3. August 2023
absoluter Gebietsschutz Bekleidung Kartell
Kartellrecht

EU-Kommission: Kartellrechtswidriger absoluter Gebietsschutz in Lizenzverträgen der Bekleidungsindustrie?

Pierre Cardin und Ahlers sollen eine kartellrechtswidrige Strategie absoluten Gebietsschutzes umgesetzt haben. Zeit für eine kartellrechtliche Einordnung.

Die Europäische Kommission („Kommission“) setzt ihr Verfahren gegen das französische Modehaus Pierre Cardin und seinen deutschen Lizenznehmer Ahlers wegen vermeintlicher Kartellrechtsverstöße durch die Vertriebs- und Lizenzierungspraktiken fort.

Markenlizenzen in der Bekleidungsindustrie

Pierre Cardin vergibt, wie in der Bekleidungsindustrie üblich, für die Herstellung und den Vertrieb seiner Bekleidung Lizenzen für seine Marke. Der deutsche Bekleidungshersteller Ahlers ist der größte Lizenznehmer von Pierre Cardin im Europäischen Wirtschaftsraum. Pierre Cardin hat Ahlers bestimmte Lizenzgebiete für den Vertrieb der Kleidungsstücke zugewiesen.

Das bisherige Verfahren gegen Pierre Cardin und Ahlers

Im Januar 2022 hatte die Kommission ein Verfahren gegen Pierre Cardin und Ahlers eröffnet. Am 31. Juli 2023 (wie üblich kurz vor der Brüsseler Sommerpause) übersandte die Kommission Pierre Cardin und Ahlers nun ihre Mitteilung der Beschwerdepunkte (Statement of Objections), mit der sie die Parteien über ihre vorläufige kartellrechtliche Bewertung des Sachverhalts informierte und ihnen die Möglichkeit eröffnete, sich zu den Vorwürfen zu äußern.

Die Kommission ist im Zuge ihrer bisherigen Ermittlungen zu der vorläufigen Auffassung gelangt, dass Pierre Cardin und Ahlers gegen EU-Kartellrecht verstoßen haben, indem sie über mehr als ein Jahrzehnt hinweg den grenzüberschreitenden Verkauf von Bekleidungsstücken mit der Marke Pierre Cardin sowie den Verkauf dieser Produkte an bestimmte Kunden vereinbarungsgemäß eingeschränkt haben.

Die Anwendung des Kartellverbots bei Markenlizenzverträgen

Das Kartellverbot des Art. 101 Abs. 1 AEUV verbietet wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen zwischen Unternehmen. Ein Lizenzvertrag ist eine Vereinbarung zwischen Unternehmen. Bei der kartellrechtlichen Beurteilung der Klauseln des Lizenzvertrags ist zwischen dem Bestand des Markenrechts und dessen Ausübung zu differenzieren. Das Kartellverbot berührt nicht den Bestand des Markenrechts, es erfasst aber die Ausübung des Markenrechts mittels Vereinbarungen. Die Ausübung des Markenrechts kann dann unter Art. 101 Abs. 1 AEUV fallen, wenn sie den Gegenstand, das Mittel oder die Folge einer wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarung darstellt. Umgekehrt ist eine markenrechtliche Vereinbarung nicht wettbewerbsbeschränkend, wenn sie zum spezifischen Gegenstand des Markenrechts gehört und ihre Wahrnehmung in Ausübung des Markenrechts den spezifischen Gegenstand des Markenrechts verwirklicht. Kartellrechtsneutral sind danach z.B. Qualitätsvorgaben, eine Markenbenutzungspflicht oder das Verbot der Unterlizenzierung.

Vorwurf der Kommission: Absoluter Gebietsschutz

Pierre Cardin und Ahlers sollen vereinbart haben, die Möglichkeiten anderer Pierre-Cardin-Lizenznehmer und ihrer Kunden einzuschränken, von Pierre Cardin lizenzierte Bekleidungsstücke sowohl offline als auch online

  • in die EWR-Lizenzgebiete von Ahlers und/oder (Gebietsbeschränkung)
  • an Niedrigpreiseinzelhändler (wie Discounter), die den Verbrauchern in diesen Gebieten niedrigere Preise anbieten (Kundengruppenbeschränkung),

zu verkaufen.

Ziel der Vereinbarung soll ein absoluter Gebietsschutz zugunsten von Ahlers in dessen EWR-Lizenzgebieten gewesen sein. EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager betont insoweit auch die vermeintlichen Auswirkungen auf Verbraucher. Sie könnten daran gehindert worden sein, von niedrigeren Preisen und einer größeren Auswahl an Kleidung zu profitieren.

