Der BGH hat sich mit der Anwendbarkeit der Business Judgement Rule auf Insolvenzverwalter beschäftigt und diese im konkreten Fall abgelehnt.
Die Business Judgement Rule ist ein aus dem anglo-amerikanischen Recht stammender Rechtssatz, welcher der Geschäftsführung bei unternehmerischen Entscheidungen den nötigen Handlungsspielraum verschafft, um Entscheidungen treffen zu können, die mit wirtschaftlichen Risiken verbunden sind. Solche Entscheidungen muss auch der (vorläufige) Insolvenzverwalter in der Betriebsfortführung treffen – gleichwohl gilt die Business Judgement Rule für ihn nicht, wie kürzlich der BGH entschieden hat.
Die Business Judgement Rule – Wo steht sie, was heißt sie?
Geschäftsführer müssen unternehmerische Entscheidungen treffen. Jeden Tag und, gerade in Krisenzeiten, häufig auch unter hohem zeitlichen Druck und oft mit enormer wirtschaftlicher Tragweite für das Unternehmen. Gleichzeitig unterliegen Geschäftsführer einem strengen Haftungsmaßstab: Sie müssen mit der Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmannes handeln. Es gilt – als Untergrenze – ein objektiver Maßstab, so dass sich ein Geschäftsführer nicht darauf berufen kann, nicht über die erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten zu verfügen, um bestimmten Geschäftsführeraufgaben gerecht zu werden. Fehlende Kompetenz entlastet den Geschäftsführer daher nicht. Gleichzeitig verschärfen aber besondere individuelle Fähigkeiten den für ihn geltenden Sorgfaltsmaßstab.
Klar ist aber auch: Nicht alle unternehmerischen Entscheidungen führen zum gewünschten Erfolg. Bleiben die erhofften Umsatz- und Ergebnissteigerungen oder andere verfolgte Unternehmensziele aus, stellt sich rasch die Frage nach der Haftung der Geschäftsleitung.
Ungünstige Verteilung der Darlegungs- und Beweislast im Haftungsprozess
Hinzu kommt in solchen Fällen eine für den Geschäftsführer ungünstige Verteilung der Darlegungs- und Beweislast im Haftungsprozess. Anders als nach allgemeinen Grundsätzen, wonach es grundsätzlich Sache des Klägers ist, sämtliche für ihn günstigen Tatsachen, aus denen dieser ein Recht herleitet, darzulegen und zu beweisen, muss die GmbH im Haftungsprozess gegen ihren (früheren oder jetzigen) Geschäftsführer lediglich darlegen und beweisen, dass
(a) ein Schaden eingetreten ist und
(b) dieser Schaden auf einem Verhalten des Geschäftsführers beruht.
Das sind regelmäßig keine besonders hohen Hürden.
Hingegen ist es Sache des Geschäftsführers, darzulegen und zu beweisen, dass er nicht pflichtwidrig gehandelt hat, ihn kein Verschuldensvorwurf trifft oder der Schaden auch dann eingetreten wäre, wenn sich der Geschäftsführer pflichtgemäß, also fehlerfrei, verhalten hätte.
Um dem Geschäftsführer vor dem Hintergrund dieser recht strengen Haftungsrisiken die notwendige „Beinfreiheit“ einzuräumen, wurde im anglo-amerikanischen Recht die sog. „Business Judgement Rule“ entwickelt. Ende des 20., Anfang des 21. Jahrhunderts wurde dieser Grundsatz zunehmend auch in Deutschland herangezogen: Zunächst hat die Rechtsprechung diesen Rechtssatz für Vorstände von Aktiengesellschaften anerkannt, dann schließlich auch für Geschäftsführer von GmbHs.
Den vorläufigen Höhepunkt dieser Entwicklung bildet die Verankerung des Rechtssatzes im Aktiengesetz im Jahr 2005, wobei er weiterhin auch auf Geschäftsführer von GmbHs angewendet wird. Seit dem 1. November 2005 lautet § 93 Abs. 1 S. 2 AktG wie folgt:
Eine Pflichtverletzung liegt nicht vor, wenn das Vorstandsmitglied bei einer unternehmerischen Entscheidung vernünftigerweise annehmen durfte, auf der Grundlage angemessener Information zum Wohle der Gesellschaft zu handeln.
