Das BVerfG hat entschieden, dass eine einstweilige Verfügung nur ergehen darf, wenn der Antragsgegner vorher zum gesamten erheblichen Vortrag gehört wurde.
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat Anfang Juni 2020 (erneut) entschieden, dass eine einstweilige Verfügung in einem äußerungsrechtlichen Eilverfahren nur dann ergehen darf, wenn vorher der Antragsgegner die Möglichkeit hatte, zum gesamten entscheidungserheblichen Vortrag des Antragsstellers Stellung zu nehmen. Dies ist erforderlich, um die sog. „prozessuale Waffengleichheit″ zwischen dem Antragssteller und dem Antragsgegner sicherzustellen, die jedermann im Rahmen des grundgesetzlichen Rechts auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) zusteht.
Konkreter Fall: Polizeigewerkschaft ließ anderer Polizeigewerkschaft Äußerung untersagen
Anlass der Entscheidung des BVerfG war eine Streitigkeit zwischen zwei Polizeigewerkschaften über die Modalitäten der Durchführung von Personalratswahlen bei der Bundespolizei. Während die spätere Antragsgegnerin aufgrund der gegenwärtigen COVID-19 Pandemie die Verschiebung des Wahltermins favorisierte, hielt der Hauptwahlvorstand am ursprünglichen Wahltermin fest. Daraufhin veröffentlichte die spätere Antragsgegnerin einen Beitrag auf ihrer Webseite unter der Überschrift
Ohne Rücksicht auf Verluste – DPolG und BdK fassungslos! GdP-geführter Hauptwahlvorstand hält am Wahltermin fest und vergibt große Chance!
Diese Äußerung hielt die spätere Antragstellerin für eine falsche Tatsachenbehauptung. Sie war der Auffassung, dass eine Wahlverschiebung rechtlich gar nicht möglich sei und es im Übrigen auch falsch sei, dass der Hauptwahlvorstand allein von der GdP geführt werde. Sie ließ daher die spätere Antragsgegnerin anwaltlich abmahnen. Nach Zurückweisung der Abmahnung beantragte sie vorerst erfolgreich den Erlass einer einstweiligen Verfügung, welche der Antragsgegnerin untersagte, ihre Äußerung zu wiederholen. Dagegen wandte sich die Antragsgegnerin mit einer Verfassungsbeschwerde. Sie sah ihr Recht auf rechtliches Gehör verletzt, da das Landgericht die einstweilige Verfügung erlassen hatte, ohne sie vorher anzuhören.
BVerfG erkennt Verstoß gegen das Recht auf prozessuale Waffengleichheit
Auf die Verfassungsbeschwerde der Antragsgegnerin hin setzte BVerfG die einstweilige Verfügung des Landgerichts außer Kraft und folgte der Argumentation der Antragsgegnerin und Beschwerdeführerin, dass sie durch die fehlende Anhörung in ihrem Recht auf rechtliches Gehör verletzt sei.
Das BVerfG bezog sich dabei auf seine bisherige Rechtsprechung zur prozessualen Waffengleichheit (Entscheidung vom 30.09.2018, Az. 1 BvR 1783/17) und begründet seine Entscheidung wie folgt: Das Recht auf rechtliches Gehör und der allgemeine rechtsstaatliche Gleichheitsgrundsatz erfordern, dass eine gerichtliche Entscheidung nur dann ergehen darf, wenn sich beide Parteien im Verfahren zu allen entscheidungserheblichen Fragen äußern und insbesondere auf den gesamten Vortrag der anderen Partei eingehen konnten. Dieses Recht der Antragsgegnerin verletzte das Landgericht im vorliegenden Fall, indem es die einstweilige Verfügung erließ, ohne der Antragsgegnerin die Möglichkeit einzuräumen, zum gesamten Vorbringen der Antragstellerin Stellung zu nehmen. Zwar hatte die Antragsgegnerin bereits auf die Abmahnung der späteren Antragstellerin erwidert und sogar eine Schutzschrift hinterlegt, jedoch reiche dies allein nicht aus, um die prozessuale Waffengleichheit zu wahren.
Recht auf prozessuale Waffengleichheit ist weit auszulegen und kann nur in wenigen Ausnahmefällen beschränkt werden, wenn überwiegende andere Rechte dies erfordern
Die Entscheidung des BVerfG ist nicht überraschend. Besondere Bedeutung hat sie jedoch insofern, als sie (erneut) einen klaren Maßstab für die Durchführung des einstweiligen Verfügungsverfahrens vorgibt.
