Das Beschaffungspaket für die Bundeswehr wirft vergaberechtliche Fragen auf, die in diesem und einem weiteren Beitrag unter die Lupe genommen werden.
Als Folge der völkerrechtswidrigen Invasion Russlands in die Ukraine hat die Bundesregierung angekündigt, der Bundeswehr ein Sondervermögen von EUR 100 Milliarden für notwendige Investitionen und Rüstungsvorhaben zur Verfügung zu stellen. Bundeskanzler Olaf Scholz hat dies in einer Sondersitzung des Deutschen Bundestages wie folgt begründet:
Wir müssen deutlich mehr investieren in die Sicherheit unseres Landes, um auf diese Weise unsere Freiheit und unsere Demokratie zu schützen.
Konkret in Bezug auf eine mögliche Bedrohung durch Russland traf er folgende Aussage:
Putin will ein russisches Imperium errichten. Wir müssen uns daher fragen: Welche Fähigkeiten besitzt Putins Russland? Und welche Fähigkeiten brauchen wir, um dieser Bedrohung zu begegnen – heute und in der Zukunft?
Zudem soll der jährliche Verteidigungsetat von nun an mehr als 2 % des Bruttoinlandsprodukts betragen und damit – anders als in den letzten Jahren – die entsprechenden Vorgaben der NATO erfüllen.
Diese Ankündigung wirft die Frage auf, welcher rechtliche Rahmen bei Beschaffungen zu beachten ist. Angesichts der unmittelbaren Bedrohung durch den Krieg an der Ostgrenze der NATO beleuchten wir in einem ersten Beitrag, inwieweit akutem Beschaffungsbedarf über Dringlichkeitsvergaben begegnet werden kann.
Voraussetzungen einer Dringlichkeitsvergabe
Eine Dringlichkeitsvergabe im Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb ist unter zwei Voraussetzungen möglich: eine Krisensituation oder ein Ereignis, die bzw. das der Auftraggeber nicht voraussehen konnte.
Dringliche Gründe im Zusammenhang mit einer Krise
Ein Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb kann zulässig sein, wenn dringliche Gründe im Zusammenhang mit einer Krise anderweitiges nicht zulassen. Eine Krise ist jede Situation in einem Mitgliedstaat der EU und einem Drittland, in der ein Schadensereignis eingetreten ist, das deutlich über die Ausmaße von Schadensereignissen des täglichen Lebens hinausgeht. und das entweder bereits eingetreten ist oder aufgrund unmittelbarer Umstände bevorsteht. Bewaffnete Konflikte und Kriege sind unstreitig Krisen im Sinne der VSVgV (vgl. § 4 Abs. 1 VSVgV).
Ein dringlicher Grund liegt vor, wenn
- mandatierte Auslandseinsätze oder einsatzgleiche Verpflichtungen der Bundeswehr,
- friedenssichernde Maßnahmen,
- die Abwehr terroristischer Angriffe oder
- eingetretene oder unmittelbar drohende Großschadenslagen
kurzfristig neue Beschaffungen erfordern oder bestehende Beschaffungsbedarfe steigern.
Unter einem mandatierten Auslandseinsatz oder einer einsatzgleichen Verpflichtung der Bundeswehr sind nur Auslandseinsätze der Bundeswehr zu verstehen, die auf der Grundlage einer Resolution des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen erfolgen oder mit einem solchen Einsatz vergleichbar sind. Ein solcher Fall liegt nicht vor.
Friedenssichernde Maßnahmen liegen vor, wenn ein unmittelbar bevorstehender Krieg verhindert oder eine bereits eingetretene Kriegslage beendet werden soll. Auch dieser Fall dürfte nicht vorliegen, da kein Einsatz der Bundeswehr in der Ukraine geplant ist. Der Einsatz der Bundeswehr in anderen NATO-Mitgliedstaaten dient nicht dazu, eine bereits eingetretene Kriegslage zu beenden, sondern etwaige Übergriffe auf das Gebiet der NATO zu verhindern.
Auch die Abwehr eines terroristischen Angriffs dürfte nicht vorliegen. Zwar handelt es sich bei der Invasion Russlands in die Ukraine zweifellos um einen völkerrechtswidrigen Angriff auf einen souveränen Staat. Ein solcher Angriff wird trotz seiner Völkerrechtswidrigkeit bislang jedoch nicht als terroristischer Angriff, auch nicht im Sinne des Staatsterrorismus, betrachtet.
Auch das Vorliegen einer Großschadenslage ist zweifelhaft, weil damit vor allem solche Fälle erfasst werden sollen, in denen die Krise nicht aufgrund zielgerichteten menschlichen Handelns, sondern aufgrund technischen oder menschlichen Versagens entsteht.
