17. April 2023
Produktsicherheitsverordnung
Commercial

Die 16 wichtigsten Änderungen, die Unternehmen zur neuen Produktsicherheitsverordnung kennen sollten

Die neue Produktsicherheitsverordnung wurde beschlossen. Unternehmen müssen sich auf wesentliche Änderungen beim Inverkehrbringen von Verbraucherprodukten einstellen.

Am 30. März 2023 hat das Europäische Parlament die Produktsicherheitsverordnung beschlossen. Die neue Produktsicherheitsverordnung für Verbraucherprodukte löst die über 20 Jahre alte Richtlinie über die allgemeine Produktsicherheit aus dem Jahr 2001 (2001/95/EG) ab. Der Europäische Rat muss den Text förmlich billigen, bevor er im Amtsblatt der EU veröffentlicht werden und in Kraft treten kann. Die Geltung der Verordnung beginnt 18 Monate nach ihrem Inkrafttreten. 

Nicht viele Aspekte für eine der wesentlichsten Änderungen in der europäischen Produktsicherheitslandschaft im Non-Food-Bereich seit Jahren, doch hier sind die 16 wichtigsten Änderungen:

1. Anerkennung des Fulfilment-Dienstleisters als Wirtschaftsakteur

Der Fulfilment-Dienstleister wird als Wirtschaftsakteur qualifiziert und wird damit erstmals Adressat vieler Anforderungen aus der Produktsicherheitsverordnung. 

2. Vorverlagerung des Anwendungsbereichs im Online-Handel

Verbraucherprodukte gelten auch dann schon als auf dem Markt bereitgestellt, wenn sie im Rahmen des Fernabsatzes (also i.d.R. online) angeboten werden. Dies ist eine erhebliche Vorverlagerung des Zeitpunktes, ab dem Pflichten aus der Produktsicherheitsverordnung greifen. Unternehmen werden sich darauf einstellen müssen, ihre Produkte schon zu diesem frühen Zeitpunkt konform zu gestalten.

3. Erweiterung der Beurteilungskriterien für das „sichere Produkt“

Wirtschaftsakteure dürfen Produkte nur dann auf dem europäischen Markt bereitstellen, wenn diese Produkte sicher sind. Die Aspekte, die zu berücksichtigen sind, werden dabei durch die Produktsicherheitsverordnung ausgeweitet und verschärft. Relevant sind künftig u.a. die mögliche Einwirkung anderer Produkte auf das zu beurteilende Produkt, Cybersicherheitsmerkmale, sich ändernde, sich entwickelnde und prädiktive Funktionen eines Produkts, sprich selbstlernende, KI-ähnliche Aspekte, aber auch die Auswirkungen geschlechtsspezifischer Unterschiede und die Attraktivität des Produktes für Kinder.

4. Herstellerpflicht zur Risikoanalyse und zur Erstellung technischer Unterlagen für nicht harmonisierte Produkte

Für nicht harmonisierte Produkte (der Klassiker ist der einfache Tisch oder Stuhl, das Bücherregal, eine Glasflasche etc.) kommen bislang nicht bestehende Pflichten auf die Hersteller zu, z.B. die Pflicht zur Durchführung einer Risikoanalyse und zur Aufstellung einer technischen Dokumentation. Letztere muss aktuell gehalten, für zehn Jahre aufbewahrt und den Behörden zur Verfügung gestellt werden. Einführer haben die Einhaltung der Anforderungen zu gewährleisten. 

5. Verkehrsfähigkeit eines Produktes setzt die Existenz eines in der EU niedergelassenen Wirtschaftsakteurs voraus

Künftig besteht die Pflicht, einen in der EU niedergelassenen Wirtschaftsakteur zu haben. Anderenfalls besteht ein Verbot des Inverkehrbringens in der EU. Diese Verpflichtung ist für harmonisierte Produkte bereits durch die Europäische Marktüberwachungsverordnung (EU/2019/1020) flächendeckend eingeführt worden, wird nun aber auch auf nicht harmonisierte Produkte ausgeweitet.

