30. April 2024
UPC Zugang Verfahrensdokumente
Patentrecht & Gebrauchsmusterrecht

UPC: Berufungsgericht klärt Fragen des Zugangs der Öffentlichkeit zu bestimmten Verfahrensdokumenten

Nach unterschiedlichen Auslegungen von Regel 262.1 (b) VerfO durch das Gericht erster Instanz hat sich das Berufungsgericht nun erstmals zum Thema geäußert.

In seiner Entscheidung vom 10. April 2024 (UPC_CoA_404/2023, ORD_19369/2024) hat das Berufungsgericht des Einheitlichen Patentgerichts (UPC) über die Voraussetzungen des öffentlichen Zugangs zu Schriftsätzen und Beweismitteln entschieden.

Auf Grundlage der Verfahrensordnung (VerfO) des UPC sind Entscheidungen und Anordnungen des UPC – vorbehaltlich etwaig erforderlicher Schwärzungen, etwa betreffend personenbezogene Daten – stets zu veröffentlichen, vgl. Regel 262.1 (a) VerfO. Das UPC hat für die Veröffentlichung von Entscheidungen und Anordnungen eine eigene Seite auf seiner Website eingerichtet. Schwieriger zu beurteilen ist die Frage, wann die am jeweiligen Verfahren nicht beteiligte Öffentlichkeit Zugang zu Verfahrensdokumenten in Form von Schriftsätzen und Beweismitteln erhält. Regel 262.1 (b) VerfO sieht insoweit vor, dass Schriftsätze und Beweismittel, die beim UPC eingereicht und von der Kanzlei des UPC aufgenommen worden sind, der Öffentlichkeit auf einen an die Kanzlei zu richtenden, begründeten Antrag hin zugänglich zu machen sind. Die Entscheidung der Zugänglichmachung wird dabei vom Berichterstatter* des jeweiligen Spruchkörpers des UPC nach Anhörung der Parteien getroffen. Zu den konkreten Voraussetzungen einer solchen Offenlegung hat sich das Berufungsgericht des UPC nun erstmals geäußert.

Antrag nach Regel 262.1 (b) VerfO bei der nordisch-baltischen Regionalkammer, Begründung und Anträge der Parteien des Verfahrens

In Bezug auf ein Patentverletzungsverfahren vor der nordisch-baltischen Regionalkammer (Überblick über die Standorte des UPC) hatte die Kanzlei des UPC einen Antrag nach Regel 262.1 (b) VerfO erhalten, mit dem der nicht namentlich benannte Antragsteller Zugang zur Klageschrift und allen Entscheidungen der nordisch-baltischen Regionalkammer in diesem Verletzungsverfahren sowie zu den Entscheidungen in den Parallelverfahren vor der Lokalkammer Düsseldorf und der Lokalkammer Mailand begehrte.

Zur Begründung seines Antrags führte der Antragsteller u.a. aus, dass er an der Formulierung der bei der nordisch-baltischen Regionalkammer eingereichten Klage interessiert sei, da sie parallel in Verfahren bei anderen Lokalkammern eingereicht worden sei, und dass er der Ansicht ist, dass ein allgemeines öffentliches Interesse daran bestehe, dass diese Informationen im Zuge der Einführung und Entwicklung des neuen Gerichtssystems der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden und zur Diskussion stehen. 

Die Parteien des Verfahrens erhielten, wie von Regel 262.1 (b) VerfO vorgesehen, Gelegenheit zur Stellungnahme zum Antrag, einschließlich eines möglichen Antrags nach Regel 262.2 VerfO, nach dem eine Partei beantragen kann, dass bestimmte in Schriftsätzen oder Beweismitteln enthaltene Informationen vertraulich zu behandeln sind. Die Klägerin des Verletzungsverfahrens widersprach dem Antrag auf Zugänglichmachung der Klageschrift bzw. der Entscheidungen und beantragte, den Antrag zurückweisen. Zur Begründung führte sie aus, dass sich Regel 262.1 (b) VerfO nur auf „Schriftsätze und Beweismittel“ beziehe. Die Regel beziehe sich gerade nicht auf die Zugänglichmachung von Entscheidungen und Anordnungen. Der Antragsteller müsse wie jeder andere auch auf die Veröffentlichung der Entscheidungen auf der Website warten. Bei Schriftsätzen und Beweismitteln verlange Regel 262.1 (b) VerfO einen „begründeten Antrag“, d.h. es müsse ein konkreter, überprüfbarer und legitimer Grund vorliegen, um die Dokumente einem Mitglied der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Einem Dritten solle es nicht gestattet werden, die sorgfältig und mit nicht unerheblichem Aufwand erstellten Schriftsätze zur Durchsetzung eigener wirtschaftlicher Interessen zu verwenden, und die Klägerin habe keine Möglichkeit zu überprüfen, wie die aus der Überprüfung ihrer Klageschrift gewonnenen Erkenntnisse in der Praxis angewendet werden.

