Nach einer Entscheidung des BVerwG lohnt sich ein Blick auf die Abgrenzung von Nahrungsergänzungs- zu Arzneimitteln und deren rechtliche Konsequenzen.
Die richtige Einordnung als Nahrungsergänzungs- oder Arzneimittel ist für Produzenten und Händler in vielerlei Hinsicht weichenstellend: Je nach Einstufung variieren Inhalt und Umfang der Kennzeichnungsvorgaben, die Höhe der Vermarktungshürden, aber auch die Anforderungen an die Produktwerbung.
Wer behördliche Beanstandungen, Mitbewerberklagen und – schlimmstenfalls – einen Produktrückruf vermeiden will, ist daher gut beraten, die entscheidenden Abgrenzungskriterien zu kennen und die aktuelle Rechtsprechung im Blick zu behalten. Ein in diesem Zusammenhang bedeutendes Urteil hat das Bundesverwaltungsgericht Anfang November gefällt (Urteil v. 7. November 2019 – 3 C 19.18).
Nahrungsergänzungs- und Arzneimittel sind legaldefiniert
In der Praxis erweist sich die Differenzierung zwischen Nahrungsergänzungs- und Arzneimitteln als schwieriges Unterfangen. Entsprechend häufig beschäftigen sich Behörden und Gerichte mit der Frage nach der zutreffenden Einordnung eines Produkts.
Die in diesem Zusammenhang bestehenden Schwierigkeiten dürften nicht zuletzt auf eher schwammige Legaldefinitionen zurückzuführen sein. So definiert der Gesetzgeber ein Nahrungsergänzungsmittel in § 1 NemV als
Lebensmittel, das
- dazu bestimmt ist, die allgemeine Ernährung zu ergänzen,
- ein Konzentrat von Nährstoffen oder sonstigen Stoffen mit ernährungsspezifischer oder physiologischer Wirkung allein oder in Zusammensetzung darstellt und
- in dosierter Form, insbesondere in Form von Kapseln, Pastillen, Tabletten, Pillen und anderen ähnlichen Darreichungsformen, Pulverbeuteln, Flüssigampullen, Flaschen mit Tropfeinsätzen und ähnlichen Darreichungsformen von Flüssigkeiten und Pulvern zur Aufnahme in abgemessenen kleinen Mengen, in den Verkehr gebracht wird.
Nicht weniger sperrig fällt die Definition für „Arzneimittel“ in § 2 Abs. 1 AMG aus:
Arzneimittel sind Stoffe oder Zubereitungen aus Stoffen,
- die zur Anwendung im oder am menschlichen oder tierischen Körper bestimmt sind und als Mittel mit Eigenschaften zur Heilung oder Linderung oder zur Verhütung menschlicher oder tierischer Krankheiten oder krankhafter Beschwerden bestimmt sind
- oder die im oder am menschlichen oder tierischen Körper angewendet oder einem Menschen oder einem Tier verabreicht werden können, um entweder
a. die physiologischen Funktionen durch eine pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung wiederherzustellen, zu korrigieren oder zu beeinflussen oder
b. eine medizinische Diagnose zu erstellen.
Abgrenzungskriterien der bisherigen Rechtsprechung
In einer Gesamtschau der Urteile zur Abgrenzung von Nahrungsergänzungsmitteln zu Arzneimitteln lassen sich einige Grundsätze und Kernkriterien für eine richtige Einordnung definieren:
- Die Abgrenzung erfolgt vornehmlich anhand des Arzneimittelbegriffs: Was Arzneimittel ist, kann nicht Lebensmittel und damit nicht Nahrungsergänzungsmittel sein. Diese Prämisse folgt aus einer richtlinienkonformen Auslegung des § 1 Abs. 1 NemV.
- Entscheidende Bedeutung kommt der pharmakologischen Wirkung des Produkts zu: Von einer solchen ist auszugehen, wenn das Produkt die physiologischen Funktionen nachweisbar und in nennenswerter Weise beeinflusst. Eine solche Beeinflussung setzt wiederum voraus, dass die Einnahme des Produkts zu einer erheblichen Veränderung der Funktionsbedingungen des Organismus führt und Wirkungen hervorruft, die außerhalb der normalen im menschlichen Körper ablaufenden Lebensvorgänge liegen. In diesem Fall geht das Produkt eindeutig über eine bloße Ergänzung der Ernährung hinaus, was für die Einordnung als Arzneimittel spricht (vgl. etwa BGH, Urteil v. 10. Februar 2000 – I ZR 97/98; BVerwG, Urteil v. 25. Juli 2007 – 3 C 23/06 m.w.N.).
