Die Feststellung eines "potenziellen Fehlers" kann genügen, um ein implantierbares Medizinprodukt als fehlerhaft einzustufen und eine Haftung zu begründen.
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat zum Produkthaftungsrecht bei Medizinprodukten geurteilt: Die Feststellung eines „potenziellen Fehlers″ kann genügen, um ein implantierbares Medizinprodukt als fehlerhaft einzustufen und eine Haftung zu begründen.
In den Verfahren, über die wir hier bereits berichtet hatten, geht es verkürzt gesagt um Folgendes: Kann ein implantierbares Medizinprodukt als fehlerhaft gelten, wenn ein Defekt des individuellen Produkts selbst gar nicht festgestellt ist? Diese spontan wohl häufig mit „nein″ beantwortete Frage hatte der Generalanwalt beim EuGH in seinen Schlussanträgen bejaht. Auch der EuGH legt den Fehlerbegriff in seinem lang erwarteten Urteil nun weit aus (Urteil vom am 5.032015, Verbundene Rechtssachen C 503/13 und C 504/13).
Krankenkassen forderten Geld vom Hersteller für ausgetauschte Implantate
In beiden Fällen ging es um Herzschrittmacher und Defibrillatoren eines amerikanischen Herstellers. Der Hersteller sprach nach internen Qualitätskontrollen Sicherheitshinweise aus, weil der Verdacht der Fehlerhaftigkeit der Produkte bestand. Einige der Implantate wurden daraufhin auf Wunsch der Patienten ausgetauscht. Dafür fordern die Krankenkassen die Kosten vom Hersteller zurück.
Beide Fälle gingen durch die Instanzen bis zum Bundesgerichtshof (BGH), der zur Klärung dem EuGH zwei Fragen zur Präzisierung des Fehlerbegriffs und zum Umfang des zu ersetzenden Schadens vorlegte.
Zum rechtlichen Rahmen
Auslegungsfrage und Kern des Rechtsstreits ist, ob bereits ein Fehler im Sinne von § 1 ProdHaftG bzw. Art. 6 der Richtlinie 85/374/EWG vorliegt, wenn dieser zwar nicht in Bezug auf das konkret betroffene Produkt festgestellt wird, jedoch ein begründeter Verdacht dafür vorliegt (1. Vorlagefrage). Es stellt sich also die Frage, ob ein in den menschlichen Körper implantiertes medizinisches Gerät wie etwa ein Herzschrittmacher schon dann als fehlerhaft zu qualifizieren ist, wenn es die gleichen Merkmale hat wie andere Geräte, von denen erwiesen ist, dass sie ein nennenswert höheres Ausfallrisiko haben als normal.
Notwendige Folgefrage ist, ob der zu ersetzende Schaden auch die Kosten der Explantation des möglicherweise fehlerhaften Produkts sowie die Kosten der Implantation eines neuen Implantats umfasst (2. Vorlagefrage).
Generalanwalt bejaht Fehler und Kostenerstattung
Der Generalanwalt sprach sich in seinen Schlussanträgen vom 21. Oktober 2014 für eine weite Lesart des Fehlerbegriffs aus. Ein in den Körper eines Patienten implantiertes medizinisches Gerät sei als fehlerhaft im Sinne von Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 85/374/EWG zu betrachten. Es reiche aus, dass es die gleichen Merkmale aufweise wie andere Geräte, von denen erwiesen sei, dass sie ein nennenswert höheres als das normale Ausfallrisiko hätten oder es bei einer beträchtlichen Anzahl von ihnen bereits zu Ausfällen gekommen sei.
Die zweite Vorlagefrage bejahte der Generalanwalt ebenfalls. Weise das Produkt einen wie oben beschriebenen Fehler auf, so gehörten auch die Kosten für das Explantieren und Neuimplantieren zu dem zu ersetzenden Schaden. Dies solle allerdings nur gelten, wenn ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem sich aus dem Ausfallrisiko ergebenden Fehler und dem konkreten Schaden bestehe.
EuGH: Feststellung eines potenziellen Fehlers bei Produkt derselben Produktgruppe ausreichend
In seinem nur knapp begründeten Urteil legt auch der EuGH eine weite Lesart des Fehlerbegriffs zugrunde. Einleitend gibt er die vom BGH gestellte Vorlagefrage in leicht modifizierter Form wieder und führt dabei den Begriff des „potenziellen Fehlers″ ein: Mit seiner ersten Frage wolle das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 85/374 dahin auszulegen sei, dass ein Produkt, das zu einer Gruppe oder Produktionsserie von Produkten wie Herzschrittmachern und implantierbaren Cardioverten Defibrillatoren gehöre, bei denen ein potenzieller Fehler festgestellt worden sei, als fehlerhaft eingestuft werden könne, ohne dass der Fehler bei diesem Produkt festgestellt zu werden brauche.
Der EuGH rekurriert sodann auf Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 85/374/EWG. Demnach sei ein Produkt fehlerhaft, wenn es nicht die Sicherheit biete, die man unter Berücksichtigung aller Umstände, insbesondere der Darbietung dieses Produkts, seines Gebrauchs, mit dem billigerweise gerechnet werden könne, und des Zeitpunkts, zu dem es in den Verkehr gebracht werde, zu erwarten berechtigt sei. Er stellt fest, dass diese Beurteilung „anhand der berechtigten Erwartungen der Allgemeinheit vorzunehmen″ sei (Tz. 37) und führt dann aus (Tz. 38):
Bei medizinischen Geräten wie den in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Herzschrittmachern und implantierbaren Cardioverten Defibrillatoren sind die Anforderungen an ihre Sicherheit, die die Patienten zu erwarten berechtigt sind, in Anbetracht ihrer Funktion und der Situation besonderer Verletzlichkeit der diese Geräte nutzenden Patienten besonders hoch.