Kommission hält absoluten Gebietsschutz für kartellrechtswidrig

Absoluter Gebietsschutz bedeutet im Allgemeinen, dass den anderen Lizenznehmern nicht nur aktive Verkäufe in Lizenzgebiete anderer Lizenznehmer untersagt sind (also die gezielte Ansprache von Kunden), sondern auch passive Verkäufe (d.h. ein auf unaufgeforderte Anfragen einzelner Kunden zurückgehender Verkauf). Derartige Gebietsbeschränkungen hat die Kommission in der jüngeren Vergangenheit bereits mehrfach als kartellrechtswidrig bewertet und entsprechend bebußt (siehe u.a. Nike im März 2019, Bußgeld i.H.v. EUR 12,5 Mio.; Sanrio im Juli 2019, Bußgeld i.H.v. EUR 6,2 Mio.). Die Möglichkeit einer Freistellung vom Kartellverbot hat die Kommission dabei stets abgelehnt. 

Bandbreite unzulässiger Praktiken ist groß

Wie der absolute Gebietsschutz in den Lizenzverträgen zwischen Pierre Cardin und den weiteren Lizenznehmern ausgestaltet sein soll, ist bislang noch nicht öffentlich bekannt. Die Bandbreite denkbarer Praktiken ist groß: Neben ausdrücklichen Exportverboten im Lizenzvertrag mag man, wie im Nike-Fall, an die Verpflichtung zur Weiterleitung von Bestellungen aus dem Ausland an Pierre Cardin oder Ahlers, an Klauseln, mit denen bei Auslandsverkäufen doppelte Lizenzgebühren fällig werden oder an indirekte Maßnahmen, wie die Androhung der Kündigung bei Auslandsverkäufen oder die Verweigerung der Bereitstellung von Hologrammen mit der Kennzeichnung „offizielles Produkt“ im Falle der Möglichkeit von Lieferungen in andere EWR-Länder denken.

Vertikale Beschränkungen und Gebietsschutz bleiben ein „Hot Topic“

Das Verfahren gegen Pierre Cardin und Ahlers zeigt einmal mehr: Vertikale Beschränkungen (d.h. solche zwischen Unternehmen auf verschiedenen Stufen der Wertschöpfungskette, hier Lizenzgeber und Lizenznehmer) bleiben für die Kommission ein Hot Topic. Seit der Sektoruntersuchung zum E-Commerce im Mai 2017 bebußt die Kommission regelmäßig Unternehmen wegen vertikaler Beschränkungen (z.B. wegen Preisbindung gegen vier Elektronikhersteller). Primär im Fokus stehen dabei Gebietsbeschränkungen, online wie offline (wie z.B. bei den Vertriebsbeschränkungen durch Guess und Beschränkungen beim Vertrieb von Videospielen oder Hotelzimmern).

Lizenznehmer sollten ebenfalls für Kartellrechts-Compliance sorgen

Eher ungewöhnlich im vorliegenden Verfahren ist, dass neben dem Lizenzgeber Pierre Cardin mit Ahlers auch ein Lizenznehmer im Fokus der Kommission steht. Den Verstoß gegen das Kartellverbot begehen formal betrachtet zwar alle an der Vereinbarung beteiligten Unternehmen. Vielfach nehmen Lizenznehmer aber eine bloß „passive“ Rolle beim Kartellrechtsverstoß ein, indem sie den Lizenzvertrag schlicht abschließen und befolgen. Die Kommission berücksichtigt das bei ihrer Ermessensausübung und eröffnet in der Regel keine Verfahren gegen die bloßen „Mitläufer“. 

Dass nun auch Ahlers bebußt werden könnte, mag daran liegen, dass Ahlers als größter Lizenznehmer scheinbar aktiv und mit Pierre Cardin gemeinsam den Schutz der eigenen Lizenzgebiete vorangetrieben hat. Pierre Cardin und Ahlers sollen laut Kommission eine Strategie gegen Parallelimporte und Verkäufe an bestimmte Kundengruppen entwickelt haben. Das zeigt: Lizenznehmer oder Abnehmer von Lieferanten (Groß- und Einzelhändler) sollten ebenso für eine kartellrechtskonforme Ausgestaltung der Vertriebsbeziehung sorgen, jedenfalls aber keine kartellrechtswidrigen Praktiken einfordern oder bestärken.

Ausblick: Bußgeld denkbar

Pierre Cardin und Ahlers erhalten nun Gelegenheit zur Stellungnahme. Sollte sich die vorläufige Auffassung der Kommission aber bestätigen, würde die Kommission die Praktiken per Entscheidung verbieten und ggf. bebußen (mit jeweils bis zu 10 % des weltweiten Jahresumsatzes der Unternehmensgruppe). Angesichts des in Rede stehenden absoluten Gebietsschutzes scheint ein Bußgeld dann sogar wahrscheinlich. Die Kommission geht nämlich grundsätzlich besonders hart gegen Praktiken vor, die kartellrechtswidrig den europäischen Verbrauchern die wesentlichen Vorteile des europäischen Binnenmarkts vorenthalten (grenzüberschreitende Einkaufsmöglichkeiten für mehr Auswahl und günstigere Angebote). Pierre Cardin und Ahlers können aber mit der Kommission kooperieren und sich so eine Bußgeldreduzierung erarbeiten.

Zur Vertiefung: Schöner/Schlimpert, in: Bauer/Rahlmeyer/Schöner, Handbuch Vertriebskartellrecht, 1. Aufl. 2020, § 30 Markenlizenzverträge (erscheint bald in 2. Auflage)

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