- Die pharmakologische Wirkung des Produkts muss durch belastbare wissenschaftliche Erkenntnisse belegt sein (KG Berlin, Entscheidung v. 31. August 2009 – 24 U 30/09; BVerwG, Urteil v. 25. Juli 2007 – 3 C 23/06 m.w.N.).
- Ergänzend wird auf die objektive Zweckbestimmung des Produktes abgestellt: Demnach gilt es die Frage zu beantworten, ob das Produkt nach den Modalitäten seines Gebrauchs, nach dem Umfang seiner Verbreitung, nach seiner Bekanntheit bei den Verbrauchern und nach seinen Verwendungsrisiken eher arzneispezifischen oder lebensmittelspezifischen Zwecken dient (vgl. BGH, Urteil v. 26. Juni 2008 – I ZR 61/05; BGH, Urteil v. 1. Juli 2010 – I ZR 19/08; BGH, Urteil v. 14. Januar 2010 – I ZR 67/07; OLG Köln, Urteil v. 11. Dezember 2009 – 6 U 90/09), ob das Produkt also auf eine therapeutische bzw. prophylaktische Wirkweise gerichtet oder eher zur Ergänzung der allgemeinen Ernährung bestimmt ist.
BVerwG: (Auch) Gesundheitsrisiken sind entscheidend
Anfang November hatte sich das Bundesverwaltungsgericht erneut mit der Unterscheidung zwischen Nahrungsergänzungs- und Arzneimitteln auseinanderzusetzen (Urteil v. 7. November 2019 – 3 C 19.18). Streitgegenstand waren Kapseln mit einem Trockenextrakt aus Ginkgo-Blättern.
Die Klägerin – selbst unsicher über die Qualifikation ihres Produkts – ersuchte bereits 2009 das BVL (Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit) um eine Bestätigung der Verkehrsfähigkeit durch den Erlass einer Allgemeinverfügung nach § 54 LFGB. Das Amt lehnte ab und verwies auf die pharmakologische Wirkung des Produkts, die es zu einem Arzneimittel mache. Mit ihrem Widerspruch gegen diese Entscheidung blieb die Klägerin erfolglos, ebenso mit ihrer Klage (VG Braunschweig, Urteil v. 8. August 2012 – 5 A 52/11) und der sich anschließenden Berufung (OVG Niedersachsen, Urteil v. 2. November 2017 – 13 LB 31/14).
Auf die Revision der Klägerin hat das BVerwG nunmehr das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache an das Oberverwaltungsgericht Niedersachsen zurückverwiesen.
Als rechtsfehlerhaft befanden die Leipziger Richter insbesondere die für die Abgrenzung vom OVG angestellte Gesamtbetrachtung: Zwar sei zu Recht davon ausgegangen worden, dass die streitgegenständlichen Ginkgo-Kapseln eine pharmakologische Wirkung haben. Das OVG hatte diesbezüglich unter anderem darauf abgestellt, dass die enthaltenen Inhaltsstoffe in der vorliegenden Dosierung nachweislich zur Steigerung der Gedächtnisleistung und des Lernvermögens führen und die Blutviskosität verringern.
Das Berufungsurteil habe aber rechtsfehlerhaft davon abgesehen, mögliche Gesundheitsrisiken in die Gesamtbetrachtung mit einzubeziehen. Gerade wenn die Auswirkungen eines Produkts auf die physiologischen Funktionen im Grenzbereich zwischen Nahrungsergänzungs- und Arzneimittel lägen, müsse den Verwendungsrisiken ein besonderes Gewicht zukommen. Als Arzneimittel sei ein Produkt nur einzustufen, wenn dies zum Schutz der menschlichen Gesundheit erforderlich sei.
Konsequenzen für die Praxis: Produktspezifische Verwendungs- bzw. Gesundheitsrisiken bewerten und berücksichtigen
Die besondere Betonung der Gesundheits- bzw. Verwendungsrisiken überrascht. Dies insbesondere angesichts der Tatsache, dass dieses Kriterium keine Grundlage im Wortlaut der Legaldefinitionen findet (s.o.) und in der Rechtsprechung bislang – wenn überhaupt – nur beiläufig aufgezählt, nicht aber streitentscheidend angewandt wurde.
Mit dieser neuen Schwerpunktsetzung wird der gesetzgeberische Zweck der Unterscheidung betont und dessen Bedeutung für die Abgrenzung von Nahrungsergänzungs- und Arzneimitteln unterstrichen: Was die menschliche Gesundheit nicht (akut) gefährden kann, muss auch nicht den besonders strengen Marktzugangs- und Kennzeichnungsvorgaben des Arzneimittelrechts unterliegen.