So erlaubt das deutsche Prozessrecht grundsätzlich, dass Gerichte eine einstweilige Verfügung in dringenden Fällen im Beschlusswege erlassen können, ohne vorher eine mündliche Verhandlung durchzuführen (§ 937 Abs. 2 ZPO). Dieses Verfahren dient dazu, in dringenden Fällen eine effektive Rechtschutzmöglichkeit zur Verfügung zu stellen, ohne zunächst ein langwieriges Verfahren durchlaufen zu müssen. In diesem Fall nimmt die deutsche Zivilprozessordnung also eine begrenzte Einschränkung der prozessualen Waffengleichheit in Kauf, um in dringenden Fällen zumindest einstweilig einen effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten. Der Antragsgegner erlangt in diesem Fall – abgesehen von der mittlerweile im Regelfall erforderlichen vorprozessualen Abmahnung – rechtliches Gehör erst im Rahmen eines Rechtsbehelfs gegen die einstweilige Entscheidung.
In seiner Entscheidung stellt das BVerfG klar, dass die Möglichkeit der Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nach § 937 Abs. 2 ZPO nicht zugleich bedeutet, dass dem Antragsgegner gar keine Möglichkeit zur Stellungnahme gewährt werden braucht. Auch ohne mündliche Verhandlung muss das Gericht Maßnahmen ergreifen, um die prozessuale Waffengleichheit in bestmöglicher Weise mit einem effektiven Rechtsschutz in Einklang zu bringen. Mindestens ist dem Antragsgegner der Verfügungsantrag zur Stellungnahme zuzuleiten. Die Fristen dürfen in diesem Fall kurz bemessen sein. Ein gänzlicher Verzicht auf die Beteiligung des Antragsgegners ist jedoch nur in Ausnahmefällen möglich, wenn eine Anhörung den Zweck der einstweiligen Verfügung vereiteln würde.
Vorprozessuale Abmahnung bzw. hinterlegte Schutzschrift reichen nicht immer zur Wahrung prozessualer Waffengleichheit aus
In der Praxis geht einer einstweiligen Verfügung – wie im vorliegenden Fall – in der Regel eine Abmahnung voraus. Wenn eine Partei damit rechnet, dass gegen sie eine einstweilige Verfügung beantragt werden könnte, kann sie zudem eine Schutzschrift hinterlegen. Diese ermöglicht es, die Rechtsauffassung des möglichen Antragsgegners dem angerufenen Gericht auch ohne mündliche Verhandlung zur Kenntnis zu bringen.
In seiner Rechtsprechung erkennt das BVerfG an, dass auch eine vorherige Abmahnung bzw. eine Schutzschrift geeignet sein können, die prozessuale Waffengleichheit zwischen Antragsteller und Antragsgegner zu wahren. Dies gilt jedoch nicht mehr, wenn der Antragsteller seine Argumentation im Verfügungsantrag gegenüber der vorherigen Abmahnung ergänzt. Auch wenn er im Verfügungsantrag auf den vorprozessualen Vortrag des Antragsgegners erwidert, muss letzterem erneut Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben werden.
Fazit: Vorgehen im einstweiligen Verfügungsverfahren muss künftig noch präziser geplant werden
Das Urteil des BVerfG ist zu begrüßen. Es stellt nämlich die außerordentliche Bedeutung des rechtlichen Gehörs und der prozessualen Waffengleichheit für die Rechtsstaatlichkeit einer Gerichtsentscheidung fest. Es ist zu erwarten, dass die deutschen Gerichte Antragsgegner vor Erlass einer einstweiligen Verfügung künftig noch häufiger als bisher anhören werden.
Im Umkehrschluss ist jedoch gleichzeitig zu erwarten, dass es für Antragsteller immer schwieriger werden wird, eine einstweilige Verfügung äußerst kurzfristig zu erlangen oder gar einen Überraschungseffekt zu erzielen. In der Praxis kann dies jedoch entscheidend sein, um den Zweck der einstweiligen Verfügung zu erreichen. Insbesondere in Äußerungsangelegenheiten ist oftmals Eile geboten, um die Verbreitung einer Äußerung rechtzeitig zu unterbinden.
Auch wenn die Entscheidung des BVerfG den Erlass einer einstweiligen Verfügung ohne Anhörung des Antragsgegners nicht vollständig ausschließt, zeigt die Entscheidung, dass aus Sicht des Antragstellers künftig noch mehr Sorgfalt auf Abmahnung und Planung des Verfügungsantrags verwandt werden muss, um das Verfahren möglichst nicht durch eine erneute Anhörung des Antragsgegners zu verzögern.