Die Vorrats-SE wirft mitbestimmungsrechtlich viele Fragen auf. Eine neue Gerichtsentscheidung bringt vorerst mehr Klarheit und korrigiert die Vorinstanz.
Die Vorrats-SE hat aufgrund ihrer flexiblen Einsatzmöglichkeit im Rahmen von Transaktionen und Konzernumstrukturierungen große Relevanz in der Praxis. Denn die Umwandlung einer bestehenden Gesellschaft in eine SE oder die sog. Eigengründung einer SE erfordert zum einen ein grenzüberschreitendes Element und zum anderen grds. auch die Durchführung eines Arbeitnehmerbeteiligungsverfahrens. Die Umwandlung bzw. Eigengründung ist damit i.d.R. zeit- und kostenintensiver als der Erwerb einer Vorrats-SE.
Allerdings ist der Einsatz von Vorrats-SEs in mitbestimmungsrechtlicher Hinsicht höchst umstritten. Zwar steht die grundsätzliche Zulässigkeit der Gründung einer arbeitnehmerlosen SE „auf Vorrat“ ohne Durchführung eines Arbeitnehmerbeteiligungsverfahrens inzwischen außer Frage. Im Rahmen ihrer anschließenden Verwendung stellen sich aber weiterhin zahlreiche Fragen hinsichtlich des mitbestimmungsrechtlichen Schicksals der Vorrats-SE.
Fragen zur Vorrats-SE sind in Rechtsprechung und Literatur höchst umstritten
Zu all diesen Fragen gibt es bis heute keine gesicherte Rechtsprechung, während in der Fachliteratur dazu mittlerweile eine kaum mehr überschaubare Bandbreite an unterschiedlichen Meinungen vertreten wird.
Nach der Rechtsprechung des OLG Düsseldorf (Beschluss v. 30. März 2009 – I-3 Wx 248/08) sei das Arbeitnehmerbeteiligungsverfahren in analoger Anwendung der Vorschriften der §§ 1 Abs. 4, 18 Abs. 3 SEBG über eine Neuverhandlungspflicht bei strukturellen Änderungen nachzuholen,
sobald die Vorrats-SE wirtschaftlich neu gegründet, namentlich mit einem Unternehmen ausgestattet wird und infolgedessen über Arbeitnehmer verfügt.
Die zitierten Voraussetzungen für das Nachholen des Beteiligungsverfahrens hat das OLG Düsseldorf dabei nicht weiter präzisiert, weil es im konkreten Fall darauf letztlich nicht ankam. Insbesondere blieb unklar, inwiefern – trotz analoger Anwendung – die Tatbestandsvoraussetzungen des § 18 Abs. 3 SEBG für die Nachholungspflicht erfüllt sein müssen. Ferner blieb unklar, ob eine bestimmte Mindestzahl an Arbeitnehmern* gegeben sein muss (das Gericht verwendete den Plural) oder auch schon ein einziger Arbeitnehmer ausreichen würde.
LAG Nürnberg: Keine Pflicht zur Nachholung des Beteiligungsverfahrens bei Eintritt der Vorrats-SE als Komplementärin in die KG
Nach der genannten Entscheidung des OLG Düsseldorf blieb es in der Rechtsprechung lange ruhig um die Vorrats-SE, bis gut zwölf Jahre später das ArbG Bamberg (Beschluss v. 8. September 2021 – 4 BV 31/20) eine recht überraschende Entscheidung zum Einsatz einer Vorrats-SE als Komplementärin einer KG gefällt hat.
Geklagt hatte der Betriebsrat einer KG mit mehr als 2.000 Arbeitnehmern in Deutschland. Zunächst hatte der Betriebsrat ein Statusverfahren eingeleitet, um die Einrichtung eines mitbestimmten Aufsichtsrats in der bisherigen Komplementärin, einer GmbH, zu erreichen. Nachdem die Komplementär-GmbH gegen eine Komplementär-SE ausgetauscht wurde, begehrte der Betriebsrat die Einleitung (Nachholung) des Beteiligungsverfahrens in dieser SE. Die SE wurde dabei als Vorrats-SE von der KG selbst erworben und gehalten. Es handelt sich somit um eine sog. Einheits-SE & Co. KG.
Das ArbG Bamberg gab dem Betriebsrat – mit einer dogmatisch eher fragwürdigen und stark ergebnisorientierten Begründung – Recht.
Abweichend vom OLG Düsseldorf hielt das ArbG Bamberg dazu insbesondere fest, dass das Beteiligungsverfahren bereits in analoger Anwendung der §§ 4 ff. SEBG (und nicht erst nach § 18 Abs. 3 SEBG analog) nachzuholen sei. Nach diesen Vorschriften bestehe die Pflicht zur Nachholung, sobald die Vorrats-SE aktiviert werde und Arbeitnehmer für Verhandlungen zur Verfügung stünden. Dabei sei nicht erforderlich, dass die SE selbst Arbeitnehmer habe, sondern es genüge vielmehr, wenn in der KG Arbeitnehmer beschäftigt seien. Die KG sei zwar nicht an der Gründung der Vorrats-SE beteiligt gewesen, aber an ihrer wirtschaftlichen Neugründung, da die KG die SE als Komplementärin aufgenommen habe. Der Fall sei daher so zu behandeln, als habe die KG schon an der Gründung der Vorrats-SE mitgewirkt. Für die Zurechnung der Arbeitnehmer der KG zur SE sei nicht erforderlich, dass die KG als Tochtergesellschaft der SE i.S.d. SEBG zu qualifizieren sei. Darauf, dass die Komplementär-SE kein Stimmrecht in der Gesellschafterversammlung der KG habe und die KG deshalb nicht beherrsche, komme es deshalb auch nicht an. Die Übernahme der Komplementärstellung in der KG sei das maßgebliche Ereignis für die wirtschaftliche Neugründung der Vorrats-SE und damit für das Nachholen des Beteiligungsverfahrens.