Diesem naheliegenden, aber bislang nur beiläufig aufgeführten Kriterium dürfte künftig ein besonderer Stellenwert bei der behördlichen und gerichtlichen Produktbeurteilung zukommen. Produzenten und Vermarkter sollten sich für die richtige Einstufung ihres Produktes künftig also nicht nur mit dessen pharmakologischer Wirkung auseinandersetzen, sondern insbesondere auch die produktspezifischen Verwendungs- bzw. Gesundheitsrisiken bewerten und berücksichtigen.
Konsequenzen einer (un)zutreffenden Einordnung
Die Tragweite einer (un)zutreffenden Einordnung als Nahrungsergänzungs- oder Arzneimittel wird deutlich, wenn man sich die Vielzahl der mit ihr einhergehenden rechtlichen Weichenstellungen bewusst macht. Denn die richtige Qualifikation entscheidet über Art und Umfang zahlreicher unternehmerischer Pflichten:
Dies gilt bereits mit Blick auf die Marktzugangsvoraussetzungen: Während für Nahrungsergänzungsmittel grundsätzlich ähnlich (niedrige) Zugangshürden gelten wie für Lebensmittel, unterfallen Arzneimittel einem präventiven Verbot mit Erlaubnisvorbehalt. Für das Inverkehrbringen bedarf es einer behördlichen Zulassung (§ 21 Abs. 1 AMG), deren Nichtvorliegen ein Strafverfahren nach sich ziehen kann (§ 95 Abs 1 Nr. 5 AMG). Demgegenüber ist das Inverkehrbringen eines Nahrungsergänzungsmittels lediglich beim BVL (Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit) anzuzeigen und diesem ein Muster des Etiketts vorzulegen (§ 5 NemV).
Ein weiterer wesentlicher Unterschied besteht hinsichtlich der Apothekenpflicht. Im Gegensatz zu Arzneimitteln sind Nahrungsergänzungsmittel frei verkäuflich (§ 43 AMG i.V.m. ApoG).
Auch die Kennzeichnungsvorgaben unterscheiden sich deutlich:
- Für Arzneimitteln sind zahlreiche Pflichtangaben vorgesehen, darunter beispielsweise die Angabe zur Anwendungsart (§ 10 Abs. 1 Nr. 7 AMG) und die Bezeichnung des Arzneimittels, die auch in Blindenschrift auf die Verpackung aufzubringen ist (§ 10 Abs. 1b AMG). Bei Arzneimitteln ist zudem die Beigabe einer Packungsbeilage erforderlich, die u.a. Gesundheitsrisiken für bestimmte Personengruppen, Wechselwirkungspotentiale und die Straßenverkehrstauglichkeit benennen muss (vgl. § 11 AMG und § 3 AMWarnV).
- Demgegenüber muss auf der Verpackung von Nahrungsergänzungsmitteln u.a. die Angabe der empfohlenen täglichen Verzehrmenge (§ 4 Abs. 2 Nr. 2 NemV) und der Hinweis, dass das Produkt nicht als Ersatz für eine ausgewogene und abwechslungsreiche Ernährung dient (§ 4 Abs. 2 Nr. 4 NemV), erscheinen.
- Abweichende Vorgaben gelten auch für die Angabe von Inhaltsstoffen. Während für Arzneimittel die Zusammensetzung nach Wirkstoffen und sonstigen Bestandteilen sowie Gewicht, Volumen und Stückzahl für jede Darreichungsform anzugeben sind (§ 10 Abs. 1 Nr. 6 und 8 AMG), muss sich auf der Verpackung von Nahrungsergänzungsmitteln – ähnlich wie bei Lebensmitteln – ein Zutatenverzeichnis und eine Nährstofftabelle finden (§ 4 Abs. 2 NemV i.V.m. LMIV).
Letztlich fallen auch die Vorgaben für die Produktwerbung nicht einheitlich aus. Hier bestehen für Arzneimittel – anders als für Nahrungsergänzungsmittel – zahlreiche Hinweispflichten, darunter der weithin bekannte Hinweis „Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie die Packungsbeilage und fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker“ (§ 4 Abs. 3 HWG).
Die vorstehenden Beispiele demonstrieren nicht nur, wie unterschiedlich die Vorgaben für Arznei- und Nahrungsergänzungsmittel ausfallen. Sie zeigen vielmehr auch, dass diese Unterschiede auf allen Ebenen der Vermarktung zu finden sind und schon lange vor der Vermarktung relevant werden.