Der EuGH stellt in einer aktuellen Entscheidung fest, dass anerkannte Umweltvereinigungen befugt sind, mit der Verbandsklage auch die behördliche Zulassung von Produkten anzugreifen.
Die Deutsche Umwelthilfe e.V. (DUH) hatte Klage gegen eine Typengenehmigung von Kraftfahrzeugen des deutschen Kraftfahrt-Bundesamts (KBA) eingelegt. In diesem Rahmen stellte sich die Frage, ob ein Umweltverband befugt ist, eine solche Produktzulassung anzufechten. Im Rahmen des vom Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgericht eingeleiteten Vorabvorlageverfahrens (Rs. C-873/19) musste sich der Europäische Gerichtshof (EuGH) erneut mit den Vorschriften des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes (UmwRG) und der Reichweite der Bestimmungen des Übereinkommens von Aarhus über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten (Aarhus-Konvention) auseinandersetzen. Wie bereits zuvor kam der EuGH in seinem Urteil vom 8. November 2022 zu dem Ergebnis, dass die deutsche Umsetzung nicht den Vorgaben der Aarhus-Konvention genügt.
Vorlage an den EuGH im Verfahren um sog. „Thermofenster“ bei Dieselmotoren
Gegenstand des Ausgangsverfahrens war die vom KBA erteilte Genehmigung eines Updates der Motorsteuerungssoftware für den durch den „Diesel-Skandal“ bekannt gewordenen VW-Dieselmotor des Typs EA189. Das vom KBA zugelassene Update sieht eine abgestufte Abgasrückführungsrate vor, die bei einer Umgebungstemperatur unter –9 Grad Celsius bei 0 % und erst ab einer Umgebungstemperatur von 15 Grad Celsius bei 100 % liegt (sog. „Thermofenster“). Die DUH machte insbesondere geltend, die in Rede stehenden Fahrzeuge seien insoweit mit einer nach Art. 5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 715/2007 unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet.
Verwaltungsgericht hielt Umweltvereinigung für nicht klagebefugt
Das Verwaltungsgericht ging wie bereits in einer früheren Entscheidung zu einem vergleichbaren Sachverhalt (Urteil v. 13. Dezember 2017 – 3 A 26/17) davon aus, dass die DUH nicht klagebefugt sei. Es fehle an einer subjektiven Rechtsverletzung und eine Klagebefugnis ließe sich auch nicht aus dem UmwRG ableiten. Nach dem UmwRG sind nur Rechtsbehelfe gegen die Zulassung von Vorhaben unter Anwendung umweltbezogener Rechtsvorschriften zulässig. Durch die angegriffene Entscheidung werde aber kein „Vorhaben“, sondern ein „Produkt“ genehmigt. Auch eine analoge Anwendung des UmwRG scheide aus, weil der Gesetzgeber die Anwendung auf den Produktbereich und insbesondere auf die Zulassung von Kraftfahrzeugen im Rahmen der Novelle des UmwRG 2017 bewusst außen vor gelassen habe.
Begriff der „umweltbezogenen Bestimmungen“ denkbar weit auszulegen
In seinem Urteil geht der EuGH von einem weiten Begriff der „umweltbezogenen Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts“ aus. Der EuGH stützt sich dabei zum einen auf die Definition des Begriffs „Umweltrecht“ in Art. 2 Abs. 1 f) der Verordnung 1367/2006 über die Anwendung der Aarhus-Konvention auf Organe und Einrichtungen der Gemeinschaft. Danach umfasst das Umweltrecht alle Rechtsvorschriften der Gemeinschaft, die „unabhängig von ihrer Rechtsgrundlage“ den im Vertrag niedergelegten Zielen der gemeinschaftlichen Umweltpolitik – u.a. Erhaltung und Schutz der Umwelt sowie Verbesserung ihrer Qualität, Schutz der menschlichen Gesundheit sowie umsichtige und rationelle Verwendung der natürlichen Ressourcen – Rechnung tragen.
Zum anderen bestätige auch der Leitfaden zur Durchführung des Übereinkommens von Aarhus, der als erläuterndes Dokument angesehen werden könne, dass der Begriff der umweltbezogenen Bestimmungen denkbar weit zu verstehen sei. So sei nach diesem Leitfaden allein entscheidend, dass eine fragliche Bestimmung in „irgendeiner Weise einen Umweltbezug“ aufweise. Beispielhaft genannt werden in dem Leitfaden Bestimmungen über den Städtebau, die Umweltsteuern, die Kontrolle von chemischen Erzeugnissen oder Abfällen, die Ausbeutung natürlicher Ressourcen sowie die Verschmutzung durch Schiffe. Auch Vorschriften mit rein technischem Charakter können daher nach Auffassung des EuGH als „umweltbezogene Bestimmungen“ i.S.d. Aarhus-Konvention angesehen werden.
