15. Juli 2024
Inverkehrbringen medizinische Software
Life Sciences & Healthcare

OLG Hamburg zum Inverkehrbringen medizinischer Software

Software darf als Medizinprodukt nur auf den Markt kommen, wenn sie richtig zertifiziert ist. Ansonsten droht ein Verbot – wie jetzt vom OLG Hamburg verhängt.  

In dem wettbewerbsrechtlichen Eilverfahren standen sich zwei Anbieter von Apps im Bereich der Dermatologie gegenüber. Mit der Hautcheck-App der Antragsgegnerin können Patienten Bilder ihrer Hautleiden an Hautärzte senden. Zusätzlich müssen sie einen in Kooperation mit Hautärzten entwickelte Anamnese-Fragebogen ausfüllen, der je nach Patientenanliegen modifiziert wird. Basierend auf den so übermittelten Informationen erhält der Patient eine ärztliche Diagnose sowie gegebenenfalls Behandlungsvorschläge und ein Rezept. 

Kern der gerichtlichen Auseinandersetzung war die Frage, ob die Software verkehrsfähig ist. Durfte sie so überhaupt auf den Markt gebracht werden oder hätte sie anders – nämlich intensiver – geprüft und zertifiziert werden müssen?

Wettbewerbsrechtlicher Unterlassungsanspruch wegen MDR-Verstoßes

Die Antragsgegnerin hatte ihre Software gemäß der Zweckbestimmung als Medizinprodukt nach der EU-Medizinprodukteverordnung (MDR) qualifiziert. Sie sollte offenbar – vermutlich aus Gründen der Erstattung durch gesetzliche Krankenkassen und der Teilnahme an Ausschreibungsverfahren – auch so eingeordnet werden, selbst wenn es aufgrund der Funktionalität vielleicht andere Optionen gegeben hätte. Die Einordnung als Medizinprodukte stand zwischen den Parteien daher nicht im Streit. 

Eingeordnet hatte die Antragsgegnerin ihr Produkt in die Risikoklasse I. Das hielt die Antragstellerin – eine direkte Wettbewerberin – für unzulässig. Ihrer Meinung nach handelt es sich um ein Produkt, das mindestens gemäß der höheren Klasse IIa zu klassifizieren sei. Im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes beantragte sie, es der Antragsgegnerin zu verbieten, die Software unter ihrer Zweckbestimmung in den Verkehr zu bringen oder auf dem Markt bereitstellen zu lassen, solange sie nicht als Medizinprodukt der Klasse IIa, IIb oder III nach Anhang VIII, Regel 11 der MDR qualifiziert ist. 

Nachdem es in der ersten Instanz unterschiedliche Entscheidungen gab, gab das OLG Hamburg der Antragstellerin im Berufungsverfahren mit Urteil vom 20. Juni 2024 nun Recht (OLG Hamburg, Urteil v. 20. Juni 2024 – 3 U 3/24). Es entschied, dass die Hautcheck-App mit der Zweckbestimmung zur

asynchronen Untersuchung von Hautveränderungen mittels Aufnahme, Speicherung, Anzeigen und Übermittlung von digitalem Bildmaterial von den betroffenen Hauptarealen, sowie die Beantwortung eines Anamnesebogens und der Kommunikation (Chat) mit Fachärzten

 nicht auf dem Markt bereit gestellt werden darf, solange sie nicht als Medizinprodukt der Klasse lla, Ilb oder III nach Anhang VIII, Regel 11 Verordnung (EU) 2017/745 zertifiziert ist.

Weites Verständnis der Klassifizierungsregel zu Software (Regel 11 MDR)

Das OLG Hamburg stellt in seiner ausführlich begründeten Entscheidung maßgeblich auf die Auslegung der Regel 11 im Anhang VIII der MDR ab. Die vorgelagerte Frage, ob die Software überhaupt als Medizinprodukt zu qualifizieren ist oder als reines Kommunikations-Tool schon gar nicht in den Anwendungsbereich der MDR fällt, streift es nur kurz. Da dieser Punkt zwischen den Parteien in dem zivilrechtlichen Eilverfahren unstreitig war, musste es die Frage aus prozessualen Gründen nicht unbedingt entscheiden, sondern konnte sich auf die streitige Frage der Klassifizierung konzentrieren. 

Nach Art. 51 MDR werden Medizinprodukte unter Berücksichtigung ihrer Zweckbestimmung und der damit verbundenen Risiken in die Klassen I, IIa, IIb und III eingestuft. Die Klassifizierung erfolgt gemäß Anhang VIII. Regel 11 dieses Anhangs bestimmt:

Software, die dazu bestimmt ist, Informationen zu liefern, die zu Entscheidungen für diagnostische oder therapeutische Zwecke herangezogen werden, gehört zur Klasse IIa […]. Sämtliche andere Software wird der Klasse I zugeordnet.

Die Klassifizierung ist praktisch vor allem deshalb relevant, weil für Produkte der Klasse IIa oder höher die Einbindung einer Benannten Stelle erforderlich wird. Das für die Verkehrsfähigkeit erforderliche CE-Kennzeichen darf dann nur nach Zertifizierung durch eine solche Benannte Stelle angebracht werden. Bei Produkten der Klasse I kann der Hersteller selbst die Konformität bestätigen. 