6. Pflicht zur Aufstellung von internen Product-Compliance-Prozessen

Künftig werden Wirtschaftsakteure verpflichtet, Prozesse aufzusetzen, um sicherzustellen, dass die jeweils für sie geltenden Anforderungen der Produktsicherheitsverordnung eingehalten werden. Hersteller müssen darüber hinaus sicherstellen, dass Serienprodukte immer entsprechend den Sicherheitsanforderungen der Produktsicherheitsverordnung hergestellt werden. Diese Neuerung, konkrete Verfahren vorzuhalten, wird den Marktaufsichtsbehörden Möglichkeiten geben, letztlich Einzelprodukt-unabhängig Überprüfungen in Unternehmen durchzuführen.

7. Pflicht, Kommunikationskanäle für Verbraucherbeschwerden zur Verfügung zu stellen

Hersteller haben die Pflicht zum Vorhalten einer Beschwerdestelle, zum Beispiel telefonisch, per E-Mail oder über eine Website. Hierüber sollen die Hersteller auch über alle im Zusammenhang mit einem Produkt aufgetretenen Unfälle oder Sicherheitsprobleme informiert werden können. Einführer haben die Einhaltung der Anforderungen zu überprüfen, notfalls müssen sie selbst entsprechende Kanäle einrichten.

8. Pflicht, ein internes Beschwerderegister vorzuhalten

Hersteller haben die Pflicht, ein internes Verzeichnis der Beschwerden sowie von Produktrückrufen und etwaigen Korrekturmaßnahmen zu führen.

9. Die wesentliche (digitale) Veränderung eines Produktes führt zur Herstellerverantwortung

Erstmals geregelt wird, dass auch derjenige, der ein Produkt wesentlich verändert, als Hersteller gilt. Interessant ist, dass auch eine „digitale Änderung“ eines Produktes wesentlich sein kann, wodurch sich eine erhebliche Ausweitung der Herstellerverantwortung auch für solche Unternehmen ergeben kann, die lediglich die digitale Seite eines Produktes „optimieren“, z.B. durch Add-ons.

10. Pflicht, für bestimmte Produkte ein spezielles Rückverfolgungssystem vorzuhalten

Für bestimmte Produkte, die wahrscheinlich ein ernstes Risiko für die Gesundheit darstellen, kann die Kommission ein Rückverfolgbarkeitssystem einrichten, das die Wirtschaftsakteure, die diese Produkte in Verkehr bringen und auf dem Markt bereitstellen, übernehmen müssen.

11. Neue (Informations-)Pflichten für Online-Handel

Die Produktsicherheitsverordnung legt einige Pflichten fest, die von Wirtschaftsakteuren beim Bereitstellen von Produkten online oder über eine andere Form des Fernabsatzes einzuhalten sind, z.B. die eindeutige und gut sichtbare Angabe von Warnungen und Sicherheitshinweisen, die auf dem Produkt anzubringen oder ihm beizufügen sind.

12. Besondere Pflichten für Online-Marktplätze

Auch für Betreiber von Online-Marktplätzen werden Pflichten vorgesehen, z.B. die Pflicht, eine zentrale Kontaktstelle (single point of contact) für die Marktüberwachungsbehörden und für Verbraucher* vorzuhalten, auf Anweisungen der Marktüberwachung innerhalb von zwei Arbeitstagen zu reagieren, Meldungen im Rapid Alert System (vormals RAPEX) zu überwachen und zu berücksichtigen oder Kunden über Produktrückrufe und die Marktüberwachungsbehörden über gefährliche Produkte zu informieren sowie Unfälle zu melden.

13. Neue Meldepflichten bei Unfällen

Der Hersteller ist künftig verpflichtet, über das Safety Business Gateway unverzüglich Unfälle zu melden, die durch ein Produkt verursacht worden sind, wenn der Unfall zum Tod oder zu ernsten nachteiligen Auswirkungen geführt hat. Einführer und Händler sind ebenfalls verpflichtet, Unfälle zu melden, jedoch muss diese Meldung gegenüber dem Hersteller erfolgen. Dieser hat dann entweder die Unfälle selbst zu melden oder er kann den Einführer oder einen der Händler anweisen, diese Meldung für ihn vorzunehmen. Online-Marktplätze indes haben eine eigene Meldepflicht. 

