LG Frankfurt: Im Ausland beschäftigten Arbeitnehmer müssen bei der Ermittlung der Schwellenwerte zur Bildung eines Aufsichtsrats berücksichtigt werden.
Zwei einander diametral entgegengesetzte aktuelle Entscheidungen des LG Berlin einerseits und des LG Frankfurt a.M. andererseits lassen die Diskussion zum deutschen Mitbestimmungsrecht wiederaufleben. Es geht um eine vermeintlich längst entschiedene Frage: Reicht der Arm der deutschen Mitbestimmung auch ins Ausland? Für ausländische Investoren, die nach Deutschland expandieren wollen, ist daher besondere Vorsicht vor einem Unternehmenserwerb und insbesondere eine gründliche arbeitsrechtliche Due Diligence zu empfehlen.
Einleitung – das deutsche Mitbestimmungsrecht
Von anderen Ländern der Welt abweichend vermittelt das deutsche Recht den Arbeitnehmern unter bestimmten Voraussetzungen ein hohes Maß an unternehmerischer (und nicht nur betrieblicher) Mitbestimmung.
Im Grundsatz gilt: Wenn eine deutsche Kapitalgesellschaft mehr als 500 Arbeitnehmern beschäftigt, hat sie einen Aufsichtsrat zu bilden, der zu einem Drittel mit Arbeitnehmervertretern besetzt ist. Beschäftigt eine deutsche Kapitalgesellschaft mehr als 2.000 Arbeitnehmer, muss der Aufsichtsrat sogar paritätisch, d. h. zur Hälfte, mit Arbeitnehmervertretern besetzt werden. Solche Aufsichtsräte, gleich ob zu einem Drittel oder zur Hälfte mitbestimmt, überwachen die Geschäftsführung, sind zuständig für die Bestellung und Abberufung von Vorständen bzw. Geschäftsführern und haben den Jahresabschluss der Gesellschaft zu billigen.
Die Aufsichtsräte haben somit ein weitgehendes Einflussnahmerecht in Bezug auf die Geschicke des mitbestimmten Unternehmens, das weit über die Möglichkeiten betrieblicher Mitbestimmung hinausgeht, wie sie im Ausland üblich ist und die in Deutschland neben die unternehmerische Mitbestimmung tritt.
Bisherige Auffassung: keine Berücksichtigung im Ausland beschäftigter Arbeitnehmer
Bislang waren nach einhelliger Ansicht waren in aller Regel nur die im Inland beschäftigten Arbeitnehmer im Rahmen der unternehmerischen Mitbestimmung zu berücksichtigen. Im Ausland beschäftigte Arbeitnehmer (gleich ob bei einem deutschen oder ausländischen Konzernunternehmen angestellt) zählten weder im Rahmen der vorgenannten Schwellenwerte (500/2.000), die für die Pflicht zur Bildung eines mitbestimmten Aufsichtsrats entscheidend sind, noch im Rahmen der Wahl eines solchen Aufsichtsrats. Sie hatten mithin auch kein aktives oder passives Wahlrecht betreffend eines mitbestimmt zu besetzenden Aufsichtsrat.
Hatte somit eine deutsche GmbH beispielsweise 300 in Deutschland beschäftigte Arbeitnehmer und eine 100 %-ige Beteiligung an einer polnischen Tochtergesellschaft, die ihrerseits 300 Arbeitnehmer beschäftigt, allerdings in Polen, so gab es nach bisher einhelliger Auffassung keine Pflicht zur Einrichtung eines mitbestimmten Aufsichtsrats bei der deutschen GmbH, da es für den Schwellenwert von 500 Arbeitnehmern nur auf die in Deutschland beschäftigten Arbeitnehmer ankam und nicht auf die in Polen beschäftigten Arbeitnehmer.
Paukenschlag aus Frankfurt: auch Arbeitnehmer ausländischer Konzernunternehmen sind zu berücksichtigen
Doch dann folgte Anfang 2015 ein Paukenschlag: Das Landgericht Frankfurt a.M. setzte sich von der bislang einhelligen Auffassung ab. In seinem Beschluss vom 16. Februar 2015 (3-16 O 1/2014) entschied es entgegen der ganz herrschenden Meinung, dass auch die im Ausland beschäftigten Arbeitnehmer, vor allem die Arbeitnehmer ausländischer Konzernunternehmen, bei der Ermittlung der Schwellenwerte berücksichtigt werden müssen.
