ESG-Forderungen von Stimmrechtsberatern und Aktionären stellen börsennotierte Unternehmen vor Herausforderungen.
Unzählige Regularien der jüngsten Vergangenheit, wie etwa die Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD), die Corporate Sustainability Due Diligence Directive und das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz, das Hinweisgeberschutzgesetz und der Carbon Border Adjustment Mechanism, die alle dem ESG-Kanon – ESG steht für Environment (Umwelt), Social (Soziales) und Governance (Unternehmensführung) – zuzuordnen sind, zeigen, dass ESG-Themen aktuell eine zunehmende Verrechtlichung erfahren. Für börsennotierte Unternehmen sind neben der Einhaltung dieser ESG-Rechtsvorschriften, die die Unternehmensleitung aufgrund ihrer Legalitätspflicht zwingend einzuhalten hat, insbesondere die Empfehlungen von einflussreichen Stimmrechtsberatern im Hinblick auf für die Unternehmen relevante ESG-Themen von besonderer Bedeutung. Darüber hinaus ist ein Einfluss von sogenannten ESG-aktivistischen Investoren zu verzeichnen, die durch die Ausübung ihrer Aktionärsrechte versuchen, die Unternehmensleitung börsennotierter Unternehmen gezielt in die Richtung bestimmter ESG-Themen zu lenken.
Einfluss von Stimmrechtsberatern in Deutschland
In einer Zeit, in der Fragen der Corporate Governance und Nachhaltigkeit im Fokus stehen, fungieren Stimmrechtsberater als eine zentrale Schnittstelle zwischen Aktionären und Unternehmensleitung: Als Institutionen, die Empfehlungen für das Abstimmungsverhalten der Aktionäre geben, haben sie einen maßgeblichen Einfluss auf die Abstimmungsvorgänge und Abstimmungsergebnisse bei börsennotierten Unternehmen. Für börsennotierte Unternehmen dienen die von den Stimmrechtsberatern zur Verfügung gestellten, jährlich aktualisierten Abstimmungsrichtlinien (oder Voting Guidelines) als wichtiger Indikator für zu erwartende Themen und mögliche Konflikte im Rahmen ihrer Hauptversammlungen. Zu den einflussreichsten Stimmrechtsberatern in Deutschland zählen der Bundesverband Investment und Asset Management (BVI), Glass Lewis (GL), die Deutsche Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz e.V. (DSW) und die Institutional Shareholder Services (ISS). Im Rahmen ihrer Abstimmungsrichtlinien geben sie Aktionären Abstimmungsempfehlungen und weisen diese auch auf kritische Faktoren hin. Vor allem institutionelle Investoren machen ein positives Votum in der Hauptversammlung immer häufiger von einer entsprechenden Konformität des Beschlussvorschlags mit den Empfehlungen der Stimmrechtsberater abhängig.
Dem ESG-Kanon zuzuordnende Empfehlungen spielen in den Abstimmungsrichtlinien der großen Stimmrechtsberater mittlerweile eine wichtige Rolle: Wichtig sind insoweit etwa Governance-Themen wie die Vorstandvergütung oder die Besetzung des Aufsichtsrats, aber auch Nachhaltigkeitsberichtspflichten und die Verfolgung ambitionierter Klimastrategien bzw. -ziele.
Konkrete ESG-Themen in den Abstimmungsrichtlinien
Aus den Abstimmungsrichtlinien sowohl von BVI und DSW, aber auch von GL und ISS geht hervor, dass Nachhaltigkeitsthemen immer stärker Eingang in die Abstimmungsempfehlungen der vorgenannten Stimmrechtsberater finden. Wichtige Themen sind zunächst Transparenz und Berichterstattung zu den für das jeweilige Unternehmen wesentlichen Nachhaltigkeitsaspekten. So stellt die DSW in ihren DSW-Abstimmungsrichtlinien 2024 (Seite 3 f.) für ein positives Votum im Rahmen der Entlastung von Vorstand und Aufsichtsrat etwa die Forderung auf, dass hinreichend nachvollziehbare und glaubwürdige Erklärungen zur Klimastrategie des jeweiligen Unternehmens bzw. deren etwaiger mangelhafter bzw. verspäteter Umsetzung abzugeben sind und nennt „Defizite in der Nachhaltigkeitsberichterstattung“ als einen möglichen Grund sich gegen den entsprechenden Beschlussvorschlag der Verwaltung auszusprechen. GL fordert, dass Unternehmen, deren Treibhausgasemissionen im Hinblick auf eine kohlenstoffärmere Zukunft (lower-carbon scenarios) ein finanzielles Risiko darstellen, ihre erhöhte Risikoexposition klar und umfassend offenlegen sollen, einschließlich der Art und Weise, wie diese Risiken gemildert und überwacht werden (vgl. GL 2024 Continental Europe Benchmark Policy Guidelines, Seite 21). Nach den Forderungen von ISS und DSW soll ferner die Verfolgung ambitionierter Klimastrategien (im Vergleich zu Wettbewerbern) in die Empfehlungsentscheidung miteinbezogen werden (vgl. DSW-Abstimmungsrichtlinien 2024, Seite 3; ISS Continental Europe Proxy Voting Guidelines 2024, Seite 31).