Eingeschränkter Spielraum für verfahrenstechnische Ausgestaltung von Umwelt-Rechtsbehelfen
Der EuGH geht davon aus, dass die EU-Mitgliedsstaaten grds. berechtigt sind, verfahrensrechtliche Vorschriften über die Voraussetzungen der Einlegung von Umwelt-Rechtsbehelfen zu erlassen. Sie dürften den sachlichen Anwendungsbereich des Rechtsbehelfs nach der Aarhus-Konvention allerdings nicht dahingehend einschränken, dass sie bestimmte Kategorien von Bestimmungen des nationalen Umweltrechts von der Möglichkeit einer Klage ausnehmen.
Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz mit Unionsrecht nicht vereinbar
Der EuGH stellt in diesem Zusammenhang ausdrücklich fest, dass Vorschriften, die verhindern, dass ein Rechtsbehelf gegen die Zulassung eines „Produkts“, die EG-Typengenehmigung für Kraftfahrzeuge, eingelegt werden kann, gegen die Aarhus-Konvention und damit gegen EU-Recht verstoßen. Die nationalen Vorschriften müssen auch Rechtsbehelfe gegen umweltbezogene „Produktzulassungen“ ermöglichen. Die in der Gesetzesbegründung zum Ausdruck kommende Absicht des deutschen Gesetzgebers, den gesamten Produktbereich und insbesondere die Zulassung von Kraftfahrzeugen dem Anwendungsbereich des UmwRG zu entziehen, ist daher nicht mit den Vorgaben der Aarhus-Konvention zu vereinbaren.
Recht zur Klage gegen Produktzulassungen darf dem Umweltverband nicht vorenthalten werden
Im Hinblick auf die Rechtsfolgen der Rechtsverletzung stellt der EuGH erneut klar, dass die Aarhus-Konvention keine unmittelbare Wirkung im Unionsrecht entfalte und somit eine Klagebefugnis nicht unmittelbar hierauf gestützt werden könne. Allerdings folge schon aus dem Vorrang der von der Union geschlossenen völkerrechtlichen Verträge, dass das nationale Recht so weit wie möglich so ausgelegt werden müsse, dass es den Anforderungen der Regelungen in den Verträgen entspricht. Darüber hinaus sei aber auch zu beachten, dass Art. 47 der Grundrechte-Charta der Europäischen Union die Mitgliedsstaaten verpflichte, einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz zu gewährleisten. Selbst wenn eine europarechtskonforme Auslegung der bestehenden Vorschriften nicht möglich ist, habe das vorlegende Gericht daher die Bestimmungen des nationalen Rechts unangewendet zu lassen, die eine Klage der DUH verhindern.
Produktzulassungen als neues Feld für Climate Change Litigation
Die Entscheidung des EuGH kommt leider nicht überraschend. Art. 9 Abs. 3 der Aarhus-Konvention ist eine Beschränkung des Anfechtungsrechts auf nur bestimmte umweltbezogene Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts nicht zu entnehmen. Die Entscheidung des Gesetzgebers, den Produktbereich vom Anwendungsbereich des UmwRG auszuschließen, wurde aus diesem Grund bereits im Gesetzgebungsverfahren von verschiedenen Seiten kritisiert. Spätestens jetzt wird der Gesetzgeber das UmwRG erneut überarbeiten müssen.
Die Entscheidung hat voraussichtlich zur Folge, dass sich in Zukunft deutlich mehr Unternehmen als bisher auf Umweltschutz- und Klimaklagen durch anerkannte Umweltverbände einstellen müssen. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass der EuGH den maßgeblichen Begriff der „umweltbezogenen Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts“ denkbar weit auslegt und es scheint, dass ihm im Grunde bereits jedweder Umweltbezug ausreicht, dürfte eine Vielzahl von Produktzulassungen diesen Umweltbezug bereits jetzt aufweisen. Diese sehr weite Sichtweise des EuGH ist durchaus kritisch zu sehen, da sie den Anwendungsbereich der Umwelt-Rechtsbehelfe nahezu konturenlos ausdehnt.
Hinzu kommt, dass die umweltrechtlichen Anforderungen an Produkte exponentiell zunehmen. Die Unternehmen müssen daher strikt darauf achten, dass alle einschlägigen produktrechtlichen Vorgaben, insbesondere auch solche mit Umweltbezug, eingehalten werden und sich laufend über die Neuerungen informieren. Die Anforderungen können sich bspw. aus dem Chemikalien-, Technik- oder Abfallrecht ergeben. Unternehmen, die Produkte in Verkehr bringen, müssen daher im Lichte der neuen EuGH-Entscheidung nicht nur die Abmahnung durch Konkurrenten und das Einschreiten der Aufsichtsbehörden, sondern auch in größerem Umfang Klagen der Umweltverbände befürchten.