Brüssel zu Vertriebsbeschränkungen im Selektivvertrieb und Online-Handel, v.a. zu sog. Geoblocking – ein Hot Topic auch mit Blick auf die neue Geoblocking-VO.
Mit Entscheidung vom 17. Dezember 2018 hat die Europäische Kommission („Kommission″) das Bekleidungsunternehmen Guess in Höhe von fast EUR 40 Mio. u.a. wegen der kartellrechtswidrigen Unterbindung grenzüberschreitender Verkäufe (sog. Geoblocking) bebußt.
Es handelt sich um die zweite Bußgeldentscheidung der Kommission im Nachgang der E-Commerce-Sektoruntersuchung. Sie behandelt das „kleine 1×1″ vertikaler Vertriebsbeschränkungen, insbesondere im Online-Handel. Von Interesse sind die Entscheidung und der zugrunde liegende Sachverhalt auch insoweit, als das Guess von der Kommission vorgeworfene Verhalten ebenfalls gegen die seit Anfang Dezember 2018 wirksame EU-Geoblocking-Verordnung („Geoblocking-VO„) verstoßen hätte. Dazu nimmt die Pressemitteilung der Kommission ausdrücklich Stellung.
Qualitatives selektives Vertriebssystem von Guess
Das US-amerikanische Bekleidungsunternehmen Guess entwirft und vertreibt (u.a. im Wege der Lizenzvergabe) Bekleidung und Accessoires. Im Europäischen Wirtschaftsraum („EWR″) betreibt Guess ein qualitatives selektives Vertriebssystem, d.h. Guess wählt seine Vertragshändler auf der Grundlage qualitativer Kriterien aus.
Das Kartellverbot und die Freistellung nach der Vertikal-GVO
Art. 101 Abs. 1 AEUV verbietet wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen zwischen Unternehmen. Diese wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen können jedoch vom Kartellverbot freigestellt sein. Für vertikale Vereinbarungen, d.h. Vereinbarungen zwischen Unternehmen auf verschiedenen Ebenen der Produktions- oder Vertriebskette, gilt die sog. Vertikal-Gruppenfreistellungsverordnung („Vertikal-GVO„). Danach ist die Vereinbarung freigestellt, wenn sowohl der Anbieter der Vertragswaren als auch der Abnehmer auf seinem relevanten Markt jeweils nicht mehr als 30 % Marktanteil hält. Eine Freistellung scheidet aber aus, wenn die Vereinbarung sog. Kernbeschränkungen enthält, die Art. 4 Vertikal-GVO abschließend aufzählt.
Zur kartellrechtlichen Zulässigkeit von selektiven Vertriebssystemen
Qualitative selektive Vertriebssysteme, wie das von Guess, sind im Grundsatz kartellrechtlich zulässig. Entweder fallen solche Systeme insbesondere zur Wahrung des Luxusimages der Vertragsprodukte (siehe zum viel diskutierten Drittplattformverbot von Coty) oder zur Wahrung der Qualität und zur Gewährleistung des richtigen Gebrauchs der betreffenden Produkte schon nicht unter das Kartellverbot des Art. 101 Abs. 1 AEUV. Oder das selektive Vertriebssystem ist, die Unterschreitung der o.g. 30 %-Marktanteilsschwelle unterstellt, jedenfalls nach der Vertikal-GVO freigestellt.
Die von der Kommission festgestellten Kartellverstöße
Kurz nach der Veröffentlichung des Abschlussberichts zur E-Commerce-Sektoruntersuchung leitete die Kommission im Juni 2017 eine Untersuchung der Vertriebsverträge und -praktiken von Guess ein. An deren Ende gelangte die Kommission zu dem Schluss, dass die Vertriebsverträge von Guess die autorisierten Händler im Zeitraum vom 1. Januar 2014 bis zum 31. Oktober 2017 gleich in mehrfacher Weise kartellrechtswidrig beschränkt haben sollen.
