Laut EuGH bleibt den EU-Mitgliedsstaaten Spielraum bei der eigenen Regelung einer Herkunftskennzeichnung von Lebensmitteln – allerdings nur in engen Grenzen.
Jüngst urteilte der EuGH in einer Vorlagesache aus Frankreich, der ein Alleingang des französischen Gesetzgebers bei der Herkunftskennzeichnung von Milch zugrunde lag (Urteil vom 1. Oktober 2020 – C-485/18). Anlass für die Vorlage war eine Nichtigkeitsklage, welche ein großer französischer Milchkonzern gegen ein Dekret der französischen Regierung vor dem Conseil d’État erhoben hatte.
Das angegriffene Dekret enthielt unter anderem verpflichtende Regelungen zur Herkunftskennzeichnung von Milch. Der Kläger machte geltend, dass solche verpflichtenden Herkunftsbezeichnungen gegen Art. 26, 38 und 39 der Lebensmittelinformationsverordnung (EU) Nr. 1169/2011 (LMIV) verstoßen und verlangte die Aufhebung des Dekrets.
Raum für nationale Sonderwege bei der Herkunftskennzeichnung?
Nach der Vorlage des Conseil d’État hatte der EuGH im Wesentlichen die Frage zu beantworten, ob die Vorgaben der LMIV die Mitgliedsstaaten daran hindern, zusätzliche und strengere Herkunftsangaben zu verlangen, als es das europäische Lebensmittelrecht vorsieht. Diese Frage gründet insbesondere auf dem Umstand, dass Art. 26 LMIV nur für bestimmte ausgewählte Produkte und Fallkonstellationen eine Pflicht zur Herkunftskennzeichnung vorsieht (so beispielsweise für bestimmte Fleischsorten oder sogenannte primäre Zutaten).
Vor dem Hintergrund, dass die LMIV eine Vereinheitlichung der Kennzeichnung von Lebensmitteln und eine Stärkung des Binnenmarktes zum Ziel hat (vgl. etwa Erwägungsgründe 2, 9 und 13 der LMIV), liegt es nahe, dass den Mitgliedsstaaten kein oder jedenfalls nur wenig Spielraum bei eigenen Kennzeichnungsvorgaben für Lebensmittel bleibt. In diesem Zusammenhang sind allerdings Art. 38, 39 LMIV zu berücksichtigen. Diese sperren zwar grundsätzlich die einzelstaatliche Gesetzgebungskompetenz hinsichtlich der mit der Verordnung harmonisierten Aspekte (Art. 38 LMIV). Gleichzeitig definiert die LMIV aber auch Anforderungen, unter deren Einhaltung ausnahmsweise auch einzelstaatliche Kennzeichnungsvorgaben möglich sind, die über das Maß der LMIV hinausgehen (Art. 39 LMIV).
EuGH: Nationaler Sonderweg bei Herkunftskennzeichnung nur im Ausnahmefall
Der EuGH macht deutlich, dass nach den vorzitierten Vorschriften durchaus Spielraum für nationale Alleingänge bei der verpflichtenden Herkunftskennzeichnung bleibt. Dieser Spielraum besteht jedoch nur in engen Grenzen. Der EuGH nennt mit Verweis auf Art. 39 LMIV zwei Voraussetzungen:
- es muss nachweislich eine Verbindung zwischen den Qualitäten der Lebensmittel, auf die sich die Regelung bezieht, und deren Herkunft bestehen. Lässt sich eine solche Verbindung belegen, muss
- nachgewiesen werden, dass die Mehrheit der Verbraucher den abverlangten Herkunftsangaben eine wesentliche Bedeutung beimisst.
Als nicht ausreichende Begründungen für nationale Sonderpflichten nennt der EuGH etwaige subjektive Assoziationen, die die Verbraucherschaft zwischen Herkunft und Qualitäten des Lebensmittels herstellt. Eine besondere objektive Qualität, die eine nationale Sonderpflicht rechtfertigen würde, kann nach den Entscheidungsgründen auch nicht in der Transporteignung eines Lebensmittels und dessen fehlender Anfälligkeit gegenüber den Risiken eines unterwegs eintretenden Verderbs liegen.
Mit den letztgenannten Negativbeispielen bezieht sich der EuGH auf die Beweggründe für das französische Dekret, das folglich als unionsrechtswidrig zu qualifizieren ist. Auf Grundlage dieser Ausführungen ist davon auszugehen, dass der klagende Milchkonzern mit seiner Klage in Frankreich Erfolg haben wird.
Hoher Begründungsaufwand für Sonderweg bei Herkunftsangaben für Mitgliedsstaaten
Der EuGH unterstreicht mit seiner Entscheidung, was in Art. 38, 39 LMIV angelegt ist: Bei der Regulierung der Lebensmittelkennzeichnung sind nationale Sonderwege nicht kategorisch ausgeschlossen. Sie stehen allerdings nur dann im Einklang mit dem Unionsrecht, wenn sich eine besondere Notwendigkeit für diese begründen und nachweisen lässt. Eine über die EU-Vorgaben hinausgehende obligatorische Herkunftskennzeichnung wird den nationalen Gesetzgebern künftig einen besonders hohen Begründungsaufwand abverlangen. Das Urteil hat zudem Signalwirkung für alle nationalen Sonderwege im Bereich der Etikettierung von Lebensmitteln.
Mit den hohen Hürden, die der EuGH für nationale Sonderpflichten bei der Lebensmittelkennzeichnung setzt, wird er den grundlegenden Zielrichtungen der LMIV gerecht. Denn im Grundsatz widerstrebt jede nationale Kennzeichnungsvorgabe, die von den europäischen Vorgaben abweicht oder über diese hinausgeht, den grundlegenden Zielen der LMIV: Jeder nationale Abweichung steht einer Vereinheitlichung der Lebensmittelkennzeichnung im Weg und erschwert den grenzüberschreitenden Lebensmittelhandel im Binnenmarkt.
Schutz qualitätsbezogener Herkunftsangaben
Gleichzeitig entspricht die Betonung und das Einfordern eines nachweisbaren Zusammenhangs zwischen Produktqualität und Herkunft den gesetzgeberischen Zielen und der Systematik, die auch dem Registerschutz zugunsten geographischer Angaben (g.g.A.) und Ursprungsbezeichnungen (g.U.) zugrunde liegt. Die Entscheidung steht im Einklang mit dem Ziel des EU-Gesetzgebers, Lebensmittel und das Image ihrer Herkunft insbesondere dann besonders zu schützen, wenn sich deren Herkunft nachweislich in der Produktqualität niederschlägt.