Aus der Tatsache, dass – wie der Generalanwalt ausgeführt habe – der potenzielle Mangel an Sicherheit bei den in Rede stehenden Produkten in der „anormalen Potenzialität eines Personenschadens″ bestehe, der durch die Produkte verursacht werden könne, leitet der EuGH ab:
Daher können im Fall der Feststellung eines potenziellen Fehlers solcher Produkte derselben Produktgruppe oder Produktionsserie alle Produkte dieser Gruppe oder Serie als fehlerhaft eingestuft werden, ohne dass ein Fehler des betreffenden Produkts nachgewiesen zu werden braucht.
Diese Auslegung stehe im Einklang mit den vom Unionsgesetzgeber verfolgten Zielen. Die erste Vorlagefrage beantwortet der EuGH auf dieser Basis wie folgt:
Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 85/374/EWG des Rates vom 25. Juli 1985 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung für fehlerhafte Produkte ist dahin auszulegen, dass ein Produkt, das zu einer Gruppe oder Produktionsserie von Produkten wie Herzschrittmachern und implantierbaren Cardioverten Defibrillatoren gehört, bei denen ein potenzieller Fehler festgestellt wurde, als fehlerhaft eingestuft werden kann, ohne dass der Fehler bei diesem Produkt festgestellt zu werden braucht.
Kosten für Operation können ersatzfähig sein
Bei der Beantwortung der Frage nach dem Umfang des ersatzfähigen Schadens differenziert der EuGH. Im Grundsatz gelte, dass für den durch einen Fehler eines Produkts erlittenen Schaden eine angemessene und vollständige Entschädigung der Geschädigten sichergestellt werden müsse (Tz. 46). Da der Schadensersatz alles umfasse, was erforderlich sei, um die Schadensfolgen zu beseitigen und das Sicherheitsniveau wiederherzustellen, solle der Schadensersatz bei fehlerhaften medizinischen Geräten wie Herzschrittmachern und implantierbaren Cardioverten Defibrillatoren, unter anderem auch die Kosten im Zusammenhang mit dem Austausch des fehlerhaften Produkts einschließen (Tz. 50).
Sofern der Hersteller einen Austausch des Produktes ausdrücklich empfohlen habe, spreche dies für die Einbeziehung der entsprechenden Kosten in den ersatzfähigen Schaden. Die Beurteilung könne aber anders ausfallen, wenn lediglich empfohlen worden sei, eine Funktion des medizinischen Geräts zu deaktivieren (Tz. 52 f.).
Im Ergebnis beantwortet der EuGH die zweite Vorlagefrage wie folgt:
Die Art. 1 und 9 Satz 1 Buchst. a der Richtlinie 85/374 sind dahin auszulegen, dass es sich bei dem durch eine chirurgische Operation zum Austausch eines fehlerhaften Produkts wie eines Herzschrittmachers oder eines implantierbaren Cardioverten Defibrillators verursachten Schaden um einen ‚durch Tod und Körperverletzungen verursachten Schaden‘ handelt, für den der Hersteller haftet, wenn diese Operation erforderlich ist, um den Fehler des betreffenden Produkts zu beseitigen. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob diese Voraussetzung in den Ausgangsverfahren erfüllt ist.
Knappe Begründung des EuGH lässt Fragen offen
Nach dem Generalanwalt hat sich nun auch der EuGH für eine weite Auslegung des Fehlerbegriffs ausgesprochen – zumindest hinsichtlich der konkret betroffenen implantierbaren Medizinprodukte in Form vom Herzschrittmachern und implantierbaren Cardioverten Defibrillatoren, bei denen die Funktionalität über Leben und Tod entscheiden kann.
Nach Auffassung des EuGH soll ein solches Produkt als fehlerhaft eingestuft werden können, ohne dass ein Fehler des betreffenden Produkts im Einzelfall nachgewiesen zu werden braucht, wenn das Produkt zu einer Produktgruppe oder Produktionsserie gehört und wenn in Bezug auf ein Produkt eben dieser Produktgruppe oder Produktionsserie ein potenzieller Fehler festgestellt worden sei.
Die Begründung des EuGH fällt äußerst knapp aus. Was genau der EuGH unter dem Begriff des „potenziellen Fehlers″ versteht und anhand welcher Kriterien dieser festgestellt werden soll, bleibt unklar. Jedenfalls soll die berechtigte Sicherheitserwartung zumindest bei medizinischen Geräten wie denen des Ausgangsverfahrens aus Sicht der Patienten – nicht der Ärzte – zu beurteilen sein. Im konkreten Fall sei sie hoch.
Zum ersatzfähigen Schaden zählt der EuGH auch die Kosten für den Austausch eines fehlerhaften Medizinprodukts – jedenfalls dann, wenn ein solcher Austausch vom Hersteller ausdrücklich empfohlen worden sei.
Aufgrund der knappen Begründung des EuGH bleiben eine Reihe von Abgrenzungsfragen offen. Die Entscheidung dürfte für Hersteller von implantierbaren Medizinprodukten wie den in Rede stehenden dennoch tendenziell zu einer Verschärfung der produkthaftungsrechtlichen Exposure führen. Ob und inwieweit sich die Ausführungen des EuGH auch auf andere Arten von Medizinprodukten oder sogar andere Produktkategorien übertragen lassen, wird die weitere produkthaftungsrechtliche Praxis zeigen. Für die Bewertung und den strategischen Umgang mit Produkthaftungsrisiken ist das aktuelle Urteil in jedem Fall mit zu berücksichtigen.