1. Beschränkungen des aktiven oder passiven Verkaufs an Endverbraucher
Guess soll den Verkauf an Verbraucher außerhalb der zugewiesenen Händlergebiete beschränkt haben, obwohl Art. 4 lit. c) Vertikal-GVO die Beschränkung des aktiven oder passiven Verkaufs an Endverbraucher durch auf der Einzelhandelsstufe tätige Mitglieder eines selektiven Vertriebssystems ausdrücklich und (vorbehaltlich einer Standortklausel) ausnahmslos verbietet. Die Händler haben grundsätzlich das Recht, Waren an jeden Endverbraucher zu verkaufen, selbst wenn letzterer in einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist. Der ggf. bestehende Wunsch von Lieferanten, im selektiv gebundenen Gebiet auf der Einzelhandelsstufe eine (qualitative) Selektion der Vertriebshändler und einen Alleinvertrieb mit territorialem Gebietsschutz oder Kundenschutz zu kombinieren, ist nicht zulässig.
2. De facto-Internetvertriebsverbot
Nach den Feststellungen der Kommission durften die Guess-Händler die Waren online nur bei ausdrücklicher Zustimmung durch Guess verkaufen. Bezüglich der Erteilung einer solchen Zustimmung behielt sich Guess einen uneingeschränkten Ermessensspielraum vor. Die Kommission erläuterte dies nicht näher, die ausführlich begründete Entscheidung ist noch nicht veröffentlicht. Ein entsprechend weit gefasster Zustimmungsvorbehalt kann aber unverhältnismäßig sein und ein de facto-Internetvertriebsverbot bedeuten. Ein Internetvertriebsverbot ist, so u.a. der EuGH 2011 in Pierre Fabre (C-439/09) und die französische Kartellbehörde im Oktober 2018 in STIHL (dazu Schlimpert, NZKart 2018, 566), ebenfalls eine Kernbeschränkung i.S.d. Art. 4 lit. c) Vertikal-GVO.
Grundsätzlich zulässig wäre es, die Zustimmung von der Einhaltung qualitativer Anforderungen (etwa an das Design der Website) abhängig zu machen und so die qualitativen Anforderungen, die stationär an den autorisierten Händler gestellt werden, „auf die Online-Welt zu spiegeln″ (sog. Äquivalenzprinzip).
3. Verbot der Verwendung der Markennamen und Warenzeichen für Onlinesuchmaschinen
Die Kommission rügte ferner das von ihr festgestellte Verbot, die Markennamen und Warenzeichen von Guess für die Zwecke der Werbung auf Onlinesuchmaschinen zu nutzen.
Die Brüsseler Wettbewerbshüter folgten im Ergebnis dem Asics-Beschluss (B2-98/11) des Bundeskartellamts aus August 2015. Darin sanktionierte die Bonner Behörde das pauschale Verbot, Markenzeichen von Asics in jeglicher Form auf der Internetseite eines Dritten zu verwenden, um Kunden auf die Internetseite des autorisierten Asics-Händlers zu leiten, oder einem Dritten eine solche Verwendung zu erlauben. Untersagt war damit insbesondere die Verwendung der Markenzeichen von Asics im Rahmen von Suchmaschinenwerbung z.B. bei Google Adwords als Schlüsselwort. Das Bundeskartellamt ging von einer Kernbeschränkung nach Art. 4 lit. c) Vertikal-GVO aus, d.h. einer bezweckten Beschränkung von Verkäufen der autorisierten Händler an Endkunden über das Internet und damit einer Beschränkung zumindest passiver Verkäufe auf der Einzelhandelsstufe.
4. Beschränkung von Querlieferungen zwischen den autorisierten Groß- und Einzelhändlern
Auch hat Guess nach den Ermittlungen der Kommission Querverkäufe zwischen den im selektiven Vertriebssystem zugelassenen Großhändlern und Einzelhändlern verhindert. Ein solches Verhalten ist eine nach Art. 4 lit. d) Vertikal-GVO verbotene Kernbeschränkung. Querlieferungen zwischen autorisierten Händlern eines selektiven Vertriebssystems müssen erlaubt sein.
5. Vertikale Preisbindung
Guess soll ferner die autorisierten Einzelhändler an der unabhängigen Festsetzung ihrer Verkaufspreise für Guess-Produkte gehindert haben. Eine solche vertikale Preisbindung verbietet Art. 4 lit. a) Vertikal-GVO ausdrücklich.
