Neue Bußgeldpraxis der Europäischen Kommission bei Verfahrensverstößen in Kartellbußgeldverfahren.
Die Europäische Kommission verhängt erstmals isolierte Bußgelder in einem Kartellverfahren wegen der fehlerhaften Beantwortung eines Auskunftsbeschlusses. Dabei handelt es sich bereits um die zweite Entscheidung innerhalb kurzer Zeit, mit der die Europäische Kommission eigenständige Geldbußen wegen Verstößen gegen Verfahrensvorschriften in Kartellverfahren verhängt. In beiden Entscheidungen reduzierte die die Europäische Kommission die Geldbußen aufgrund der Kooperationsbemühungen der Unternehmen im Zuge der Aufklärung der Verstöße. Für die Reduktion und das Verfahren stützt sich die Europäische Kommission auf eine sinngemäße Anwendung der Settlement Notice.
Der Fall Eurofield SAS und Unanime Sport SAS
Im September 2025 verhängte die Europäische Kommission ein Bußgeld gegen Eurofield SAS und deren Muttergesellschaft Unanime Sport SAS in Höhe von ca. EUR 172.000 wegen der unvollständigen Beantwortung eines Auskunftsbeschlusses nach Art. 18 Abs. 3 VO (EG) 1/2003 im Zuge eines Kartellverfahrens im Kunstrasensektor. Dem Auskunftsbeschluss waren eine Nachprüfung (sog. „Dawn Raid“) und ein einfaches Auskunftsverlangen nach Art. 18 Abs. 2 VO (EG) Nr. 1/2003 gegen Eurofield SAS vorangegangen. Die Europäische Kommission wurde hellhörig, nachdem sie die Antworten von Eurofield SAS auf das einfache Auskunftsverlangen und den Auskunftsbeschluss mit den Unterlagen und Informationen verglich, die sie im Zuge des Dawn Raids bei Eurofield SAS aufgefunden hatte.
Für einen solchen Verfahrensverstoß sieht Art. 23 Abs. 1 lit. b VO 1/2003 ein Bußgeld in Höhe von bis zu 1% des im vorangegangenen Geschäftsjahr erzielten Gesamtumsatz vor. Die Europäische Kommission betrachtet den Verstoß als schwerwiegend, auch wenn er möglicherweise nur fahrlässig begangen wurde. Zur grundsätzlichen Bedeutung von Auskunftsverlangen führt die Europäische Kommission aus:
Auskunftsverlangen sind ein wichtiges Instrument zur Aufdeckung von Kartellverstößen. Wenn Unternehmen unsere Auskunftsverlangen nicht vollständig beantworten, kann das unsere Untersuchungen stark behindern. Mit dem heutigen Beschluss wird erstmals in einem Kartellverfahren wegen eines solchen Verfahrensverstoßes eine Geldbuße gegen ein Unternehmen verhängt. Wir werden nicht zögern, ähnliche Vorkommnisse auch in Zukunft zu ahnden, damit unsere Untersuchungen zum Nutzen der Verbraucher wirksam durchgeführt werden können. – Teresa Ribera, Exekutiv-Vizepräsidentin, 8. September 2025
In der Konsequenz verhängte die Europäische Kommission ein Bußgeld in Höhe von 0,3% des Gesamtumsatzes von Eurofield SAS und Unanime Sport SAS.
Eurofield SAS und Unanime Sport SAS konnten eine Reduzierung des Bußgeldes in Höhe von 30% durch ihre umfassende Kooperation mit der Europäischen Kommission bei der Aufklärung des Verstoßes erreichen. Dazu haben die Unternehmen insbesondere unmittelbar nach Bekanntgabe des potenziellen Verstoßes durch die Kommission proaktiv mit der Europäischen Kommission zusammengearbeitet, über die als fehlend erkannten Unterlagen hinausgehende Informationen bereitgestellt und ihre Haftung für eine Zuwiderhandlung gegen die EU-Wettbewerbsvorschriften einschließlich des Sachverhalts und der rechtlichen Beurteilung anerkannt. Dabei wendete die Europäische Kommission nun bereits schon zum zweiten Mal die Grundsätze der Settlement Notice an. Eine unmittelbare Anwendung scheidet für Verfahrensverstöße aus, da die Settlement Notice für einen Vergleich über den Abschluss des Kartellbußgeldverfahrens der Europäischen Kommission Anwendung findet. Zudem sieht sie nur eine Bußgeldreduktion von bis zu 10% vor.
Der Fall International Flavors & Fragrances Inc.
In einer ähnlichen Situation verhängte die Kommission bereits im Juni 2024 ebenfalls erstmalig eine eigenständige Geldbuße iHv EUR 15,9 Mio. für den Verstoß gegen Verfahrensvorschriften für Unternehmen, die Gegenstand einer kartellrechtlichen Untersuchung sind. Hier behinderte International Flavors & Fragrences Inc. („IFF“) die Europäische Kommission bei der Durchführung eines Dawn Raids (Art. 20, 21 VO 1/2003), indem ein leitender Mitarbeiter während des Dawn Raids von seinem Mobiltelefon WhatsApp-Nachrichten mit einem Wettbewerber löschte.
Durch dieses vorsätzliche Löschen von WhatsApp-Nachrichten waren die von IFF vorgelegten Unterlagen unvollständig in Sinne von Art. 23 Abs. 1 lit. c VO 1/2003. Die Europäische Kommission betrachtete das Verhalten, das zu einer Behinderung der Nachprüfung führte („Obstruction“) als vorsätzliches Verhalten und verhängte ein Bußgeld in Höhe von 0,3% des Gesamtumsatzes von IFF.
Auch in diesem Fall gestand IFF den Fehler unmittelbar und noch während des Dawn Raids ein und kooperierte sehr umfassend mit der Europäischen Kommission. Insbesondere konnten die gelöschten Nachrichten wiederhergestellt werden. Dies führte zu einer Reduktion des Gesamtbußgeldes in Höhe von 50%. Auch bereits in diesem Fall wendete die Europäische Kommission für die Reduktion des Bußgeldes und den Ablauf des Kooperationsverfahrens die Settlement Notice an.
Europäische Kommission verschärft Bußgeldpraxis für Verfahrensverstöße – Bußgeldreduktionen sind möglich
Die beiden Entscheidungen innerhalb kurzer Zeit machen deutlich, dass die Europäische Kommission ihre bisherige Praxis zu Verfahrensverstößen im Zuge von Kartellbußgeldverfahren deutlich verschärft hat. In der Vergangenheit wurden – wenn überhaupt – Verfahrensverstöße im Zuge der Bebußung des Kartellrechtsverstoßes bußgelderhöhend berücksichtigt. Lediglich für den Ausnahmefall eines Siegelbruchs hat die Europäische Kommission in zwei Entscheidungen 2008 und 2011 Bußgelder wegen Verfahrensverstößen verhängt.
Für Unternehmen folgt aus dieser Entwicklung die Notwendigkeit, in Kartellbußgeldverfahren noch größere Sorgfalt walten zu lassen; sei es im Zuge von Dawn Raids oder bei der Beantwortung von Auskunftsersuchen und Auskunftsbeschlüssen der Europäischen Kommission. Sollte es dennoch zu Verfahrensverstößen in Kartellbußgeldverfahren kommen, besteht durch eine unmittelbare und umfassende Kooperation mit der Europäischen Kommission zumindest die Möglichkeit, das Maximalbußgeld signifikant zu reduzieren.