Für den Fall, dass dem Antrag auf Zugang u.a. zur Klageschrift stattgegeben wird, beantragte die Klägerin, dass die Zugänglichmachung der Dokumente an den Antragsteller bis zum Abschluss eines etwaigen Rechtsmittelverfahrens ausgesetzt wird, oder hilfsweise, dass die Dokumente dem Antragsteller erst 21 Tage nach dem Erlass einer Entscheidung bereitgestellt werden, um sicherzustellen, dass die Klägerin genügend Zeit hat, um beim Berufungsgericht die aufschiebende Wirkung gemäß Regel 223 VerfO zu beantragen. Die Beklagten des Verletzungsverfahrens äußerten sich zum Antrag auf Zugänglichmachung nicht. Keine der Parteien stellte einen Geheimnisschutzantrag nach Regel 262.2 VerfO.

Auslegung der Regel 262.1 (b) VerfO durch die nordisch-baltische Regionalkammer

In ihrer Entscheidung vom 17. Oktober 2023 (UPC_CFI_11/2023, ORD_543819/2023) stellt die nordisch-baltische Regionalkammer nach dem Tatbestand zunächst ausführlich den für die Entscheidung relevanten rechtlichen Rahmen dar. Dabei stellt sie zunächst klar, dass nach Art. 10 Abs. 1 S. 3 des Übereinkommens über ein Einheitliches Patentgericht (EPGÜ) das von der Kanzlei geführte Register vorbehaltlich der im EPGÜ festgelegten Bedingungen und der Verfahrensordnung öffentlich ist.

Die nordisch-baltische Regionalkammer wirft sodann die Frage auf, ob sich Art. 10 EPGÜ auch auf den Inhalt des Registers bezieht. Zur Beantwortung dieser Frage zieht die Regionalkammer Art. 45 EPGÜ heran, nach dem die Verhandlungen öffentlich sind, es sei denn, das UPC beschließt, sie – soweit erforderlich – im Interesse einer der Parteien oder sonstiger Betroffener oder im allgemeinen Interesse der Justiz oder der öffentlichen Ordnung unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu führen. Der Anwendungsbereich des Art. 45 EPGÜ sei nicht auf Entscheidungen, Anordnungen oder mündliche Verhandlungen beschränkt, sondern beziehe sich allgemein auf das Verfahren als solches. Daraus folgert die Regionalkammer, dass u.a. auch das schriftliche Verfahren (zu den einzelnen Verfahrensabschnitten s. Art. 52 Abs. 1 EPGÜ) grundsätzlich öffentlich sei, vorbehaltlich etwaiger Einschränkungen im Sinne des Art. 45 EPGÜ. Dieses grundlegende Verständnis sei bei den Anforderungen an den „begründeten Antrag“ nach Regel 262.1 (b) VerfO zu berücksichtigen. Der Begriff sei auch in weiteren Regeln der Verfahrensordnung zu finden, etwa in Regel 9 VerfO, nach der das UPC auf einen begründeten Antrag hin Fristen verkürzen oder verlängern kann. Im Rahmen der Regel 262.1 (b) VerfO sei „begründeter Antrag“ dahin zu verstehen, dass der Antragsteller eine glaubhafte bzw. plausible Erklärung dafür beibringen müsse, weshalb er Zugang zu Schriftsätzen und/oder Beweismitteln begehrt. Diese Auslegung stütze sich auf Art. 45 EPGÜ und stehe im Einklang mit Regel 262.6 VerfO, welche klarstellt, dass das UPC ungeachtet eines möglichen Geheimnisschutzantrags nach Regel 262.2 VerfO dem Antrag auf Zugang zu Schriftsätzen/Beweismitteln grundsätzlich stattgibt, es sei denn, von der betreffenden Partei angeführte berechtigte Gründe für die Vertraulichkeit der Informationen überwiegen das Interesse des Antragstellers am Zugang zu diesen Informationen.

Auf Grundlage dieser Auslegung gewährte die Regionalkammer dem Antragsteller Zugang zur Klageschrift. Ebenso wies die Regionalkammer den Antrag auf Zugang zu Entscheidungen/Anordnungen in den Parallelverfahren mangels Zuständigkeit zurück. Offen lässt die Regionalkammer, ob es grundsätzlich möglich ist, über einen Antrag nach Regel 262.1 (b) VerfO Zugang zu bislang noch nicht veröffentlichten Entscheidungen/Anordnungen des UPC zu erlangen.