Ausschluss der Haftung der Geschäftsleitung möglich
Damit sind die Tragweite und die Voraussetzungen der Business Judgement Rule sehr prägnant umrissen: Sie schließt eine Haftung der Geschäftsleitung unter bestimmten Voraussetzungen aus. Es muss sich um eine unternehmerische Entscheidung handeln, also nicht etwa um die Erfüllung gesetzlicher Handlungspflichten, wie etwa die Pflicht zur Zahlung von Steuern nach geltendem Steuerrecht, weil nur dann eine echte Wahlmöglichkeit nach kaufmännischen Überlegungen besteht.
Ferner muss das Vorstandsmitglied vernünftigerweise annehmen dürfen, zum Wohle der Gesellschaft zu handeln (und nicht etwa zum eigenen Wohl) und zwar auf der Grundlage angemessener Informationen. Gerade dem letzten Punkt kommt entscheidende Bedeutung zu: Die sorgfältige Vorbereitung und Durchführung des Entscheidungsprozesses auf gut informierter Tatsachenbasis ist der Kern der Business Judgement Rule.
Nur, wenn die unternehmerische Entscheidung auf einem soliden Tatsachenfundament steht und der Geschäftsleiter dann bona fide eine Entscheidung trifft, die zumindest objektiv geeignet ist, dem Wohl der Gesellschaft zu dienen, ist der Unternehmensleiter von einer Haftung für den ausbleibenden Erfolgt (oder besser: für den eingetretenen Schaden) befreit: Er handelt dann im Rahmen seiner unternehmerischen Entscheidungsfreiheit und somit nicht pflichtwidrig, weshalb er in der Konsequenz für den bei der Gesellschaft eingetretenen Schaden nicht haftet.
Geschäftsführer sollte Entscheidungsfindung und den Entscheidungsprozess dokumentieren
Im Ergebnis ist somit jeder Geschäftsführer gut beraten, jedenfalls bei nicht unwesentlichen unternehmerischen Entscheidungen die Grundlagen der Entscheidungsfindung und den Entscheidungsprozess insgesamt sorgfältig, fortlaufend und für Dritte nachvollziehbar zu dokumentieren.
Nur der Vollständigkeit halber sei an dieser Stelle erwähnt, dass die Business Judgement Rule ihren Siegeszug in Kontinentaleuropa stetig weiter fortsetzt: Kürzlich erst hat das polnische Ministerium für Staatsvermögen (Ministerstwo Aktywów Państwowych, MAP) unter Minister Jacek Sasin den Reformvorschlag für ein neues Konzernrecht in Polen vorgelegt, das unter anderem auch die (erstmalige) Kodifizierung der Business Judgement Rule im polnischen Recht vorsieht.
Keine Geltung in der Insolvenz
Stellt ein Geschäftsleiter einer GmbH oder einer AG einen Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens, wird in aller Regel zunächst ein vorläufiger Insolvenzverwalter bestellt. Seine Aufgabe ist die Sicherung des Vermögens, die Fortführung eines operativ noch tätigen Unternehmens und die Prüfung, ob die Voraussetzungen für die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens gegeben sind, insbesondere ob die vorhandene Vermögensmasse ausreicht, um die Verfahrenskosten zu decken. Seine Befugnisse hängen vom Beschluss des Insolvenzgerichts im Einzelfall ab, insbesondere davon, ob ein sog. „starker“ Insolvenzverwalter oder – wie in der Praxis in aller Regel – ein sog. „schwacher“ Insolvenzverwalter bestellt wird.
Der „starke“ Insolvenzverwalter tritt wie ein „Ersatz-Geschäftsführer“ an die Stelle der bisherigen Geschäftsleitung; auf ihn geht die Verfügungs- und Verwaltungsbefugnis über das Unternehmen über. Der „schwache“ Insolvenzverwalter wird hingegen der bisherigen Geschäftsleitung an die Seite gestellt. Bei der „schwachen″ vorläufigen Insolvenzverwaltung ordnet das Insolvenzgericht üblicherweise an, dass Verfügungen der Geschäftsleitung der Zustimmung des „schwachen“ Insolvenzverwalters bedürfen. In der Regel wird zunächst ein „schwacher“ Insolvenzverwalter bestellt. Nur wenn sich später herausstellt oder dies schon von Anfang an klar ist, dass durch das Fortwirken der bisherigen Geschäftsleitung die Gläubigerinteressen gefährdet sind, wird ein „starker“ Insolvenzverwalter bestellt, der dann die Geschäftsleitung quasi verdrängt.
