Regulierungen zum Schutz der Biodiversität werden künftig die Flächennutzung in Deutschland grundlegend verändern und nahezu alle Wirtschaftszweige tangieren.
Sie wird das Zwillingsrisiko des Klimawandels genannt: die Biodiversität. Die Diskussion um einzelne Maßnahmen und die rechtliche Fixierung sowohl der regulatorischen Anforderungen als auch möglicher Berichtspflichten steht noch ganz am Anfang. Dennoch müssen sich gerade Unternehmen immer mehr die Frage stellen, wie sie in Zukunft mit den Anforderungen an den Schutz der Biodiversität umgehen.
Und sie/Sie fragen sich vielleicht auch: Was versteht man genau unter Biodiversität? Wie und durch welche Maßnahmen soll sie geschützt werden? Und: Welche Gesetze betreffen heute schon die Biodiversität?
Diese Fragen behandeln wir in unserem zweiteiligen Beitrag zur Biodiversität. Teil 1 beleuchtet die – nicht immer rechtlichen – Grundlagen, nennt wissenschaftliche Hintergründe und Zahlen und erläutert mit dem EU-Renaturierungsgesetz und der CSRD-Richtlinie die zwei aktuell zentralen rechtlichen Anknüpfungspunkte für Biodiversität.
Das EU-Renaturierungsgesetz als erstes Biodiversitätsgesetz
Das geplante EU-Renaturierungsgesetz kann als regulatorischer Ausgangspunkt für Maßnahmen zum Schutz der Biodiversität gesehen werden. Das Gesetz schafft den Rahmen, um – bis 2050 – 90% der geschädigten Ökosysteme in den Mitgliedsstaaten wieder herzustellen. Es ist eine zentrale Säule des Green Deals, mit dem die EU bis zur Mitte des Jahrhunderts klimaneutral werden will.
Allerdings ist das Gesetz aufgrund des Widerstands einiger Mitgliedsstaaten noch nicht endgültig verabschiedet. Die Abstimmung im Umweltministerrat am 25. März 2024 musste verschoben werden, da Ungarn dem Gesetz kurzfristig die Unterstützung entzog. Dabei galt die Billigung durch den Rat als reine Formsache, nachdem das Parlament am 27. Februar 2024 mit knapper Mehrheit für das Gesetz gestimmt hatte.
Biodiversität – Warum Artenvielfalt wichtig ist
Biodiversität lässt sich definieren als die gesamte Vielfalt des Lebens auf allen Hierarchieebenen. Dazu gehört die Vielfalt der Ökosysteme, der Tier- und Pflanzenarten und die genetische Vielfalt. Eine intakte Biodiversität ist aufgrund ihrer vielen positiven Auswirkungen eine Grundvoraussetzung für die menschliche Existenz und eine gute Lebensqualität. Gesunde Ökosysteme bieten Nahrungsmittel und Ernährungssicherheit, sauberes Wasser sowie CO2-Senken und schützen vor Extremwetterereignissen. Die sogenannten Ökosystemdienstleistungen lassen sich nach Art der Vorteile für den Menschen in vier Kategorien einteilen:
- Bereitstellung: Produkte, die aus der Natur gewonnen werden, wie Nahrungsmittel, Wasser, Sauerstoff, Rohstoffe, Medizinprodukte
- Regulierung: Regulierungsleistungen, die die Natur erbringt, zum Beispiel für das Klima, Reinigung von Luft und Wasser, Erosionsschutz
- Kulturelles: Nicht-materieller Nutzen, zum Beispiel Erholung, Erfüllung intellektueller und spiritueller Bedürfnisse, kulturelles Erbe
- Basisfunktionen: Leistungen, die für alle anderen Ökosystemleistungen benötigt werden, zum Beispiel Primärproduktion, Bodenbildung, Bestäubung, Nährstoffkreisläufe
Die Biodiversität und ihre Funktionen sind seit vielen Jahrzehnten stark zurückgegangen. Dies belegen umfassende wissenschaftliche Studien, unter anderem das globale Assessment des Weltbiodiversitätsrats (IPBES) aus Mai 2019. Etwa 75 % der Landoberfläche und 66 % der Meeresfläche wurden durch menschliche Einflüsse signifikant verändert. Der durchschnittliche Artenbestand ist in den meisten Lebensräumen seit 1900 um mindestens 20 % gesunken. Durch den fortschreitenden Verlust an Biodiversität werden unsere wirtschaftlichen und sozialen Existenzgrundlagen gefährdet.