Da die Frage des öffentlichen Zugangs zu Dokumenten nach Regel 262.1 (b) VerfO umstritten ist, ordnete die die Regionalkammer an, dass die Klageschrift dem Antragsteller – nach Schwärzung von personenbezogenen Daten im Sinne der DSGVO – erst am 7. November 2023 zur Verfügung gestellt werden solle, um der Klägerin des Verletzungsverfahrens Gelegenheit zur Einlegung der Berufung und zur Beantragung der aufschiebenden Wirkung der Berufung zu geben.

Anwaltliche Vertretung bei einem Antrag nach Regel 262.1 (b) VerfO erforderlich

Die Klägerin des Verletzungsverfahrens legte gegen die Entscheidung der Regionalkammer Berufung ein. Bevor das Berufungsgericht in der Sache (dazu unten) entschied, verhielt es sich in seiner Entscheidung vom 8. Februar 2024 (UPC_CoA_404/2023, App_584498/2023) dazu, ob Antragsteller bei einem Antrag nach Regel 262.1 (b) VerfO (anwaltlich) vertreten sein müssen. Sowohl die Klägerin des Verletzungsverfahrens als auch der Antragsteller argumentierten, dass eine Vertretung nicht erforderlich sei, da der Antragsteller keine „Partei“ des Verfahrens im Sinne des Art. 48 Abs. 1, Abs. 2 EPGÜ bzw. Regel 8.1 VerfO sei. Das Berufungsgericht hingegen ist der Ansicht, dass auch der Antragsteller eines Antrags nach Regel 262.1 (b) VerfO „Partei“ im Sinne der Regel 8.1 VerfO sei. Dies ergebe sich u.a. daraus, dass Regel 8.1 VerfO nur Antragsteller von Opt-Out-Anträgen, von Anträgen auf Aufhebung oder Abänderung einer Entscheidung des Europäischen Patentamts (EPA) und von Anträgen auf Prozesskostenhilfe explizit und abschließend vom Vertretungserfordernis ausnehme, woraus im Umkehrschluss folge, dass für Antragsteller in allen anderen Verfahren das Vertretungserfordernis gelte. Das Vertretungserfordernis stelle für den Antragsteller auch keine unbillige Härte dar, da es nur im Eigeninteresse des Antragstellers liege, sich mit Hilfe eines Vertreters vor möglichen Konsequenzen von Prozesshandlungen zu schützen. Dementsprechend gab das Berufungsgericht dem Antragsteller auf, binnen 14 Tagen einen Vertreter zu benennen bzw. zu bestellen und im selben Zeitraum eine Berufungserwiderung einzureichen.

Auslegung der Regel 262.1 (b) VerfO durch das Berufungsgericht

In seiner Entscheidung vom 10. April 2024 weist das Berufungsgericht die Berufung zurück. Zunächst stellt das Berufungsgericht fest, dass es in Fragen nicht-technischer Natur – wie hier – in einer Besetzung von drei rechtlich qualifizierten Richtern ohne die Mitwirkung von technisch qualifizierten Richtern entscheiden kann. Hinsichtlich des Zugangs zu Dokumenten stellt das Berufungsgericht fest, dass aus Art. 10 und Art. 45 EPGÜ der allgemeine Grundsatz folge, dass sowohl das Register als auch die Verfahren öffentlich sind, es sei denn, die Abwägung der betroffenen Interessen ergibt, dass die in das Verfahren eingeführten Informationen vertraulich zu behandeln sind. Abzuwägen seien bei einem Antrag nach Regel 262.1 (b) VerfO das Interesse des Antragstellers auf Zugang zu den beantragten Dokumenten auf der einen Seite und das Interesse der Partei(en) des Verfahrens auf Schutz von vertraulichen Informationen und personenbezogenen Daten auf der anderen Seite. Auch das allgemeine Interesse der Justiz und der öffentlichen Ordnung müsse berücksichtigt werden. Zum allgemeinen Interesse der Justiz gehöre der Schutz der Integrität der Verfahren. Die öffentliche Ordnung sei etwa dann betroffen, wenn ein Antrag nach Regel 262.1 (b) VerfO missbräuchlich ist oder Sicherheitsinteressen auf dem Spiel stehen. Um dem über den Antrag entscheidenden Berichterstatter eine Interessenabwägung zu ermöglichen, müsse der Antrag nach Regel 262.1 (b) VerfO begründet werden. Nach dem Berufungsgericht ermögliche der öffentliche Zugang zu Dokumenten u.a. die Kontrolle des UPC durch die Öffentlichkeit, was wichtig sei für die Vertrauensbildung in das UPC. Dieses allgemeine Interesse der Öffentlichkeit bestehe regelmäßig insbesondere, nachdem eine Entscheidung durch das UPC erlassen wurde, da die Vorgehensweise und der Entscheidungsfindungsprozess des UPC anhand der getroffenen Entscheidung nachvollzogen werden könne. Der Schutz der Integrität des Verfahrens spiele regelmäßig nur so lange eine Rolle, bis das Verfahren abgeschlossen ist, sei es durch eine Entscheidung des UPC oder durch anderweitige Beendigung, z.B. durch Rücknahme der Klage. Sofern der Schutz der Integrität des Verfahrens keine Rolle mehr spielt, sei der Zugang zu Verfahrensdokumenten – vorbehaltlich etwaiger Schwärzungen – regelmäßig zu gewähren.

