Muss die Geschäftsführung in der Krise die Belange der Gläubiger stets vorrangig vor den Gesellschafterinteressen („shift of fiduciary duties“) behandeln?
In Großbritannien gibt es eine klare Antwort auf diese Frage. – Yes. Das Grundsatzurteil des dortigen Supreme Courts vom 5. Oktober 2022 bestätigte die Pflicht des Managements britischer Kapitalgesellschaften in der Krise vorrangig im Sinne der Gläubiger* zu handeln. Eine solche gläubigerschützende Pflicht wurde in Deutschland insbesondere vor Verabschiedung des StaRUG intensiv diskutiert, sodass diese Entscheidung dazu führen könnte, dass eine „creditor duty“ auch im deutschen Recht Eingang findet.
Eine Geschäftsführung befindet sich stets zwischen den Stühlen vieler Interessen. Besonders konträr können sich die Belange der Gesellschafter und die der Gläubiger gegenüberstehen. Dies zeigt sich vor allem in der Krise. Gläubiger begehren die bestmögliche und kostengünstigste Erfüllung ihrer vertraglichen Ansprüche. Die Gesellschafter bangen um die Erhaltung ihrer Investitionen in die Gesellschaft. Eine gleichartige Berücksichtigung erscheint kaum möglich.
In einer Krise ist es für jede Geschäftsleitung oberste Priorität, die Restrukturierung der Gesellschaft zu ermöglichen und die Krise zu beseitigen. Die mit der Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsleiters zu erfüllenden Pflichten muss das Management stets anhand der aktuellen Umstände neu bewerten. Werden die Pflichten nicht erfüllt, können Haftungsansprüche drohen. Aufgrund der aktuellen Polykrise sollte jede Geschäftsführung wissen, welche Pflichten ihre Entscheidungsfreiheit in der Krise künftig einschränken könnten.
Sog. Sequana Urteil des Supreme Courts bestätigt eine creditor duty
In der Rechtssache BTI v. Sequana zahlte die Gesellschaft namens AWA – gesellschaftsrechtlich rechtmäßig – Dividenden an ihre einzige Aktionärin, die Sequana SA, aus. AWA war im Zeitpunkt der Auszahlung solvent, auch wenn langfristige Eventualverbindlichkeiten in ungewisser Höhe bestanden. Es bestand zwar ein potenzielles Risiko, dass AWA in der Zukunft zahlungsunfähig werden könnte, jedoch stand die Zahlungsunfähigkeit nicht unmittelbar bevor und war nicht wahrscheinlich. Die Insolvenz der AWA trat schließlich erst fast zehn Jahre nach der Auszahlung ein.
Der Kläger machte die Rückforderung der Auszahlung geltend, jedoch bestätigte der Supreme Court die Klageabweisung der Vorinstanzen. Denn AWA war zum Zeitpunkt der Auszahlung nicht (bevorstehend) zahlungsunfähig und musste daher die von dem Supreme Court entwickelte sog. Gläubigerinteressenwahrungspflicht („creditor duty“) zum Zeitpunkt der Auszahlung nicht berücksichtigen. Außerhalb der Krise bestand eine solche Gläubigerinteressenwahrungspflicht für AWA noch nicht.
Der Supreme Court ließ in dem Urteil anklingen, dass er eine Auszahlung der Dividenden durch das Management in einer Krise aufgrund der dann missachteten Gläubigerinteressen als nicht rechtmäßig bewertet hätte. In dieser Entscheidung hatte der Supreme Court in Großbritannien nach eigenen Angaben
Inhalt der Pflicht – shift of fiduciary duties hin zu den Gläubigerinteressen
Das Gericht führte aus, dass die Direktoren in guten Zeiten aufgrund von Gewohnheitsrecht verpflichtet sind, so zu handeln, wie sie es nach Treu und Glauben für am wahrscheinlichsten halten, um den Erfolg des Unternehmens zum Nutzen seiner Anteilsinhaber als Ganzes zu fördern und im Interesse des Unternehmens zu handeln. Der Supreme Court stellte fest, dass diese Pflicht unter bestimmten Umständen modifiziert wird, da die Interessen des Unternehmens als Ganzes auch die Interessen der Gläubiger des Unternehmens umfassen.
