Erleichterte Darlegung der Zahlungsunfähigkeit: die bei Haftungsklagen geforderte Liquiditätsbilanz kann nunmehr auch durch andere Mittel ersetzt werden.
Der BGH hat erstmals bestätigt (Urteil v. 28. Juni 2022 – II ZR 112/21), dass die Darlegung der Zahlungsunfähigkeit durch den Insolvenzverwalter* auch ohne die Aufstellung einer Liquiditätsbilanz erfolgen kann („kann auch mit anderen Mitteln dargelegt werden“). Insolvenzverwalter können nun in Haftungsprozessen gegenüber Geschäftsführern eine Zahlungsunfähigkeit etwas einfacher darstellen. Umgekehrt bedeutet das Urteil für Geschäftsführer, dass sich die Risiken einer persönlichen Haftung aus der Insolvenzverschleppungshaftung erhöhen.
Die 10 %-Schwelle bleibt, die Liquiditätsbilanz kann durch Liquiditätsstatus ersetzt werden
In dem zugrundeliegenden Sachverhalt war Kläger der Insolvenzverwalter einer GmbH, der den Geschäftsführer für Zahlungen nach Eintritt der Insolvenzreife (seinerzeit noch nach § 64 S. 1 GmbHG a.F., nunmehr § 15b Abs. 1, 4 InsO) in Anspruch nahm.
Dafür nutzte der Insolvenzverwalter für die Darlegung der Zahlungsunfähigkeit nicht eine bislang geforderte Liquiditätsbilanz, d.h. eine Gegenüberstellung der zum Stichtag fälligen Verbindlichkeiten und liquiden Mittel unter Einbezug der in den nächsten drei Wochen planerisch zu erwartenden Liquidität und der in dieser Zeit fällig werdenden Verbindlichkeiten. Vielmehr stellte der Insolvenzverwalter einen zeitraumbezogenen Liquiditätsstatus auf. Hierfür legte er zum Stichtag einen Liquiditätsstatus mit einer erheblichen, d.h. den Grenzwert von 10 % übersteigenden Unterdeckung vor sowie drei weitere im dreiwöchigen Prognosezeitraum liegende Status, aus denen hervorging, dass die Liquiditätslücke nicht geschlossen werden konnte.
Dem BGH genügte dies, um eine Zahlungsunfähigkeit anzunehmen. Eine im Hinblick auf die Datenbeschaffung und -auswertung deutlich aufwändigere Liquiditätsbilanz verlangte der BGH nicht. Dies könnte die Durchsetzung solcher Ansprüche erheblich erleichtern. Die (weiterhin geltende) 10 %‑Schwelle kann retrospektiv nun einfach jeweils stichtagsbezogen i.H.d. jeweiligen Unterdeckung, bezogen auf die in dem Zeitpunkt fälligen Verbindlichkeiten, errechnet werden.
Für den Insolvenzverwalter ist der Nachweis der Zahlungsunfähigkeit nunmehr viel einfacher zu führen. Gleichzeitig greift auch die 10 %-Schwelle viel früher, weil Nenner und Zähler durch den Volumeneffekt der Liquiditätsbilanz nicht mehr aufgebläht werden. Hat das schuldnerische Unternehmen also bspw. verfügbare Geldmittel von 100 und fällige Verbindlichkeiten von 1.000, besteht eine dramatische Lücke i.H.v. 90 %. Die Liquiditätsbilanz bezieht jedoch auch die fällig werdenden Verbindlichkeiten und die zu erwartende Liquidität der nächsten drei Wochen mit ein: Durch die Hinzunahme von Einzahlungen und weiteren Verbindlichkeiten von bspw. jeweils 10.000 im Zähler und Nenner würde sich die Liquiditätslage nicht verbessern. Rechnerisch hätte sich die prozentuale Unterdeckung jedoch von 90 % auf 8,2 % reduziert. Zahlungsunfähigkeit läge damit am Stichtag folglich nicht vor.
Eine Verlängerung des Betrachtungszeitraums bewirkt also ein größeres Volumen der einzubeziehenden liquiden Mittel und der fälligen Verbindlichkeiten. Dadurch wird eine Deckungslücke automatisch in der Relation kleiner, weil sich die Bezugsgröße vergrößert.
Die einfachere Berechnung gilt auch für den Geschäftsführer und dessen Krisenfrüherkennungssystem, so können Prognosen und Planung entschlackt werden
Die Entscheidung ist eine Erleichterung für zukünftige Haftungsklagen und wird daher die Berufsgruppe der Insolvenzverwalter sicher erfreuen. Und aus Sicht eines Geschäftsführers?