Betriebsfortführung soll die Regel sein
Grundsätzlich unterliegt der vorläufige Insolvenzverwalter dem Gebot zur Betriebsfortführung, denn über eine etwaige Stilllegung des Betriebs hat in der Insolvenz grundsätzlich die Gläubigerversammlung im ersten Berichtstermin zu entscheiden. Um diese Entscheidung nicht vorwegzunehmen, soll ein Unternehmen in der Regel fortgeführt werden, es sei denn, die Fortführung ist ausnahmsweise nicht im Interesse der Gläubigergesamtheit, etwa weil sie offensichtlich unwirtschaftlich ist. Bei der Betriebsfortführung wirken die Geschäftsführung und der „schwache″ vorläufige Verwalter zusammen, wobei die unternehmerischen Entscheidungen formal weiter von der Geschäftsführung getroffen werden. Die Mitwirkung des vorläufigen Verwalters beschränkt sich auf die Ausübung seiner Befugnis zur Zustimmung zu sämtlichen Verfügungen, wobei dieser Befugnis faktisch ein großer Einfluss auf alle Entscheidungen zukommt.
Beschließt die Gläubigerversammlung im ersten Berichtstermin nach der Insolvenzeröffnung die Fortführung des Betriebs (etwa zum Zwecke einer übertragenden Sanierung), wird der Betrieb auch im eröffneten Insolvenzverfahren fortgeführt. Allerdings bewirkt die Insolvenzeröffnung einen Wechsel. Die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis geht von der Geschäftsleitung über auf den Insolvenzverwalter, der somit ab Insolvenzeröffnung alle Entscheidungen in alleiniger Verantwortung treffen muss. Der Insolvenzverwalter wird dadurch zum Unternehmensleiter.
Damit befindet sich der Insolvenzverwalter in jedem Fall (der vorläufige Insolvenzverwalter zumindest teilweise) in einer sehr vergleichbaren Situation wieder wie der Geschäftsleiter: Er muss regelmäßig unternehmerische Entscheidungen treffen. Daher liegt es grundsätzlich nahe, auch dem Insolvenzverwalter dieselbe unternehmerische „Beinfreiheit“ einzuräumen, die auch der Geschäftsleitung zugestanden wird. Konsequenterweise wurde deshalb in der Vergangenheit häufig vertreten, dass die Business Judgement Rule auch auf den Insolvenzverwalter in der Betriebsfortführung während der Insolvenz anzuwenden ist.
Business Judgement Rule nicht auf Insolvenzverwalter anwendbar
Dieser Sichtweise hat der BGH in seinem Grundsatzurteil vom 12. März 2020 (Aktenzeichen IX ZR 125/17) jedoch nunmehr einen Riegel vorgeschoben. Der BGH ist der Meinung, dass Maßstab aller unternehmerischen Entscheidungen des Insolvenzverwalters im Rahmen einer Betriebsfortführung der Insolvenzzweck sei, also das Ziel der
bestmöglichen gemeinschaftlichen Befriedigung der Insolvenzgläubiger sowie das von den Gläubigern gemeinschaftlich beschlossene Verfahrensziel,
also
die Abwicklung des Unternehmens, Veräußerung oder Insolvenzplan – als Mittel der Zweckerreichung.
Ferner, so führt der BGH aus, sei der
dem Insolvenzverwalter bei unternehmerischen Entscheidungen zustehende Ermessensspielraum … überschritten, wenn die Maßnahme aus der Perspektive ex ante angesichts der mit ihr verbundenen Kosten, Aufwendungen und Risiken im Hinblick auf die Pflicht des Insolvenzverwalters, die Masse zu sichern und zu wahren, nicht mehr vertretbar ist.
Als Konsequenz sei die Business Judgement Rule nicht auf den Insolvenzverwalter bei der Betriebsfortführung in der Insolvenz anwendbar, vielmehr hafte dieser nach dem Maßstab des § 60 InsO, ohne sich auf § 93 Abs. 1 S. 2 AktG berufen zu können.
Gemeinsamkeiten und Unterschiede – die weitere Entwicklung bleibt abzuwarten
Eine Anwendung der Business Judgement Rule auch im Bereich der Insolvenzverwaltung liegt dem äußeren Anschein nach nahe. Auch der BGH räumt die auf der Hand liegenden Parallelen zwischen der Situation der Geschäftsleitung und des Insolvenzverwalters in der Betriebsfortführung ein: Beide müssen unternehmerische Entscheidungen treffen, beide verwalten fremdes Vermögen und werden damit fremdnützig tätig und in beiden Fällen besteht ein sehr ähnliches Haftungsregime. Zudem ist die für den Insolvenzverwalter geltende Haftungsgrundlage (§ 60 Abs. 1 InsO) an den für Geschäftsleitungen von AGs und GmbHs geltenden Haftungsmaßstab angelehnt, denn nach § 60 Abs. 1 Satz 2 InsO hat – ähnlich wie der Geschäftsleiter einer AG oder GmbH – auch der Insolvenzverwalter
für die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Insolvenzverwalters einzustehen.