Die Gläubigerinteressen sind gegenüber den Belangen der Gesellschafter abzuwägen, wenn diese in Konflikt geraten könnten. Die Pflichten der Geschäftsleitung britischer Kapitalgesellschaften verschieben sich in einer Krise mehr zu den nun vorrangig zu berücksichtigenden Gläubigern und weiter weg von den Gesellschaftern. Die Entscheidung des Supreme Courts ist nicht in der Weise zu verstehen, dass den Gläubigerinteressen pauschal ein Vorrang der Art gebührt, dass etwa eine Fortführung und der Versuch des Erhalts des Unternehmens zu unterbleiben hat, wenn durch eine frühzeitige Liquidation des Unternehmens eine höhere Befriedigung der Gläubiger erreicht werden kann. Vielmehr müssen die Belange der Gesamtheit der Gläubiger und das Risiko für ihre Interessen bei einer Entscheidungsfindung des Managements berücksichtigt werden. Die Geschäftsführer sind verpflichtet, die Interessen der Gläubiger nicht zu verletzen.
Je größer die finanziellen Schwierigkeiten der Gesellschaft sind, desto weitergehend soll laut dem Urteil die Geschäftsleitung den Interessen der Gläubiger Vorrang einräumen. Die Gläubigerinteressen sind gegenüber den Gesellschafterinteressen daher umso gewichtiger, je kritischer sich die Gesellschaft in der Nähe einer Zahlungsunfähigkeit befindet.
Ab wann besteht eine sog. Creditor duty?
Der Supreme Court machte deutlich, dass eine Gläubigerinteressenwahrungspflicht erst dann besteht, wenn ein Unternehmen entweder tatsächlich zahlungsunfähig ist, am Rande der Zahlungsunfähigkeit steht (bordering on insolvency) oder wahrscheinlich auf die Zahlungsunfähigkeit zusteuert. Erforderlich ist die Kenntnis des Managements von diesen Umständen.
Der Grundsatz, dass bestimmte Handlungen der Geschäftsführung durch einen Gesellschafterbeschluss genehmigt werden müssen, wie er auch in Deutschland besteht, steht der Gläubigerinteressenwahrungspflicht nicht entgegen. Das Gericht stellte fest, dass sich die Gesellschafter nicht gegen eine nur nachrangige Berücksichtigung ihrer Interessen erwehren können, indem sie es beispielsweise unterlassen, einen zustimmenden Gesellschafterbeschluss zu fassen.
Vorrang von Gläubigerinteressen in Deutschland
Im deutschen Recht besteht keine vergleichbare gesetzliche Grundlage für die grundsätzlich vorrangige Berücksichtigung von Gläubigerinteressen in der Krise.
Im Gegenteil: Der deutsche Gesetzgeber verzichtete darauf, im Unternehmensstabilisierungs- und restrukturierungsgesetz („StaRUG“), welches die EU-Restrukturierungsrichtlinie, Richtlinie (EU) 2019/1023 seit dem 1. Januar 2021 umsetzt, eine haftungsbewährte Pflicht der Geschäftsleitung zur vorrangigen Berücksichtigung der Gläubigerinteressen aufzuerlegen, sobald eine drohende Zahlungsunfähigkeit vorliegt. Diese noch in dem Regierungsentwurf (§§ 2, 3 StaRUG-RegE) beschriebene Pflicht wurde kurzfristig gestrichen und nicht in das verabschiedete StaRUG übernommen.
Die Sequana Entscheidung könnte dem Gesetzgeber die Brücke bieten, aufgrund der überzeugenden Ausführungen des Supreme Courts ein ähnliches Konzept zu erwägen.