Während die konkreten Forderungen von BVI, DSW, GL und ISS in Bezug auf Diversität in den Führungsgremien nicht ganz einheitlich sind, wird doch deutlich, dass alle vorgenannten Stimmrechtsberater bei der Besetzung von Vorstand und Aufsichtsrat den Kriterien „Diversität“ und „Frauenanteil“ bzw. „Gender diversity“ eine große Bedeutung beimessen (vgl. zu den konkreten Forderungen: DSW-Abstimmungsrichtlinien 2024, Seite 4; BVI-Analyse-Leitlinien für Hauptversammlungen 2025, Ziffer 1.2; ISS Continental Europe Proxy Voting Guidelines 2024, Seite 13; GL 2024 Continental Europe Benchmark Policy Guidelines, Seite 23 f.).
Zudem erwarten beispielsweise BVI und DSW, dass ESG-Faktoren eine zunehmende Berücksichtigung im Rahmen des Vergütungssystems des Vorstands erfahren. Der Integration von ESG-Kriterien in die Vorstandsvergütung liegt insbesondere die Erwägung zugrunde, dass es für die Erreichung bestimmter ESG-Ziele förderlich ist, wenn für die einzelnen Vorstandsmitglieder eine spezifische finanzielle Incentivierung besteht. So fordert BVI im Rahmen der Leistungsparameter zur Bestimmung der variablen Vergütung, dass das Vergütungssystem des Vorstands eine Nachhaltigkeitsausrichtung erkennen lassen soll, d.h. dass ESG-Faktoren explizit in der kurz- beziehungsweise langfristigen Zielerreichung berücksichtigt werden sollen (vgl. BVI-Analyse-Leitlinien für Hauptversammlungen 2025, Ziffer 1.3.1). Die DSW fordert insoweit, dass zum einen die variablen Vergütungskomponenten ambitionierte und quantifizierbare ESG-Ziele enthalten sollen und zum anderen, dass der Anteil der ESG-Ziele an der variablen Zielvergütung nicht weniger als 20% betragen soll (vgl. DSW-Abstimmungsrichtlinien 2024, Seite 9).
ESG-aktivistische Investoren
Die zunehmende Bedeutung von ESG-Themen für börsennotierte Unternehmen zeigt sich nicht nur in der stetig zunehmenden ESG-Regelungsdichte sowie den erhöhten ESG-Anforderungen der Stimmrechtsberater und dem entsprechenden Abstimmungsverhalten von Aktionären bei Hauptversammlungen, sondern auch in einem Vormarsch von ESG-aktivistischen Aktionären. Aktivistische Aktionäre versuchen, insbesondere durch die Ausübung von Aktionärsrechten, aktiv auf die Unternehmensführung und Unternehmenspolitik börsennotierter Gesellschaften Einfluss zu nehmen mit dem Ziel den Börsenkurs zu steigern und auf diese Weise den Wert ihrer Beteiligung am Unternehmen zu erhöhen. Dieser Shareholder Activism weist in der jüngeren Vergangenheit verstärkt Nachhaltigkeitsbezüge auf.
In diesem Zusammenhang steht etwa auch die Entscheidung des Oberlandesgerichts Braunschweig aus dem letzten Jahr (OLG Braunschweig, Urt. v. 8. Mai 2023 – 2 W 25/23): Aktionäre hatten über einen Antrag auf Ergänzung der Tagesordnung versucht, auf den Vorstand eines börsennotierten Unternehmens (konkret: der Volkswagen AG) dahingehend Einfluss zu nehmen, dass der Vorstand verpflichtet wird, den konkreten Inhalt des von ihm vorzulegenden nichtfinanziellen Berichts (zukünftig: Nachhaltigkeitsberichts) nach den Vorstellungen der antragstellenden Aktionäre zu erstellen. Zwar lehnte das Oberlandesgericht Braunschweig in dem vorgenannten Fall eine Einflussnahme der Hauptversammlung auf den Inhalt des nichtfinanziellen Berichts ab, doch zeigt auch dieses Beispiel, dass die ESG-Forderungen und -Erwartungen an Unternehmen insgesamt (und insbesondere an börsennotierte Unternehmen) zunehmen.
Konsequenzen für die Gremien börsennotierter Unternehmen
Der Nachhaltigkeitsdruck durch Aktionäre auf börsennotierte Unternehmen ist in den letzten Jahren stetig gewachsen und es ist zu erwarten, dass sich diese Entwicklung fortsetzen wird. Die Gremien börsennotierter Unternehmen sind gut beraten, sich mit den konkreten ESG-Erwartungen und -Forderungen ihres Aktionariats und der Stimmrechtsberater, die (soweit nicht bereits geschehen) ihre aktualisierten Abstimmungsrichtlinien für die Hauptversammlungssaison 2025 voraussichtlich in den nächsten Monaten veröffentlichen und gegebenenfalls auch im Hinblick auf ESG-Aspekte noch einmal nachschärfen werden, intensiv auseinanderzusetzen und die konkreten Folgen für ihr jeweiliges Unternehmen zu analysieren, um nicht nur für die nächste Hauptversammlungssaison auch im Hinblick auf ESG Shareholder Activismgewappnet zu sein.