Hilfsweise führte das ArbG Bamberg aus, dass die Pflicht zum Nachholen des Beteiligungsverfahrens in dem der Entscheidung zugrundeliegenden Fallkonstellation auch aus der analogen Anwendung des § 18 Abs. 3 SEBG (wie vom OLG Düsseldorf bevorzugt) abgeleitet werden könne. Die Übernahme der Komplementärstellung in der KG durch die Vorrats-SE stelle eine strukturelle Änderung i.S.d. § 18 Abs. 3 SEBG dar. Die weitere Tatbestandsvoraussetzung der Norm, nämlich die Geeignetheit der strukturellen Änderung, Beteiligungsrechte der Arbeitnehmer zu mindern, müssten dabei nicht erfüllt sein, da die Norm im Rahmen der analogen Anwendung teleologisch zu reduzieren sei.
Die Entscheidung des ArbG Bamberg wurde nun in der zweiten Instanz durch das LAG Nürnberg korrigiert (Beschluss v. 1. September 2022 – 3 TaBV 29/21 – Tenor und Entscheidungsgründe zum Zeitpunkt des Erscheinens dieses Beitrags noch nicht veröffentlicht). Eine Pflicht zur Nachholung des Beteiligungsverfahrens bestehe in dem vorliegenden Fall nicht.
Ein Beteiligungsverfahren sei bei einer wirtschaftlichen Aktivierung – so das LAG Nürnberg – allenfalls dann nachzuholen, wenn die SE selbst mit einem Unternehmen ausgestattet werde und die SE wenigstens zehn Arbeitnehmer beschäftige. Der bloße Beitritt der SE als Komplementärin zur KG verpflichte jedoch noch nicht zur Nachholung des Beteiligungsverfahrens. Die Arbeitnehmer der KG seien der Komplementär-SE nicht zuzurechnen, weil die Einheits-KG – gemessen an den Kriterien des SEBG – keine Tochtergesellschaft der SE sei, sondern umgekehrt. Die Kriterien des SEBG für die Annahme einer Tochtergesellschaft seien – so das LAG Nürnberg zutreffend – abschließend.
Auch sei das SE-rechtliche Missbrauchsverbot vorliegend nicht betroffen. Ein Missbrauch der SE könne nur dann angenommen werden, wenn – gemessen an dem Vorher-nachher-Prinzip – Beteiligungsrechte der Arbeitnehmer gemindert würden. Eine solche Minderung sei bei der KG als mitbestimmungsfreier Rechtsform und bei der mitbestimmungsfrei gegründeten Vorrats-SE nicht ersichtlich. Deshalb scheide auch eine analoge Anwendung der Vorschriften des SEBG über die Arbeitnehmerbeteiligung aus.
Schließlich seien auch die Voraussetzungen des § 18 Abs. 3 SEBG nicht erfüllt. Die Übernahme einer Komplementärstellung sei entgegen dem ArbG Bamberg keine strukturelle Änderung. Auch würden Beteiligungsrechte der Arbeitnehmer – wie schon zum Missbrauchsverbot ausgeführt – nicht gemindert. Auf diese Tatbestandsmerkmale könne auch nicht mit der Begründung verzichtet werden, dass im Rahmen der Gründung der SE zuvor Art. 12 SE-VO teleologisch reduziert worden sei. Denn ein Beteiligungsverfahren sei vorliegend nicht erforderlich gewesen, da die SE keine eigenen oder ihr zurechenbare Arbeitnehmer gehabt habe.
BAG könnte zum Einsatz von Vorrats-SE und Beteiligungsverfahren entscheiden
Das LAG Nürnberg hat die Rechtsbeschwerde zum Bundesarbeitsgericht (BAG) zugelassen. Daher ist in dem genannten Verfahren das letzte Wort (vermutlich) noch nicht gesprochen.
Das BAG selbst hat in einem anderen laufenden Verfahren über ähnliche Fragen zu entscheiden (Vorlagebeschluss an EuGH v. 17. Mai 2022 – 1 ABR 37/20). Es hat dem EuGH diverse Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt.
In naher Zukunft ist daher mit höchstrichterlicher Rechtsprechung zum Einsatz von Vorrats-SEs bzw. selbstgegründeten SEs ohne Beteiligungsverfahren zu rechnen.
Bei Einsatz einer Vorrats-SE ist weiter Vorsicht geboten
Die Entscheidung des LAG Nürnberg ist aus unserer Sicht richtig und zu begrüßen. Unter konsequenter Anwendung geltenden Rechts wird der Fall einer letztlich sachgerechten Lösung zugeführt. Denn eine KG ist nach geltendem Recht kein mitbestimmungsfähiger Rechtsträger, und ein Anspruch auf Bildung eines mitbestimmten Aufsichtsrats besteht unter bestimmten Voraussetzungen nur in der Komplementärgesellschaft, wenn diese ein nach § 1 MitbestG mitbestimmungsfähiger Rechtsträger ist. Dies ist bei der SE nicht der Fall, denn für sie gilt ein eigenes, auf EU-Recht basierendes Mitbestimmungsregime.
Es bleibt abzuwarten, ob die Entscheidung des LAG Nürnberg höchstrichterlich bestätigt wird. Bis dahin bestehen für die Praxis leider weiterhin erhebliche Unsicherheiten bei der Verwendung von Vorrats-SEs. Sie ist aus unserer Sicht daher derzeit nur eingeschränkt in bestimmten Konstellationen zu empfehlen.
*Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Um der leichteren Lesbarkeit willen wird im Beitrag die grammatikalisch männliche Form verwendet.