Allerdings ist die Aufzählung der Regelbeispiele nicht abschließend. Auch andere Notfalllagen können einen zeitkritischen Bedarf bewirken, wenn eine den ausdrücklich aufgeführten Beispielen ähnlich gelagerte Situation vorliegt. Aus den Verlautbarungen der Bundesregierung ergibt sich, dass die Bereitstellung des Sondervermögens von EUR 100 Milliarden eine Investition in die Sicherheit Deutschlands darstellen soll, um auf diese Weise Freiheit und Demokratie insbesondere im Hinblick auf eine mögliche Bedrohung durch Russland schützen zu können. Es ist fraglich, ob der Überfall Russlands auf die Ukraine schon jetzt einen dringlichen Grund darstellt, der die Schwere der ausdrücklich genannten Regelbeispiele erreicht. Dagegen könnte sprechen, dass ein Angriff Russlands auf Deutschland oder einen anderen NATO-Mitgliedstaat derzeit nicht vorliegt und – soweit ersichtlich – auch nicht unmittelbar bevorzustehen scheint. Andererseits finden bereits Kampfhandlungen im Westen der Ukraine statt. Hinzu kommt die aggressive Rhetorik der russischen Machthaber gegen die Unterstützung der Ukraine durch die NATO und ihre Mitglieder. Außerdem hat die Entwicklung der Ereignisse im Falle des Überfalls auf die Ukraine gezeigt, dass in solchen Situationen sehr schnell akuter Handlungsbedarf entstehen kann und damit ein dringlicher Grund auch schon im Vorfeld kriegerischer Handlungen vorliegen kann. Insbesondere die ausdrückliche Benennung von friedenssichernden Maßnahmen als dringlicher Grund im Zusammenhang mit einer Krise und die bei Beschaffungsmaßnahmen im Verteidigungssektor oftmals lange Dauer zwischen Zuschlag (Vertragsschluss) und Lieferung sprechen dafür, dass ein dringlicher Grund zur Durchführung einzelner Beschaffungsmaßnahmen im Zusammenhang mit der durch die Invasion Russlands in die Ukraine ausgelösten Krise vorliegt.
Dringliche, zwingende Gründe im Zusammenhang mit Ereignissen, die der Auftraggeber nicht voraussehen konnte
Eine Dringlichkeitsvergabe im Wege eines Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb kann auch ohne das Vorliegen von dringlichen Gründen im Zusammenhang mit einer Krise zulässig sein, wenn dringliche, zwingende Gründe im Zusammenhang mit Ereignissen vorliegen, die der Auftraggeber nicht voraussehen konnte.
Die zwingende Dringlichkeit darf nicht dem Verhalten des Auftraggebers zuzuschreiben sein. Eine solche Konstellation dürfte im Hinblick auf den Überfall Russlands auf die Ukraine angesichts der vorausgegangenen langen Friedensperiode in Europa als für Deutschland und die Bundeswehr nicht voraussehbares Ereignis einzuordnen und die zwingende Dringlichkeit auch nicht dem Verhalten des Auftraggebers zuzuschreiben sein.
Weitere Voraussetzungen für die Zulässigkeit einer Dringlichkeitsvergabe: Fristen, Einholung weiterer Angebote und Beschränkung auf das unbedingt Notwendige
Damit dürfte die Voraussetzung einer Dringlichkeit für Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb unter beiden Gesichtspunkten zu bejahen sein. Es stellt sich allerdings die Frage, ob dies die Durchführung von Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb im großen Umfang rechtfertigt.
Eine Dringlichkeitsvergabe im Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb ist nur dann zulässig, wenn die für Vergabeverfahren regelmäßig vorgesehenen Fristen, auch die nach der VSVgV zulässigen verkürzten Fristen, nicht eingehalten werden können. Bei Beschaffungen im Verteidigungssektor lässt sich die Teilnahmefrist auf 15 Tage und die Angebotsfrist auf zehn Tage verkürzen.
Nach der Rechtsprechung muss der Auftraggeber außerdem konkret darlegen und – sofern von Bieterseite ein Nachprüfungsverfahren angestrengt wird – auch beweisen können, dass der Bedarf und die Dringlichkeit der Bedarfsdeckung objektiv auf der Krise oder dem nicht voraussehbaren Ereignis und den damit verbundenen Gefahren beruhen. Das OLG Düsseldorf hat insoweit verlangt, dass konkret dargelegt wird, welche Bedrohung vorliegt und welche Verletzung bereits eingetreten ist und warum das bislang bei der Bundeswehr vorhandene Material insoweit nicht mehr ausreichend sein soll (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss v. 13. April 2016 – Verg 46/15). Ein solcher Nachweis wird ohne eine unmittelbare Bedrohung Deutschlands oder eines anderen NATO-Mitgliedstaats, z.B. durch die Zusammenziehung russischer Truppen an einer NATO-Außengrenze, kaum zu führen sein.
Selbst wenn die Voraussetzungen einer Dringlichkeitsvergabe vorliegen, wäre die Bundeswehr verpflichtet, im Rahmen des zeitlich Möglichen zumindest Vergleichsangebote einzuholen und die Vergabe auf den zur Bewältigung der Dringlichkeit unbedingt nötigen Leistungsumfang zu beschränken. Statt einer endgültigen Beschaffung wäre infolgedessen in vielen Fällen nur eine zeitlich befristete Interimsvergabe zulässig.
Fazit: Nicht alle Beschaffungen können als Dringlichkeitsvergabe erfolgen
Selbst wenn man das Vorliegen von Dringlichkeit mit guten Gründen für vertretbar hält, wird sich die Bundeswehr daher – jedenfalls bei Fortgeltung der derzeitigen vergaberechtlichen Bestimmungen und unter der Prämisse, dass keine weitere Eskalation in Gestalt einer Bedrohung Deutschlands oder eines anderen NATO-Mitgliedstaats eintritt – darauf einstellen müssen, die meisten Beschaffungen im Rahmen des EUR-100-Milliarden-Pakets nicht als Dringlichkeitsvergabe vornehmen zu dürfen. Ein Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb wäre dann nicht zulässig.
Stattdessen müsste ein reguläres Vergabeverfahren unter Einhaltung der dafür geltenden Fristen – ggf. verkürzt auf 15 bzw. zehn Tage – durchgeführt werden.
In einem weiteren Beitrag werden wir auf die rechtlichen Möglichkeiten eingehen, auf formale Vergabeverfahren zu verzichten.