In dem vorgenannten Beispielsfall wären somit der deutschen GmbH mit ihren 300 eigenen Mitarbeitern die in Polen beschäftigten weiteren 300 Arbeitnehmer zuzurechnen, wodurch ‑ unterstellt die allgemeinen Voraussetzungen für die Zurechnung von Mitarbeitern aus Tochtergesellschaften nach dem Drittelbeteiligungsgesetz wären gegeben ‑ der Schwellenwert von 500 Arbeitnehmern in Bezug auf die deutsche GmbH überschritten wäre (300 + 300 = 600). Folge: bei der deutschen GmbH wäre ein zu einem Drittel mit Arbeitnehmern besetzter Aufsichtsrat einzurichten, zu dem sowohl die polnischen als auch die deutschen Arbeitnehmer aktiv und passiv wahlberechtigt wären.
Dies hat bei Experten zum Mitbestimmungsrecht zu Aufruhr geführt, zumal sich in der Praxis wohl kaum ein Unternehmen in Deutschland nach dieser Linie ausgerichtet hat. Im Gegenteil: vielmehr wird wohl nach wie vor durchgängig davon ausgegangen, dass nur im Inland beschäftigte Arbeitnehmer im Rahmen der unternehmerischen Mitbestimmung zu berücksichtigen seien.
Würde sich die hiervon abweichende Auffassung des LG Frankfurt a.M. durchsetzen, so müsste praktisch jedes deutsche Unternehmen in der Rechtsform einer Kapitalgesellschaft mit im Ausland beschäftigten Mitarbeitern (gleich ob eigenen oder solchen, die in Tochtergesellschaften beschäftigt sind) erneut prüfen, ob und wie es nach den oben genannten Grundsätzen mitbestimmungspflichtig ist.
LG Berlin: nur auf in Deutschland beschäftigte Arbeitnehmer kommt es an
Der Beschluss des LG Frankfurt a.M. ist nicht rechtskräftig, hiergegen wurden Rechtsmittel eingelegt. Damit liegt diese kontroverse Entscheidung zur Überprüfung in der nächsten Instanz und es bleibt abzuwarten, ob diese Entscheidung Bestand haben wird. Viel spricht dafür, und das ist die überwiegende Einschätzung unter Mitbestimmungsexperten, dass der Beschluss bei nächster Gelegenheit aufgehoben und damit praktisch wieder kassiert wird.
Erfreulicherweise liegt darüber hinaus nun ein jüngerer Beschluss eines anderen Landgerichts vor, der sich mit derselben Frage beschäftigt und sich nicht dem „Paukenschlag″ aus Frankfurt anschloss. Diese jüngere Entscheidung des LG Berlin bekräftigt vielmehr die traditionelle Linie, wonach es nur auf in Deutschland beschäftigte Arbeitnehmer ankommt. Das LG Berlin begründet dies in seinem Beschluss vom 1. Juni 2015 (102 O 65/14) mit dem Territorialitätsprinzip und verneint auch einen Verstoß gegen die EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit oder sonstiges Unionsrecht.
Damit bleibt die Entscheidung des LG Frankfurt a.M., die sich von der bislang einhelligen Ansicht absetzt, vereinzelt. Zwar gibt es zu der Frage auch noch keine höchstrichterliche Entscheidung, aber gerade das zeigt, dass es wegen der bislang ganz herrschenden Ansicht hierzu keinen Klärungsbedarf gab. Sollte der Beschluss des LG Frankfurt a.M. in der Folgeinstanz kassiert werden, dürfte weiterer Klärungsbedarf auch wieder entfallen.
Fazit und Handlungsempfehlung:
Der Entscheidung des LG Berlin ist sowohl im Ergebnis als auch in der Begründung zuzustimmen. Sie vermittelt ein Stück weit Rechtssicherheit, die durch die Entscheidung des LG Frankfurt a.M. kurzfristig ins Wanken geraten ist.
Es bleibt zu hoffen, dass dieser „Paukenschlag″ aus Frankfurt ohnehin in der nächsten Instanz aufgehoben und daher keinen Bestand haben wird. Bis dahin gilt, die Rechtslage bis auf weiteres besonders sorgfältig im Blick zu behalten.