Die Antragsgegnerin trug zur Einordnung in Klasse I im Kern vor, dass das Übermitteln von medizinischen Informationen durch ihre App nicht unter den Begriff des „Liefern“ im Sinne der Regel 11 passe, sondern nur ein „einfaches“ Liefern darstelle. Es erfolge eine bloße Übermittlung von medizinischen Informationen ohne eigene diagnostische Auswertung, Bewertung oder Analyse. Das sah die Antragstellerin anders. Das OLG Hamburg entschied nun ebenso. 

Zunächst würde es zu Unsicherheiten führen, wenn man zwischen dem Liefern von „einfachen“ und „qualifizierten“ medizinischen Informationen unterscheide. Da die App vorher gesammelte und gespeicherte medizinische Informationen an den Arzt liefere, diese Informationen zu Entscheidungen für diagnostische oder therapeutische Zwecke herangezogen würden und überwiegend die einzige Grundlage der ärztlichen Diagnose und Therapieempfehlung darstellten, sei die Software unter den ersten Satz der Regel 11 zu fassen. Entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin verlange Regel 11 nicht,

dass die Software selbst Diagnosen erstellt oder Informationen generiert, produziert, hervorbringt oder herstellt, indem z. B. die Software eine eigenständige Auswertung/Analyse oder diagnostische Bewertung der mitgeteilten, gemessenen oder fotografierten Daten und Bilder vornimmt.

Eine Software, die selbst Diagnosen erstelle, sei vielmehr schon unter die Regel 10 des Anhangs VIII zu fassen.

Hinzu komme, dass die App – unstreitig – so programmiert sei, dass die Diagnoseeinschätzung und Antworten des Patienten Einfluss auf die weiter gestellten Fragen und damit Einfluss auf die an die Hautärzte gelieferten Informationen hätten. Somit liefere die App das Ergebnis einer strukturierten Erhebung medizinischer Daten. 

Hohes Gesundheitsschutzniveau der MDR

Auch die weiteren Argumente der Antragsgegnerin konnten das Gericht nicht überzeugen. Nach Ansicht des OLG Hamburg sei Software nicht nur dann als Medizinprodukt der Klasse IIa (oder höher) zu qualifizieren, wenn ihr Einsatz die Risiken für den Patienten im Vergleich zur ärztlichen Behandlung vor Ort entscheidend erhöhe. Auch würde eine einschränkende Auslegung der Regel 11 im Widerspruch zum Zweck der MDR stehen, ein hohes Gesundheitsschutzniveau für Patienten und Anwender sicherzustellen. Der vom Europäischen Gerichtshof kreierte Auslegungsgrundsatz des effet utile, nach dem unionsrechtlichen Vorschriften bei Auslegungszweifeln die größtmögliche Wirkung zukommen soll, spreche ebenfalls dagegen, die Regel 11 wie von der Antragsgegnerin vorgebracht einschränkend auszulegen.

Medizinprodukterechtliche Bewertung frühzeitig in den Blick nehmen

Das Urteil des OLG Hamburg ist von erheblicher praktischer Bedeutung für digitale Angebote im Gesundheitsbereich. Das zeigt sich schon daran, dass es von zahlreichen Medien, auch außerhalb der Fachpresse, aufgegriffen, eingeordnet und mit Blick auf ihre praktischen Auswirkungen – durchaus kontrovers – besprochen wurde. 

Unabhängig von der Frage, ob das OLG Hamburg hier im konkreten Einzelfall eine zu weite Auslegung der Klassifizierungsregeln vorgenommen hat oder nicht, und ebenfalls unabhängig von der Frage, ob Produkte mit ähnlichen Funktionen überhaupt als Medizinprodukte eingestuft werden müssen oder nicht, zeigt die Entscheidung vor allem Folgendes:

  • Hersteller medizinischer Software sollten sich sehr genau überlegen, wie sie die Zweckbestimmung ihres Produktes fassen und welche Funktionalitäten die Software hat. Hier können sie zumindest in Grenzfällen die Weichen stellen, ob die Software außerhalb des medizinprodukterechtlichen Rahmens entwickelt und vertrieben werden kann, oder ob sie unter die Vorgaben der MDR fällt. Für beides kann es gute Argumente geben, man sollte sich nur der jeweiligen Konsequenzen der Einordnung bewusst sein.
  • Wer sich für die Einordnung als Medizinprodukt entscheidet, sollte genau prüfen, in welche Klasse das Produkt einzuordnen ist – angesprochen ist damit die Regel 11. Hier gibt es einigen Argumentationsspielraum, abhängig von der konkreten Zweckbestimmung, der konkreten Funktionalität des Produktes und der Verwendung der erzeugten Daten. Das wird auch nach dem Urteil des OLG Hamburg, das lediglich einen Einzelfall zu entscheiden hatte, so bleiben.
  • Das praktische Risiko eines gerichtlichen Verbots ist real. Ebenso real ist die Chance, seine eigene Überzeugung der Produkteinordnung mit gerichtlicher Hilfe durchzusetzen. Hier zeigt sich das durchaus scharfe Schwert des deutschen Wettbewerbsrechts und des Wettbewerbsprozesses, insbesondere des Eilrechtsschutzes. Gerade im internationalen Vergleich ist dieses Instrument besonders und wird zuweilen unterschätzt. 
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