Sicherlich lässt sich die Zahlungsunfähigkeit nunmehr leichter darlegen, wodurch das Risiko wächst, dass Haftungsklagen stattgegeben wird. Umgekehrt gilt natürlich aber auch für den Geschäftsführer, dass dieser sich bei der Prüfung einer fortbestehenden Zahlungsfähigkeit der einfacheren Methode mittels Liquiditätsstatus bedienen kann – bzw. muss! Ein Muss ist von nun an die Aufstellung prognostizierter Liquiditätsstatus für die nächsten drei Wochen in der Finanzplanung. Andernfalls können Geschäftsführer eine böse Überraschung erleben, greift doch aufgrund des Volumeneffektes der Liquiditätsbilanz der Eintritt der Zahlungsunfähigkeit hier meist deutlich später. Wie in dem Beispiel gezeigt, besteht somit die Gefahr, dass sich der Geschäftsführer in trügerischer Sicherheit wiegt, die spätere (rückblickende) Betrachtung auf der Grundlage des BGH-Urteils jedoch zu einem anderen Ergebnis gelangt und eine bereits eingetretene Zahlungsunfähigkeit ausweist. Daher sollte der Geschäftsführer im Rahmen der Krisenfrüherkennung die Liquiditätsstatus als einfaches Instrument nutzen, damit er rechtzeitig (Sanierungs-)Maßnahmen ergreifen oder ggf. den (rechtzeitigen) Insolvenzantrag stellen kann. Freilich entbindet dieses Urteil den Geschäftsführer nicht davon, generell eine sorgfältige und längerfristige Finanzplanung aufzustellen und fortlaufend zu überwachen. Die Anforderungen an Geschäftsführer, sich stets über die wirtschaftliche Lage des von ihnen geführten Unternehmens im Klaren zu sein, sind weiterhin hoch und streng.
Und was, wenn das Kind erst einmal in den Brunnen gefallen ist? Ein Geschäftsführer, der von dem Insolvenzverwalter in Anspruch genommen und dem eine Zahlungsunfähigkeit vorgehalten wird, kann als Gegenbeweis grds. ebenfalls mehrere Liquiditätsstatus heranziehen. Dann muss er substantiiert darlegen, dass an mehreren Tagen innerhalb der drei Wochen ausreichend Zahlungsmittel vorhanden waren, um die fälligen Verbindlichkeiten zu bedienen, und es sich damit lediglich um eine Zahlungsstockung, nicht aber um eine Zahlungsunfähigkeit gehandelt habe. Und nur weil der Insolvenzverwalter sich des Liquiditätsstatus bedient, bedeutet das nicht, dass der Geschäftsführer die Liquiditätsbilanz nicht als Verteidigungsmittel weiterhin nutzen kann. Allerdings würde es einen entsprechend umfangreichen Vortrag brauchen, um überzeugend darzulegen, dass die Liquiditätsbilanz ein realistischeres Bild der wirtschaftlichen Lage des Unternehmens abbildet.
Fazit: Vereinfachte und realistischere Ermittlung der Zahlungsunfähigkeit – für beide Seiten
Mit seiner Entscheidung erleichtert der BGH Insolvenzverwaltern künftig die Darlegung der Zahlungsunfähigkeit, sowohl bei Anfechtungs- als auch bei Haftungsprozessen. Auf den ersten Blick erscheint dies für Geschäftsführer bedrohlich, da es in der Praxis zum Nachweis eines früheren Eintritts der Zahlungsunfähigkeit führen kann. Andererseits schafft der BGH eine weniger komplexe Berechnungsmethode im Vergleich mit der Liquiditätsbilanz, die in der Praxis sowohl für Insolvenzverwalter als auch für Geschäftsführer mit einem deutlich höheren Aufwand verbunden ist. Die taggenaue Gegenüberstellung von Einzahlungen und Auszahlungen gibt außerdem ein realitätstreues Bild der wirtschaftlichen Unternehmenslage für den Geschäftsführer.
Es wäre jedoch äußerst gefährlich, neben regelmäßigen Liquiditätsstatus nicht weiterhin über eine umfassende und längerfristige Finanzplanung zu verfügen, bei der die weitere Entwicklung in der nahen und mittleren Zukunft unter Einbezug von Prognosen in den Blick genommen wird. Mit einer solchen Planung verfügt ein Geschäftsführer über ein wirksames Krisenfrüherkennungssystem – vorausgesetzt, ein solches existiert und wird hinreichend gepflegt. Gerade für kleine Betriebe ohne hinreichende Finanzplanung wird dies nicht immer zutreffen. Hier ergibt sich tatsächlich ein deutlich höheres Risiko für den Geschäftsführer, im Falle einer verspäteten Antragstellung in einem Insolvenzverfahren persönlich in Anspruch genommen zu werden. Für Geschäftsführer dieser Betriebe bleibt letztlich nur der Rat, eine regelmäßige – wenn nicht tägliche – Gegenüberstellung von Einzahlungen und Auszahlungen aufzustellen und anhand dessen zu entscheiden, ob ein Insolvenzantrag gestellt werden muss.
*Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Um der leichteren Lesbarkeit willen wird im Beitrag die grammatikalisch männliche Form verwendet.