiteres Risiko als die ohnehin schon bestehende Rechtsunsicherheit.

Tags: 5 Ca 2499/11 Arbeitsgericht Bonn Arbeitsgerichte Arbeitsunfähigkeit Arbeitsvertrag BAG Bundesarbeitsgericht EuGH Jahresurlaub Landesarbeitsgerichte Rechtsprechung Schulte Schultz-Hoff Urlaubsanspruch Verfall