Wie die EU Biodiversität schützen will
Der zentrale politische Rahmen für den Schutz der Biodiversität in der EU ist – neben dem Green Deal – die EU-Biodiversitätsstrategie 2030. Diese enthält die Zusage, bis 2030 mindestens 30% der Land- und Meeresgebiete in Europa in Schutzgebiete zu verwandeln. Der Rat hat in seinen Schlussfolgerungen zur biologischen Vielfalt zudem festgehalten, dass nicht nur die Verschlechterung des derzeitigen Zustands verhindert werden muss, sondern darüber hinaus Anstrengungen zur Wiederherstellung der Natur erforderlich sind.
Das nun geplante EU-Renaturierungsgesetz ist das weltweit erste Gesetz zur Wiederherstellung gestörter Ökosysteme. Die EU verfolgt damit das Ziel, dem fortschreitenden Biodiversitätsverlust Einhalt zu gewähren und ihre internationalen Verpflichtungen zu erfüllen. Das Gesetz besteht im Wesentlichen aus drei Teilen: In erster Linie werden die Mitgliedsstaaten verpflichtet, bis 2030 mindestens 30 %, bis 2040 mindestens 60 % und bis 2050 mindestens 90% der Lebensräume, die sich in schlechtem Zustand befinden, wiederherzustellen. Dazu werden konkrete Wiederherstellungsziele und -verpflichtungen für nahezu alle Ökosysteme von Land- und Meeresökosystemen bis hin zu Städten, Flüssen und Wäldern festgelegt (Kapitel II). Als Planungsinstrument sieht das Gesetz vor, dass alle Mitgliedsstaaten detaillierte Wiederherstellungspläne erstellen, die u.a. eine Quantifizierung der wiederherzustellenden Gebiete, eine Beschreibung der geplanten oder ergriffenen Maßnahmen und Zeitpläne für die Durchführung der Maßnahmen enthalten. Die Pläne müssen innerhalb von zwei Jahren nach dem Inkrafttreten des Gesetzes vorgelegt werden (Kapitel III). Schließlich werden die Mitgliedsstaaten verpflichtet, die Entwicklung der einzelnen Ökosysteme in regelmäßigen Abständen zu überwachen und der Kommission Bericht zu erstatten (Kapitel IV). Das Gesetz hat das Potenzial, die Flächennutzung in Deutschland nachhaltig zu verändern – mit weitreichenden Auswirkungen für nahezu alle Industriezweige.
Treiber des Biodiversitätsverlusts
Die Landnutzung und der Landnutzungswandel haben relativ gesehen die größten negativen Auswirkungen auf die Biodiversität. Dabei nimmt die Landwirtschaft eine zentrale Rolle ein: Aufgrund der steigenden Nachfrage an Lebensmitteln werden natürliche Ökosysteme in Agrarflächen umgewandelt. Die Intensivierung der Landwirtschaft verursacht weltweit insgesamt 80 % des Biodiversitätsverlusts, wobei die Erzeugung von Tierprodukten eine dominierende Rolle spielt (> 50 %). Ein weiterer Faktor ist die Versiegelung von Flächen aufgrund der Urbanisierung und des Ausbaus von Infrastruktur.
Weitere Treiber der Biodiversitätskrise sind die direkte Ausbeutung von Organismen durch Jagd und Fischerei, die Beeinträchtigung von Flüssen und Feuchtgebieten durch übermäßige Süßwasserentnahme sowie der Eintrag von Pestiziden und eingeschleppte, gebietsfremde Arten. Viele Branchen sind mittelbar oder unmittelbar am Biodiversitätsverlust beteiligt. Deshalb ist auch zu erwarten, dass in den nächsten Jahren viele Branchen mit neuen regulatorischen Anforderungen umgehen müssen.
Das Zwillingsrisiko des Klimawandels
Auch der Klimawandel hat weitreichende Auswirkungen auf die Artenvielfalt. Steigende Temperaturen und Extremwetterereignisse verändern die Lebensräume von Tieren und Pflanzen nachhaltig. Dadurch sterben einzelne Arten aus oder die Wechselwirkung zwischen den Arten gerät aus dem Gleichgewicht.
Auch umgekehrt hängen Klimawandel und Biodiversität zusammen: Gesunde Ökosysteme wie Wälder, Meere, Moore und Permafrostböden speichern große Mengen an Treibhausgasen wie CO2 oder Methan. Die fortschreitende Abholzung von Regenwäldern zur Produktion von Nahrungsmitteln verursacht nicht nur einen massiven Biodiversitätsverlust, sondern führt auch zur Freisetzung von CO2 und zur Beschleunigung des Klimawandels. Außerdem trägt die Biodiversität zur Anpassung an den Klimawandel bei, da artenreiche Ökosysteme Extremwetterereignisse nachweislich besser ausgleichen können.
Großer Aufholbedarf bei Unternehmen
Der Biodiversitätsverlust geht mit erheblichen wirtschaftlichen Risiken einher. Der letzte Risikobericht des World Economic Forum zählt den Rückgang der Biodiversität neben dem Klimawandel und Extremwetterereignissen zu den drei größten Risiken in den kommenden zehn Jahren. Der jährliche ökonomische Verlust durch das Artensterben wird auf 4 Billionen US-Dollar pro Jahr geschätzt.