Ermäßigung wegen umfangreicher Kooperation
Letztlich, so die Kommission, ermöglichten die geschilderten Beschränkungen es Guess, die nationalen Märkte im EWR voneinander abzuschotten und Einzelhandelspreise hochzuhalten. Vor diesem Hintergrund dürfte sich auch das vergleichsweise hohe Bußgeld erklären: Die Kommission geht grundsätzlich besonders hart gegen Praktiken vor, die kartellrechtswidrig den europäischen Verbrauchern die wesentlichen Vorteile des europäischen Binnenmarkts vorenthalten (hier grenzüberschreitende Einkaufsmöglichkeiten für mehr Auswahl und günstigere Angebote). Aufgrund der umfangreichen Kooperation von Guess mit der Kommission, in dessen Rahmen Guess sogar das der Kommission noch nicht bekannte Verbot der Verwendung der Markennamen und Warenzeichen für Onlinesuchmaschinen offenbarte, reduzierte sich das Bußgeld allerdings um 50 %. Im Anschluss an die Entscheidung veröffentlichte die Kommission einen Leitfaden zur Geldbußenreduzierung durch Kooperation.
E-Commerce-Sektoruntersuchung als Durchsetzungs-„Booster″, insbesondere bezüglich Geoblocking-Praktiken
Bereits im Februar 2017 hatte die Kommission drei weitere Verfahren im Anschluss an die Sektoruntersuchung eröffnet und damit ihre Entschlossenheit unterstrichen, die Ergebnisse der Untersuchung in praktischen Fällen zu verproben. Ein Verfahren gegen vier Elektronikhersteller wegen unzulässiger Preisbindung der Online-Einzelhändler unter Verwendung von Preisalgorithmen endete im Juli 2018 mit einer Geldbuße von insgesamt über EUR 111 Mio. Die zwei noch laufenden Verfahren betreffen ebenfalls Geoblocking-Praktiken. In der Videospiel-Untersuchung wirft die Kommission dem Betreiber einer Spiele-Vertriebsplattform und Videospiel-Herausgebern vor, Verbraucher unter Einsatz von „Aktivierungsschlüsseln″ daran zu hindern, PC-Videospiele zu günstigeren Preisen aus anderen Mitgliedstaaten zu beziehen. Die Hotelpreis-Untersuchung fokussiert auf vermeintlichen Praktiken von Reiseveranstaltern und Hotels zur Diskriminierung der Kunden aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit oder ihres Wohnsitzes.
Ab sofort ist auch die Geoblocking-VO zu beachten
Die Entscheidung der Kommission erging nicht auf Grundlage der seit dem 3. Dezember 2018 wirksamen Geoblocking-VO. Allerdings wären, dies stellt die Kommission klar, bestimmte Verhaltensweisen von Guess neuerdings auch durch die Geoblocking-VO bußgeldbewährt untersagt. Die Geoblocking-VO ist ab sofort parallel zum Kartellverbot anwendbar und im Online-Handel zusätzlich zu beachten. Sie verbietet ausnahmslos Beschränkungen des grenzüberschreitenden, passiven Verkaufs an Endverbraucher aus herkunftsbezogenen Gründen (vgl. Art. 6 Abs. 2 Geoblocking-VO). So muss ein EU-Kunde nunmehr jeden (landesspezifischen) Online-Shop aufrufen können, ohne automatisch weitergeleitet oder blockiert zu werden. Unabhängig von seiner Staatsangehörigkeit oder seinem Wohnsitz (nachprüfbar etwa mittels IP-Adresse, GPS-Koordinaten, Postleitzahl) muss ein EU-Kunde auch tatsächlich zu den Geschäfts-, Preis- und Lieferkonditionen des landesspezifischen Online-Shops einkaufen können. Unterschiedliche Geschäfts-, Preis- und Lieferkonditionen je landesspezifischer Shop-Version bleiben aber zulässig, so dass Händler weder in sämtliche EU-Mitgliedstaaten liefern noch EU-weit identische Preise anbieten müssen (dazu Gerecke/Crasemann, GRUR-Prax 2018, 418).
Internetvertrieb weiterhin im Fokus der Kartellbehörden
Internetvertrieb bleibt im Fokus der Kartellbehörden. Das liegt nicht nur am Inkrafttreten der Geoblocking-VO und der Guess-Entscheidung. Das Bundeskartellamt hat in seinem letzten Beitrag in der Schriftenreihe „Wettbewerb und Verbraucherschutz in der digitalen Wirtschaft″ im Oktober 2018 festgehalten, dass trotz „landmark decisions″ wie Asics und Coty″ noch viele Themen offen geblieben″ seien.