14. Ausweitung der Informationspflichten der Wirtschaftsakteure und der Anbieter von Online-Marktplätzen im Hinblick auf die Produktsicherheit

Im Falle eines Produktsicherheitsrückrufs oder bei Sicherheitswarnungen haben Wirtschaftsakteure und Anbieter von Online-Marktplätzen im Einklang mit ihren jeweiligen Pflichten sicherzustellen, dass alle betroffenen Verbraucher, die sie ermitteln können, direkt und unverzüglich unterrichtet werden. Dabei sollen auch Produktregistrierungssysteme oder Kundenbindungsprogramme genutzt werden; in diesen Systemen oder Programmen muss den Kunden auch die Möglichkeit gegeben werden, gesonderte Kontaktdaten ausschließlich zu Sicherheitszwecken zu hinterlegen.

15. Neue Vorgaben für die Durchführung von Produktrückrufen

Wie bisher auch sind bei Vorliegen eines gefährlichen Produktes immer drei wesentliche Aspekte zu beachten: unverzügliche Korrekturmaßnahme (z.B. Rückruf oder Warnung), unverzügliche Information der Verbraucher, unverzügliche Unterrichtung der Marktüberwachungsbehörde. 

Die Vorgaben für die Durchführung eines Rückrufes wurden präzisiert: Ein Rückrufhinweis muss in der/den Sprache/-n des Mitgliedsstaates / der Mitgliedsstaaten verfügbar sein, in dem/denen das Produkt in Verkehr gebracht wurde. Der Rückrufhinweis muss leicht verständlich sein, die Überschrift „Rückruf zur Produktsicherheit“, eine klare Beschreibung des zurückgerufenen Produktes einschließlich einer Abbildung, des Namens und der Marke des Produktes sowie Angaben dazu enthalten, wann und wo das Produkt verkauft wurde. Bestimmte Elemente dürfen nicht mehr verwendet werden, z.B. „freiwillig“, „vorsorglich“, „im Ermessen“, „in seltenen/spezifischen Situationen“ sowie der Hinweis, dass bislang noch keine Unfälle gemeldet wurden. 

16. „Nachbesserung“ als Folge eines Rückrufs

Der den Rückruf einleitende Wirtschaftsakteur muss dem Verbraucher im Fall eines Rückrufs eine effektive, kostenfreie und zeitnahe Abhilfemaßnahme anbieten. Konkret angesprochen sind dabei die Reparatur des zurückgerufenen Produktes, dessen Ersatz sowie die Erstattung seines Wertes. Diese Formen der Abhilfe kennt die Rechtsordnung bislang lediglich im Bereich des Vertragsrechts. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass sich die Pflicht zur Abhilfe an alle Wirtschaftsakteure richtet, kann es hier zur Dopplung von Ansprüchen kommen, jedenfalls aber zur Entkopplung von Abhilfemaßnahmen von tatsächlichen Vertragsbeziehungen.

Fazit: baldiges Einstellen auf Änderungen der neuen Produktsicherheitsverordnung ist sehr zu empfehlen

Nach Inkrafttreten wird es noch einen Übergangszeitraum von 18 Monaten geben. Danach ist die Produktsicherheitsverordnung unmittelbar anzuwenden. Da die Entwicklung und die Herstellung von Produkten Zeit brauchen, vor allem aber wegen der zusätzlichen operativen Pflichten bzgl. z.B. des Umgang mit gefährlichen Produkten oder ganz generell mit Beschwerden, ist Unternehmen dringend zu empfehlen, sich bereits jetzt mit den auf sie zukommenden Veränderungen auseinanderzusetzen.

*Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Um der leichteren Lesbarkeit willen wird im Beitrag die grammatikalisch männliche Form verwendet.

Tags: Commercial Compliance Produktsicherheitsverordnung