Verglichen damit ist das Bewusstsein bei Unternehmen noch gering ausgeprägt: Nur 29 der 100 umsatzstärksten deutschen Unternehmen sehen einen Verlust der Biodiversität als Geschäftsrisiko an. Dabei sind nahezu alle Branchen auf funktionierende Ökosysteme angewiesen. Ein Verlust an Biodiversität führt zu einer eingeschränkten Verfügbarkeit von Rohstoffen und naturbasierten Produktionsfaktoren wie z.B. sauberem Wasser. Im Laufe des Anpassungsprozesses an eine naturverträgliche Wirtschaft entstehen zudem transitorische Risiken, etwa durch zunehmende rechtliche Regulierung.
Hohe Komplexität, hohe Kosten? Artenschutz als (nicht immer geliebter) Beitrag zu Biodiversität
Ein wichtiger Faktor, der den Schutz von Biodiversität in Unternehmen bremst, sind Probleme bei der Operationalisierung und Messbarkeit. Biodiversität ist aufgrund der vielfältigen Wechselwirkungen zwischen Ökosystemen, Arten und der genetischen Vielfalt ein komplexes Thema, für das es bislang wenig einheitliche Maßstäbe und Standards gibt. Eine besondere Schwierigkeit liegt darin, komplexe Lieferketten im Hinblick auf ihre Umweltauswirkungen zu analysieren. Daher bleiben die getroffenen Maßnahmen häufig auf einzelne Teilbereiche (z.B. naturnahe Firmengelände) beschränkt, anstatt das Thema umfassend in den Blick zu nehmen.
Außerdem wird Biodiversität häufig mit bürokratischem Aufwand und hohen Kosten assoziiert. Ein Beispiel ist die Berücksichtigung von Umweltbelangen in Zulassungsverfahren von großen Bau- und Infrastrukturprojekten. Diesen Vorhaben, wie z.B. Windenergieanlagen, stehen häufig Belange des Artenschutzes entgegen. Artenvielfalt leistet einen wichtigen Beitrag zur Biodiversität – und steht gleichzeitig in einem deutlichen Spannungsverhältnis zum ebenfalls gewollten Ausbau erneuerbarer Energien und kann im Einzelfall auch zu Verzögerungen und Kostensteigerungen führen.
Neue rechtliche Anforderungen zum Schutz der Biodiversität zu erwarten
Schließlich müssen Unternehmen auch rechtliche Anforderungen im Blick behalten. Insbesondere auf EU-Ebene bestehen mehrere Rechtsakte, die Pflichten für Unternehmen im Hinblick auf den Schutz der Biodiversität etablieren.
Aufgrund der hohen Relevanz des Themas und der Selbstverpflichtung im Rahmen der deutschen und europäischen Biodiversitätsstrategien wird die Regulierung in den kommenden Jahren voraussichtlich noch deutlich ansteigen. Konkrete Pflichten gibt es bereits im Bereich der Nachhaltigkeitsberichterstattung: Aufgrund der EU-Richtlinie zur Nachhaltigkeitsberichterstattung (CSRD) müssen Unternehmen jährlich Informationen zu den Auswirkungen ihrer Tätigkeiten auf Nachhaltigkeitsaspekte, unter anderem Biodiversität, sowie umgekehrt von Nachhaltigkeitsaspekten auf den Unternehmensverlauf offenlegen. Das geplante EU-Lieferkettengesetz (CSDDD) ergänzt die Berichtspflichten, indem es Unternehmen zusätzliche materielle Sorgfaltspflichten u.a. im Bereich Biodiversität auferlegt. Außerdem wird die Biodiversität als eins von sechs Kriterien für nachhaltige Investitionen im Rahmen der Taxonomie-VO berücksichtigt.
Was Unternehmen jetzt beachten müssen
Der Biodiversitätsverlust gehört neben dem Klimawandel zu den größten Herausforderungen weltweit. Fast alle Branchen haben durch ihre wirtschaftlichen Tätigkeiten mittelbar oder unmittelbar Einfluss auf die Biodiversität. Das EU-Renaturierungsgesetz wird – wenn es verabschiedet wird – in den nächsten Jahren die Flächennutzung in Deutschland grundlegend verändern. Aber auch darüber hinaus werden die regulatorischen Vorgaben zum Schutz der Biodiversität nahezu alle Wirtschaftszweige und Branchen tangieren. Schon jetzt gibt es rechtliche Anforderungen an Unternehmen, ihre Auswirkungen auf die Biodiversität zu untersuchen und diesbezüglich Maßnahmen zu ergreifen, zum Beispiel im Rahmen der Nachhaltigkeitsberichterstattung.