Das Urteil hat jedoch auch ohne eine Gesetzesänderung das Potenzial, durch die obergerichtliche Rechtsprechung zu einer veränderten Ausgestaltung der Sorgfaltspflichten im Verhältnis zwischen Geschäftsführung und Gesellschaftern zu führen. Die §§ 30, 43 GmbHG und § 93 Abs. 2 AktG regeln die Pflichten und Haftungsnormen der Geschäftsleitung. Da die Rechtsprechung die im deutschen Gesellschaftsrecht zu wahrenden Geschäftsleitungspflichten stetig ausformt und umgestaltet, wäre eine Modifikation hin zu einer Gläubigerinteressenwahrungspflicht („shift of duty“) durchaus möglich. Die deutsche Rechtsprechung wendet die in § 43 Abs. 1 GmbHG geregelte Sorgfaltspflicht aktuell dahingehend an, dass im Zustand der drohenden Zahlungsunfähigkeit die Interessen der Gesellschafter als wirtschaftliche Eigentümer des Gesellschaftsunternehmens vorrangig zu berücksichtigen sind (OLG München, Urteil v. 21. März 2013 − 23 U 3344/12). Im Innenverhältnis ist die Geschäftsleitung daher nach § 43 Abs. 2 GmbHG ersatzpflichtig, wenn sie einen Insolvenzantrag wegen drohender Zahlungsunfähigkeit ohne Zustimmung der Gesellschafter stellt. Der BGH hat jedoch offengelassen, ob die Geschäftsführung einer GmbH ihre Vertretungsmacht auch dann missbraucht, wenn der Gesellschafterwille vom Gesellschaftsinteresse abweicht (BGH, Hinweisbeschluss v. 10. April 2006 – II ZR 337/05). Diese Gesellschaftsinteressen umfassen nach Ansicht des Supreme Courts als Gesamtheit auch die Belange der Gläubiger. Eine Pflicht zur Wahrung der Gläubigerinteressen in der Krise wäre daher als Erweiterung der bestehenden Sorgfalts- und Treuepflichten der Geschäftsleitung nicht schwer vorstellbar.
Ein shift of duties könnte im deutschen Gesellschafts- und Restrukturierungsrecht mühelos implementiert werden, zumal das deutsche Recht mit den Regelungen zur strafbewehrten Insolvenzantragspflicht bereits ein strenges und umfassendes Haftungsregime vorhält. Das StaRUG und die Insolvenzordnung stünden einem Antragsrecht der Geschäftsführer gegen den Willen der Gesellschafter in der Krise nicht entgegen, da beide nicht per se vorsehen, dass die Gesellschafter im Stadium einer drohenden Zahlungsunfähigkeit vorrangig zu behandeln sind; vielmehr wird sowohl im StaRUG als auch in der Insolvenzordnung von einer Nachrangigkeit der Gesellschafterrechte ausgegangen. Eine creditor duty wäre in der bestehenden Gesetzessystematik – etwa um die Durchführung eines nach § 1 StaRUG verpflichtenden Sanierungsversuchs auszugestalten oder im Sinne des Gläubigerschutzes – ebenfalls nachvollziehbar zu begründen. Eine solche dürfte jedoch im Hinblick auf die klaren Regelungen des § 15a InsO nicht dahingehend ausgeweitet werden, dass eine Antragspflicht der Geschäftsleitung bereits bei drohender Zahlungsunfähigkeit bestünde.
Die Entwicklung der Pflichten der Geschäftsleitung in der Krise im Hinblick auf eine creditor duty nach dem britischen Vorbild bleibt abzuwarten. Ein shift of fiduciary duties im deutschen Recht wäre aus Sicht der Vertragspartner und sonstiger Gläubiger im Rechtsverkehr zu begrüßen.
* Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Um der leichteren Lesbarkeit willen wird im Beitrag die grammatikalisch männliche Form verwendet.