20. Juni 2012
Corporate / M&A

Der grenzüberschreitende Formwechsel ante portas?

Das Europäische Gesellschaftsrecht befindet sich im Umbruch. Das Problem: Kann sich eine nach dem Recht eines Mitgliedstaates der EU gegründete Gesellschaft auf die Niederlassungsfreiheit berufen, wenn sie unter Verlegung von Verwaltungs- und Satzungssitz in einen anderen Mitgliedstaat ihre Rechtsform ändern und fortan als Gesellschaft dieses Zuzugsstaates am Wirtschaftsleben teilnehmen möchte? Der EuGH wird hierüber in Kürze in der Rechtssache „Vale“ (Az. C-378/10) zu entscheiden haben. Es ist damit erneut an ihm, das unvollendete Mosaik der Niederlassungsfreiheit um ein weiteres Steinchen zu ergänzen:

Was uns die Erfahrung lehrt: Die nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten kennen den grenzüberschreitenden Formwechsel zumeist nicht. Entsprechend versagen nationale Gerichte grenzüberschreitenden Formwechseln regelmäßig die Anerkennung. Die Gerichte leugnen die Einschlägigkeit der Niederlassungsfreiheit im Falle des grenzüberschreitenden Formwechsels dabei teilweise gleich in Gänze. Jedenfalls sehen sie den Wegzugs- und Zuzugsstaat selbst bei unterstellter Geltung der Niederlassungsfreiheit nicht daran gehindert, dem grenzüberschreitenden Formwechsel die Anerkennung zu versagen. Aus der jüngeren Rechtsprechung deutscher Gerichte sei insoweit auf die Entscheidungen des OLG München vom 4. Oktober 2007 (Az. 31 Wx 36/07) sowie des OLG Nürnberg vom 13. Februar 2012 (Az. 12 W 2361/11) verwiesen.

EuGH, bitte antworten! Der Fall der italienischen Gesellschaft VALE Costruzioni Srl, die formwechselnd nach Ungarn auswandern und fortan als Gesellschaft ungarischen Rechts firmieren wollte, hieran aber bislang vom ungarischen Registergericht gehindert wird, schaffte es schließlich bis zum EuGH. Vieles spricht dafür, dass der EuGH den grenzüberschreitenden Formwechsel in der Rechtssache „Vale“ als Ausübungsform der Niederlassungsfreiheit betrachten und Beschränkungen des grenzüberschreitenden Formwechsels dementsprechend am Maßstab der Niederlassungsfreiheit messen wird. Bereits die Schlussanträge des Generalanwalts Jääskinen, der darin allerdings die wenig überzeugende und bislang unbekannte Terminologie der „grenzüberschreitenden Neugründung“ verwendet, lesen sich entsprechend.

Und das zu Recht! Denn schon den bisherigen wesentlichen Judikaten des EuGH zur Niederlassungsfreiheit – angefangen von „Daily Mail“ über „Überseering“ bis hin zu „Sevic“ und „Cartesio“ – lassen sich zwei für den grenzüberschreitenden Formwechsel bedeutende Wertungen entnehmen:

 

  • Dem nationalen Gesetzgeber steht es zwar grundsätzlich frei, unter Beachtung von Diskriminierungs- und Beschränkungsverbot festzulegen, unter welchen Voraussetzungen eine Gesellschaft entsteht und als solche des nationalen Rechts existiert.

 

  • Hingegen ist der nationale Gesetzgeber durch die Niederlassungsfreiheit grundsätzlich daran gehindert, einen Rechtsträger im Rechtskleid des nationalen Rechts zur Auflösung zu zwingen, wenn er dieses Rechtskleid durch einen grenzüberschreitenden Formwechsel ablegen will.

Und was heißt das genau? Für den grenzüberschreitenden Formwechsel nach Deutschland hinein bedeutet dies, dass deutsches Recht die Möglichkeit des grenzüberschreitenden Formwechsels nicht versagen darf, soweit es die Möglichkeit eines entsprechenden Formwechsels auch einem entsprechenden deutschen Rechtsträger eröffnet.

Für den grenzüberschreitenden Formwechsel einer deutschen Gesellschaft aus Deutschland hinaus folgt hieraus die grundsätzliche Ausreiseerlaubnis. Selbst wenn der EuGH – wie dies zu erwarten ist – den grenzüberschreitenden Formwechsel der Niederlassungsfreiheit unterstellen sollte, bliebe freilich offen, welche Regelungen der nationale Gesetzgeber zum Schutz von Gläubigern, Arbeitnehmern und Minderheitsgesellschaftern einer auswandernden Gesellschaft vorsehen könnte, ohne dabei gegen das Beschränkungsverbot und damit die Niederlassungsfreiheit zu verstoßen.

Doch grau ist alle Theorie! Selbst nach einer positiven Entscheidung des EuGH in der Rechtssache „Vale“  bliebe für die Beratungspraxis vorläufig auch weiterhin festzuhalten, dass der grenzüberschreitende Formwechsel nach bzw. aus Deutschland heraus ohne diesen Sachverhalt speziell regelnde Vorschriften kaum rechtssicher durchzuführen ist. Kapitalgesellschaften mit dem Wunsch, unter Änderung ihres Gesellschaftsstatuts in einen anderen Mitgliedsstaat der EU (bzw. des EWR) umzuziehen, brauchen diese Pläne dennoch nicht zu begraben. Denn der grenzüberschreitende Formwechsel von Kapitalgesellschaften ist durch die mittlerweile EU/EWR-weit mögliche grenzüberschreitende Verschmelzung – wenn auch unter gleichzeitigem Wechsel des Rechtsträgers – gestaltbar. Alternativ kann über die Umwandlung in eine Europäische Aktiengesellschaft (SE) nachgedacht werden, für die eine Sitzverlegung über die Grenze bei Wechsel des subsidiär anwendbaren nationalen Rechts nach den Regelungen der SE-Verordnung ebenfalls möglich ist.

Tags: EuGH Europäisches Gesellschaftsrecht grenzüberschreitender Formwechsel Niederlassungsfreiheit