Zwei kürzlich veröffentlichte Entscheidungen könnten den Weg für noch mehr Verfahren vor dem UPC ebnen.
Die Anreize kommen aus völlig verschiedenen Richtungen: Im Verfahren AIM Sport vs. Supponor Oy u.a. hatte das Berufungsgericht des Einheitlichen Patentgerichts (Unified Patent Court, UPC) zu entscheiden, ob eine bereits vor dem Inkrafttreten des Übereinkommens über ein Einheitliches Patentgericht (EPGÜ) am 1. Juni 2023 erhobene, nationale Klage die Möglichkeit ausschließt, ein europäisches Patent, das der Patentinhaber der ausschließlichen Zuständigkeit des UPC entzogen hat (sog. „Opt-Out“), dieser wieder zuzuführen (sog. „Opt-In“). Das erstinstanzliche Gericht (Lokalkammer Helsinki) hatte dem Patentinhaber diese Möglichkeit in seiner Entscheidung vom 20. Oktober 2023(UPC_CFI_314/2023, ORD_581208/2023) noch verwehrt und die Zuständigkeit des UPC entsprechend verneint.
Das weitere Verfahren, das vor der Lokalkammer München anhängig war, betrifft u.a. die Frage, ob das UPC für Verletzungshandlungen, die vor dem Inkrafttreten des EPGÜ erfolgten, zuständig ist.
Opt-In trotz nationaler Klage zulässig
Kurz zum Sachverhalt: Bereits im Jahr 2020 hatte die Patentinhaberin (AIM Sport Vision AG) aus dem Klagepatent (EP 3 295 663 B1) eine Verletzungsklage vor dem LG München erhoben. Die Beklagten in diesem Verfahren reagierten mit einer Nichtigkeitsklage vor dem Bundespatentgericht (BPatG). Sowohl das Verletzungs- als auch das Nichtigkeitsverfahren waren am 1. Juni 2023 noch anhängig. Für das Klagepatent wurde am 12. Mai 2023 – während der sog. „Sunrise Period“ – der Opt-Out erklärt. Dieser wurde nach Regel 5.12 der Verfahrensordnung des UPC (VerfO) am 1. Juni 2023 im entsprechenden Register eingetragen. Am 5. Juli 2023 widerrief die Patentinhaberin den Opt-Out und erhob am selben Tag eine Verletzungsklage nach Art. 32 Abs. 1 lit. a) EPGÜ und eine Klage auf Erlass einstweiliger Maßnahmen nach Art. 32 Abs. 1 lit. c) EPGÜ bei der Lokalkammer Helsinki gegen Supponor Oy u.a. Die Beklagten waren der Ansicht, der Rücktritt vom Opt-Out sei aufgrund der nach wie vor anhängigen deutschen Verletzungs- bzw. Nichtigkeitsklage nicht wirksam.
Wie bereits skizziert, ist die Lokalkammer Helsinki dieser Ansicht beigetreten und hat die Klagen mangels Zuständigkeit des UPC abgewiesen. Streitentscheidend war die Auslegung von Art. 83 Abs. 4 EPGÜ und Regel 5.8 VerfO.
Art. 83 Abs. 4 Satz 1 EPGÜ lautet:
Sofern noch keine Klage vor einem nationalen Gericht erhoben worden ist, können Inhaber oder Anmelder europäischer Patente […], die die Ausnahmeregelung nach Absatz 3 in Anspruch genommen haben, jederzeit von dieser Ausnahmeregelung zurücktreten.
Regel 5.8 VerfO regelt ergänzend:
Wurde in Bezug auf ein Patent oder eine Anmeldung, das bzw. die Gegenstand eines Antrags auf Rücktritt ist, vor der Eintragung des Antrags in das Register oder zu einem dem Zeitpunkt nach Absatz 5 vorausgehenden Zeitpunkt in einer Angelegenheit, für die nach Artikel 32 des Übereinkommens auch das Gericht zuständig ist, Klage vor einem Gericht eines Vertragsmitgliedstaats erhoben, ist der Antrag auf Rücktritt in Bezug auf das betreffende Patent bzw. die betreffende Anmeldung unwirksam, unabhängig davon, ob die Klage noch anhängig ist oder abgeschlossen wurde.
Nach der Lokalkammer Helsinki seien diese beiden Vorschriften dahin auszulegen, dass sie auch nationale Klagen erfassen, die vor dem Inkrafttreten des EPGÜ am 1. Juni 2023 erhoben wurden. Weder Art. 83 Abs. 4 EPGÜ noch Regel 5.8 VerfO enthielten Regelungen über das Datum, welches für die Erhebung der nationalen Klage relevant ist. Dieser Auslegung stehe auch nicht Art. 28 der Wiener Vertragsrechtskonvention (WVRK) entgegen, der die Nichtrückwirkung von (internationalen) Verträgen regelt. Denn Teile des EPGÜ seien durch das Protokoll über die vorläufige Anwendbarkeit des EPGÜ bereits seit 2022 vorläufig anwendbar gewesen, weshalb der Patentinhaberin bereits bei der Erklärung des Opt-Out die Regelung des Art. 83 Abs. 4 EPGÜ bekannt gewesen sein müsse.
