10. Juni 2022
Pflichtteilsrecht Ordre Public
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OLG Köln entscheidet zu internationalem Pflichtteilsrecht

Sand im Getriebe der EU-ErbVO: Das OLG Köln erklärt das englische Recht mit der deutschen öffentlichen Ordnung für unvereinbar.

Das OLG Köln (Urteil v. 22. April 2021 – 24 U 77/20) hat eine überaus praxisrelevante Entscheidung im grenzüberschreitenden Erbrecht getroffen, die erhebliche Kritik erfahren hat. Nach Auffassung des OLG soll ein Verstoß gegen die deutsche öffentliche Ordnung (= Ordre Public) vorliegen, wenn ein Erblasser* eine Rechtswahl zugunsten des englischen Rechts trifft und nahen Verwandten des Erblassers dadurch keine Pflichtteils- oder Noterbrechte zustehen. Die Rechtswahl soll dann keine Wirkung entfalten können.

Pflichtteilsrecht in Deutschland mit hohem Stellenwert

In Deutschland hat das Pflichtteilsrecht einen hohen Stellenwert: Es sichert nahen Angehörigen des Erblassers, u.a. Kindern, eine Mindestbeteiligung am Nachlass i.H.d. Hälfte ihres gesetzlichen Erbteils. Werden Pflichtteilsberechtigte enterbt, steht ihnen somit trotzdem gegen den Erben ihr Pflichtteil in Form eines Geldanspruchs zu. 

OLG Köln: Deutsche Pflichtteilsrechte trotz Anwendung englischen Erbrechts

Der Erblasser war britischer Staatsangehöriger. Er lebte seit den 60er Jahren in Deutschland. In seinem Testament hatte er für seine Rechtsnachfolge von Todes wegen das englische Recht gewählt, also eine nach deutschem Recht zulässige Rechtswahl zugunsten des Heimatrechts getroffen (Art. 22 Abs. 1 EU-ErbVO). Zu seiner Alleinerbin hat er seine Frau eingesetzt. Nach dem Tod des Erblassers nahm dessen Adoptivsohn unter Berufung auf sein deutsches Pflichtteilsrecht die Alleinerbin auf Auskunft über den Bestand und den Wert des Nachlasses in Anspruch.

Die erste Instanz hat die Klage abgewiesen. Das OLG Köln als zweite Instanz gesteht dem Kläger als Pflichtteilsberechtigtem jedoch einen Auskunfts- und Wertermittlungsanspruch nach § 2314 Abs. 1 BGB zu. 

Die Rechtswahl des Erblassers zugunsten des englischen Rechts, das ein Pflichtteilsrecht nicht kennt, stehe dem Pflichtteilsanspruch nach deutschem Recht nicht entgegen. Die Anwendung des englischen Rechts sei offensichtlich unvereinbar mit dem deutschen Ordre Public (Art. 35 EU-ErbVO). Danach kann die Anwendung einer Vorschrift versagt werden, wenn ihre Anwendung mit der öffentlichen Ordnung des Staates des angerufenen Gerichts offensichtlich unvereinbar ist.

Erbrechtsgarantie

Die Erbrechtsgarantie in Art. 14 Abs. 1 S. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG sichere den Kindern des Erblassers eine grds. unentziehbare und bedarfsunabhängige wirtschaftliche Mindestbeteiligung an dessen Nachlass zu. Das Pflichtteilsrecht habe die Funktion, die Fortsetzung des ideellen und wirtschaftlichen Zusammenhangs von Vermögen und Familie über den Tod des Vermögensinhabers hinaus zu ermöglichen. Mit dieser verfassungsrechtlich verbürgten Nachlassbeteiligung sei die Anwendung des englischen Rechts unvereinbar: 

  • Erstens kenne das englische Erbrecht keinen Pflichtteil. Kinder könnten bei Bedürftigkeit lediglich eine angemessene finanzielle Regelung nach dem Inheritance Act beantragen.
  • Zweitens müsste der Erblasser zur Anwendung der einschlägigen Norm des Inheritance Act  zum Todeszeitpunkt seinen maßgeblichen Lebensmittelpunkt (Wohnsitz)in England oder Wales haben. Somit knüpfe das englische Recht an ein Kriterium an, das nach deutschem Recht keine Rolle spiele. Die Rechtswahl zugunsten des Heimatrechts nach der EU-ErbVO gehe also ins Leere.
  • Drittens sei die Höhe der finanziellen Zuwendung in das Ermessen des Gerichts gestellt. Dies widerspreche jedoch der nach deutschem Rechtsverständnis gebotenen bedarfsunabhängigen wirtschaftlichen Mindestbeteiligung der Kinder am Nachlass der Eltern. 

Keine Ersatzmechanismen

Der Verstoß gegen den Ordre Public könne auch nicht dadurch ausscheiden, dass das Fehlen des Pflichtteilsanspruchs durch Ersatzmechanismen abgemildert werde, etwa durch Noterbrechte oder Unterhaltsansprüche. Hier verweist das Gericht auf die lange deutsche Tradition der Teilhabe von Kindern am Nachlass der Eltern, die verfassungsrechtliche Garantie und die Anknüpfung des Pflichtteilsrechts an die familienrechtlichen Beziehungen zwischen dem Erblasser und seinen nächsten Anverwandten. So scheide auch die Anwendung des englischen Rechts in modifizierter Form aus. 