Ungeachtet der Situation der Verfahrensbeendigung kann ein Antragsteller nach dem Berufungsgericht auch ein spezifisches Interesse am Zugang zu den Schriftsätzen und Beweismitteln eines bestimmten Verfahrens haben. Dies sei insbesondere dann der Fall, wenn er ein unmittelbares Interesse am Streitgegenstand hat, wie z.B. am Rechtsbestand eines Patents, von dem er auch als Wettbewerber oder Lizenznehmer betroffen ist, oder wenn der Antragsteller ein ähnliches oder identisches (vermeintliches) Verletzungsprodukt benutzt oder zu benutzen beabsichtigt wie die beklagte Partei eines Patentverletzungsverfahrens vor dem UPC. Wenn ein Mitglied der Öffentlichkeit ein solches unmittelbares berechtigtes Interesse an dem Gegenstand eines bestimmten Verfahrens hat, entstehe dieses Interesse nicht erst nach Abschluss des Verfahrens, sondern könne auch während des laufenden Verfahrens gegeben sein.

Schließlich stellt das Berufungsgericht klar, dass auch bei Gewährung des Zugangs zu Schriftsätzen/Beweismitteln das UPC zum Zweck eines angemessenen Schutzes der Integrität des Verfahrens die Gewährung des Zugangs von bestimmten Bedingungen abhängig machen kann, wie etwa der Verpflichtung des Antragstellers, die Schriftsätze und Beweismittel, zu denen ihm Zugang gewährt wurde, vertraulich zu behandeln, solange das Verfahren nicht abgeschlossen ist.

Auslegung der Regel 262.1 (b) VerfO durch die Zentralkammer des UPC

Vor der Entscheidung des Berufungsgerichts hatte im März 2024 bereits die Zentralkammer (Paris) des Gerichts erster Instanz entschieden (UPC_CFI_262/2023, ORD_7460/2024), dass nach Regel 262.1 (b) VerfO Einsicht nur in Schriftsätze und Beweismittel gewährt werden könne, nicht auch in andere Verfahrensdokumente, die etwa die Kommunikation zwischen der Kanzlei und den Verfahrensparteien betreffen. Ebenso hatte bereits im September 2023 die Zentralkammer (Abteilung München) entschieden (UPC_CFI_75/2023, ORD_552745/2023) und sich in dieser Entscheidung auch zur Auslegung des „begründeten Antrags“ geäußert.

Zunahme von Geheimnisschutzanträgen nach der Entscheidung des Berufungsgerichts zu erwarten

Durch seine Entscheidung hat das Berufungsgericht die Position der Öffentlichkeit auf Zugang zu Schriftsätzen und Beweismitteln auch im Rahmen von noch nicht abgeschlossenen Verfahren gestärkt. Parteien der Verfahren und ihre Vertreter sind daher gut beraten, spätestens beim Eingang eines Antrags nach Regel 262.1 (b) VerfO geheimhaltungsbedürftige Informationen in Schriftsätzen und/oder Beweismitteln durch entsprechende Anträge vor dem (ggf. unerwünschten) Zugriff der Öffentlichkeit zu schützen. Es bleibt abzuwarten, wie das UPC konkret mit Anträgen auf Zugang zu Schriftsätzen/Beweismitteln in noch laufenden Verfahren umgehen bzw. diese bescheiden wird. Hier dürfte die Darlegung eines bloß allgemeinen Interesses auf Zugang voraussichtlich nicht ausreichen. Es ist ein spezifisches bzw. besonderes Interesse darzulegen, wie beispielsweise die eigene Betroffenheit im Hinblick auf das streitgegenständliche Patent.

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* Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Um der leichteren Lesbarkeit willen wird im Beitrag die grammatikalisch männliche Form verwendet.

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