Nach dem Berufungsgericht hingegen erfasse der Begriff der „Klage vor einem nationalen Gericht“ des Art. 83 Abs. 4 EPGÜ nur solche nationalen Klagen, die während der siebenjährigen Übergangszeit nach dem Inkrafttreten des EPGÜ am 1. Juni 2023 nach Art. 83 Abs. 1 EPGÜ erhoben wurden. Diese ergebe eine Auslegung nach Ziel und Zweck des gesamten Art. 83 EPGÜ, der mit „Übergangsregelung“ überschrieben ist. Eine Auslegung nach Ziel und Zweck sei bereits aufgrund des Art. 31 Abs. 1 WVRK („Allgemeine Auslegungsregel“) geboten.
Der Begriff der „Klage“ in Art. 83 Abs. 1 EPGÜ, der die parallele Zuständigkeit zwischen UPC und nationalen Gerichten für einen Übergangszeitraum von (mindestens) sieben Jahren regelt, beziehe sich nur auf solche Klagen, die während der Übergangszeit vor nationalen Gerichten erhoben wurden. Dies ergebe sich bereits aus dem Wortlaut am Ende des Art. 83 Abs. 1 EPGÜ, nach dem Klagen während der Übergangzeit „weiterhin“ vor nationalen Gerichten „erhoben werden“ können. Der Wortlaut des Art. 83 Abs. 1 EPGÜ spreche gerade nicht von nationalen Klagen, die „anhängig bleiben“.
Art. 83 Abs. 2 EPGÜ stelle klar, dass nationale Klagen, die außerhalb der parallelen Zuständigkeit zwischen UPC und nationalen Gerichten – also vor dem Inkrafttreten des EPGÜ – erhoben wurden, vom Ende der parallelen Zuständigkeit unberührt blieben. Deshalb sei der Begriff der „Klage“ in Art. 83 EPGÜ einheitlich dahin auszulegen, dass damit nur solche Klagen gemeint sind, die nach dem Inkrafttreten des EPGÜ erhoben wurden. Dieses Verständnis entspreche auch dem Ziel des Art. 83 Abs. 3 und Abs. 4 EPGÜ, der durch die Beschränkungen beim Opt-Out bzw. Opt-In einem Missbrauch des UPC-Systems durch einen willkürlich herbeigeführten Zuständigkeitswechsel vorbeugen wolle. Ein Missbrauch des UPC-Systems sei indes vor dem Inkrafttreten des EPGÜ gar nicht möglich (gewesen).
Ferner stellt das Berufungsgericht klar, dass sich der Begriff der „Klage“ nicht nur auf Verletzungs- und Nichtigkeitsklagen beziehe, sondern auf alle Klagearten, die in Art. 32 Abs. 1 EPGÜ genannt sind und damit etwa auch auf Klagen auf Erlass einstweiliger Maßnahmen.
Lokalkammer München: UPC auch für Verletzungshandlungen vor dem Inkrafttreten des EPGÜ zuständig
In der (Hauptsache-)Entscheidung vom 15. November 2024 (UPC_CFI_15/2023, ORD_598479/2023) betreffend das EP 3 646 825 B1 im Rechtsstreit zwischen der Edwards Lifesciences Corporation und der Meril GmbH u.a. hat die Lokalkammer München festgestellt, dass das UPC auch für Verletzungshandlungen zuständig ist, die vor dem Inkrafttreten des EPGÜ begangen wurden. Dies ergebe sich aus Art. 3 lit. c) und Art. 32 Abs. 1 lit. a) EPGÜ sowie in Ermangelung etwaiger entgegenstehender Übergangsregelungen. Wollte man dies anders sehen, ergebe sich nach dem Ende der Übergangszeit bzw. der parallelen Zuständigkeit zwischen UPC und nationalen Gerichte eine eklatante Zuständigkeits- und Rechtsschutzlücke, da dann kein Gericht mehr für Verletzungshandlungen betreffend europäische Patente vor dem 1. Juni 2023 zuständig wäre.
Praktische Konsequenzen der Anordnungen
Die Anordnung des Berufungsgerichts lässt diejenigen Pateninhaber aufatmen, die ihre – ggf. voreilig getroffene – Opt-Out-Entscheidung rückgängig machen wollen, sich daran bislang aber aufgrund der Anordnung der Lokalkammer Helsinki gehindert sahen. Die Anzahl der betroffenen europäischen Patente dürfte nicht zu unterschätzen sein.
Auch die Entscheidung der Lokalkammer München positioniert sich klar „pro UPC“ und bestärkt potenzielle Kläger darin, auch für Verletzungshandlungen vor dem Inkrafttreten des EPGÜ das UPC zu bemühen.