Dennoch gesteht der BGH dem Insolvenzverwalter den Schutzschirm und sicheren Hafen der Business Judgement Rule nicht zu, sondern stellt die Besonderheiten des Insolvenzrechts und den Insolvenzzweck in den Vordergrund. Gleichzeitig stellt der BGH auch klar, dass den Insolvenzverwalter – wie auch den Geschäftsleiter – unter gewissen Voraussetzungen keine Erfolgshaftung für sein unternehmerisches Handeln trifft.
Hierzu führt der BGH wie folgt aus:
Für nur objektiv ex post festzustellende unternehmerische Fehlentscheidungen haftet der Insolvenzverwalter nicht.
Daher wäre es vertretbar gewesen, wenn die Business Judgement Rule auch auf den Insolvenzverwalter erstreckt worden wäre und die sicherlich gebotenen Anpassungen an das Insolvenzrecht und den Insolvenzzweck dadurch erreicht worden wären, dass an die Stelle des „Wohls der Gesellschaft“ der Insolvenzzweck, also die gleichmäßige Befriedigung aller Gläubiger im Rahmen des Insolvenzrechts tritt.
So verstanden wäre man mit der Business Judgement Rule auch im vom BGH entschiedenen Fall zu ähnlichen, wenn nicht sogar identischen Ergebnissen gekommen und hätte gleichzeitig einen gewissen Gleichlauf in der Haftung vor und nach der Insolvenz einer AG oder GmbH geschaffen.
Unterschiedliche Stellungen des Unternehmensleiters und des Insolvenzverwalters
Andererseits bestehen durchaus Unterschiede zwischen einem Unternehmensleiter und einem Insolvenzverwalter. Die Stellung als Treuhänder und Verwalter fremden Vermögens ist beim Insolvenzverwalter letztlich doch stärker ausgeprägt als bei einem Unternehmensleiter. Dies zeigt bereits die Auswahl der jeweiligen Person. Erfolgt diese außerhalb der Insolvenz durch die Eigentümer des Unternehmens, wird der (vorläufige) Insolvenzverwalter in der Regel (noch) vom Insolvenzgericht bestellt, also nicht von denjenigen, die die wirtschaftlichen Folgen der Entscheidungen tragen müssen. Deshalb hat der Insolvenzverwalter eine amtsähnliche Funktion.
Auch die Entscheidungsmotive unterscheiden sich gelegentlich. Beispielhaft lässt sich dies bei der Entscheidung über einen Vergleich in einem Rechtsstreit zeigen. „Weiche″ Faktoren wie z. B. eine schnelle Streitbeilegung, um Kräfte für zukünftige Aufgaben zu bündeln, mit Vergangenem abzuschließen oder eine betriebsinterne Unruhe zu vermeiden, haben für einen Unternehmensleiter außerhalb der Insolvenz einen echten wirtschaftlichen Wert, der in die Entscheidungsfindung einzubeziehen ist. Den Insolvenzverwalter können diese Motive nur dann zu einem schnellen Vergleich bewegen, wenn sie „bare Münze″ wert sind, also einen finanziellen Vorteil für die Gläubiger bringen.
Genauso verhält es sich bei strategischen Überlegungen, wie z. B. Unternehmenszu- oder -verkäufen oder der Aufnahme von Geschäftsverbindungen zu ausgewählten Partnern. Hier ist der Entscheidungsspielraum außerhalb der Insolvenz wesentlich größer, während ein Insolvenzverwalter seine Entscheidungen streng nach dem rein finanziellen Ergebnis treffen muss.
Anwendbarkeit der Business Judgement Rule auf Insolvenzverwalter bleibt diskutabel
Die aufgezeigten Unterschiede können somit durchaus eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigen. Dennoch gilt nicht: „Karlsruhe locuta – causa finita.“. Vielmehr dürfte die Diskussion um die Erstreckung der Business Judgement Rule auf Insolvenzverwalter nun erst recht eröffnet sein, nachdem sich der BGH nun erstmals „aus der Deckung″ gewagt und in diesem Streit Position bezogen hat.