Kritik an der Entscheidung 

Die Entscheidung des Gerichts ist ungewöhnlich und hat erhebliche Schwächen:

  • Zum einen setzt das Gericht bei der Frage der Anwendung des Inheritance Act das domicile mit dem Wohnsitz gleich. Mit domicile ist aber weder der Wohnsitz noch der gewöhnliche Aufenthalt gemeint. Der Begriff bezeichnet eher den tatsächlichen Herkunftsort (domicile of origin)oder den gewählten Lebensmittelpunkt (domicile of choice) einer Person. 
  • Zum anderen nimmt das OLG sehr schnell– und aus unserer Sicht: zu schnell – den Tatbestand des Art. 35 EU-ErbVO an. Diese Vorschrift hat Ausnahmecharakter. Sie soll materiell untragbare Ergebnisse im Einzelfall verhindern. Von der in der EU-ErbVO selbst vorgesehenen Rechtswahlmöglichkeit Gebrauch zu machen, kann nicht automatisch den Tatbestand begründen. Vielmehr wäre im Einzelnen darzulegen gewesen, worin die „öffentliche Ordnung“ gestört sein soll. Maßstab dafür wäre übrigens die EU-ErbVO selbst gewesen – und nicht abstrakt das deutsche Pflichtteilsrecht.
  • Das Gericht hat der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 19. April 2005 (1 BvR 1644/00) eine zu hohe Bedeutung beigemessen. Das BVerfG hatte festgestellt, dass die Erbrechtsgarantie den Kindern des Erblassers eine grds. unentziehbare und bedarfsunabhängige wirtschaftliche Mindestnachlassbeteiligung gewährleiste. Diese Maßstäbe gelten für die Ausgestaltung des deutschen Rechts (BGB). Sie können aber nicht deswegen zu einer weltweit gültigen Vorgabe aus deutscher Sicht erhoben werden.
  • Zudem werden Ersatzmechanismen anderer Rechtsordnungen (hier die englische), die grds. Vorrang vor der Anwendung des deutschen Rechts haben, nicht hinreichend richtig in den Blick genommen. So hätte man auch erwägen können, das englische Recht anzupassen: Die englischen Richter hätten eine Ermessensentscheidung über die Nachlassverteilung nach dem Inheritance Act treffen können. 

Frankreich und Österreich sehen keinen Verstoß gegen den Ordre Public bei Versagung des Pflichtteils nach ausländischem Recht

Das OLG steht wohl, insbesondere wenn man einen Blick ins Ausland wirft, mit seiner Auffassung allein da: So hat die Cour de Cassation in Frankreich entschieden, dass die Versagung des Pflichtteils für Abkömmlinge nach dem kalifornischen Recht nicht den französischen internationalen Ordre Public verletzt (Cass Civ 1 du 27. septembre 2017 n° 16-13151, n° 16-17198). In Frankreich existiert ein Noterbrecht für Abkömmlinge des Erblassers, das stärker als das deutsche Pflichtteilsrecht ausgestaltet ist. Auch der Oberste Gerichtshof in Wien (Urteil v. 25. Februar 2021 – 2 Ob 214/20i) hat entschieden, dass kein Verstoß gegen den österreichischen Ordre Public vorliegt, wenn bei Anwendung des englischen Rechts keine Pflichtteilsansprüche bestehen. 

Klärung durch den BGH mit Vorlage beim EuGH wird erwartet, bis dahin besteht Unsicherheit zur Nutzung von Rechtswahlmöglichkeiten

Die Entscheidung liegt derzeit zur Revision dem Bundesgerichtshof (BGH) vor. Es steht zu erwarten, dass der BGH die Sache dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) zur Vorabentscheidung vorlegt, weil es im Kern um eine Auslegungsfrage der EU-ErbVO geht. Richtigerweise hätte bereits das OLG Köln die Entscheidung dem EuGH zur Vorabentscheidung vorlegen müssen.

Einstweilen müssen bei der Errichtung von Verfügungen von Todes wegen und bei der Rechtswahl zugunsten ausländischen Rechts die Unsicherheiten einbezogen werden, die das Urteil ausgelöst hat. So lässt sich trotz Rechtswahl zugunsten eines Rechtsregimes, das kein Pflichtteilsrecht kennt, nicht sicher sagen, ob im Todesfall nicht doch ein Pflichtteilsanspruch besteht. Die grenzüberschreitende Nachfolgeplanung ist mit dieser Entscheidung nicht einfacher geworden.

*Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Lediglich der leichteren Lesbarkeit halber wird künftig bei allen Bezeichnungen nur noch die grammatikalisch männliche Form verwendet.

Tags: Ordre Public Pflichtteilsrecht
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Anna-Sophie Schütte