Das Ende der Alltagsdiskriminierungen scheint in weiter Ferne. Diskriminierung ist meist Folge von Unwissenheit. Grund genug, mehr über das Anti-Diskriminierungsrecht zu erfahren.
Das Ende der Alltagsdiskriminierungen scheint in weiter Ferne. Diskriminierung ist meist Folge von Unwissenheit. Grund genug, mehr über das Antidiskriminierungsrecht zu erfahren.
Nicht nur in den Vereinigten Staaten bestimmen Diskriminierung (Stichwort: Black Lives Matter) und sexuelle Belästigung (Stichwort: #MeToo, Rücktritt von Senator De Blasio) die Schlagzeilen und den politischen Diskurs. Auch in Deutschland zeigen der Skandal um die (vermeintliche) Diskriminierung des deutsch-jüdischen Musikers Gil Ofarim bei einem Hotelbesuch, die Sexismus-Vorwürfe gegen den ehemaligen Bild-Chefredakteur Julian Reichelt sowie die Unterbrechung des Bundesligaspiels MSV Duisburg gegen VfL Osnabrück wegen „Ugga-ugga-Rufen“ auf der Tribüne, wie aktuell die Themen nach wie vor sind.
Für die Aktualität spricht auch eine repräsentative Studie der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, der zufolge jeder zweite Befragte* mit Migrationshintergrund in den letzten zwei Jahren Diskriminierung erlebt hat. Ein fast schon verstörender Befund. Immerhin: Die Tatsache, dass die Beschwerden wegen rassistischer Diskriminierung im vergangenen Jahr drastisch zugenommen haben, zeigt zumindest auch, dass Diskriminierung von den Opfern seltener einfach hingenommen wird, als es in der Vergangenheit der Fall war. Erhielt die Antidiskriminierungsstelle 2019 lediglich 1.176 entsprechende Beratungsanfragen, waren es 2020 mit 2.101 Anfragen rund 80 % mehr.
Der Großteil aller Diskriminierungen bleibt aber immer noch unbeanstandet und damit ohne (rechtliche) Konsequenzen. Zwar lassen strenger werdende Gesetzgebung, einschlägige Gerichtsurteile sowie technologischer Fortschritt – wie z.B. die Antidiskriminierungsplattform YANA, auf der Vorfälle gemeldet und kostenlose Beratungsangebote via Chatbot gefunden werden können – auf eine diskriminierungsfreie(re) Welt hoffen. Letztlich aber liegt es an der Zivilgesellschaft und damit an jedem Einzelnen von uns, den kleinen und großen Diskriminierungen im Alltag entgegenzutreten.
Denn Diskriminierung geht uns alle an!
Im Namen der Toleranz sollten wir das Recht beanspruchen, die Intoleranz nicht länger zu tolerieren.
Sir Karl Raimund Popper
Allerhöchste Zeit also, sich mit den rechtlichen Grundlagen des Antidiskriminierungsrechts in Deutschland auseinanderzusetzen. Wir räumen mit fünf Fehlvorstellungen auf!
1. In der deutschen Rechtsordnung sind Diskriminierungen – verstanden als nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlungen – jeglicher Art allgemein unzulässig.
Falsch: Zwar enthält die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland mit dem allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG sowie mit den besonderen Diskriminierungsverboten des Art. 3 Abs. 3 GG (u.a. wegen des Geschlechtes, der Abstammung, Rasse und Religion) eine klare Positionierung gegen Diskriminierung. Zur Wahrung der Grundrechte als „Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat“ wird aber unmittelbar nur der Staat verpflichtet (vgl. Art. 1 Abs. 3 GG: „Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.“). Sie gelten im Privatrecht (als Teil der objektiven Wertordnung) grds. allenfalls mittelbar über die Generalklauseln des Zivilrechts sowie die Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe (sog. Ausstrahlungswirkung der Grundrechte oder auch mittelbare Drittwirkung, Lüth-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, Urteil v. 15. Januar 1958 – 1 BvR 400/51).
Eine Privatrechtswirkung des allgemeinen Gleichheitssatzes wurde sogar jahrzehntelang kategorisch abgelehnt (mit der Stadionverbotsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts, Urteil v. 11. April 2018 – 1 BvR 3080/09, wurde dieser Grundsatz freilich unlängst etwas aufgeweicht und private Veranstalter wurden bei Ausübung ihres Hausrechts einem Willkürverbot unterworfen; zur unmittelbaren Drittwirkung von Art. 21 Grundrechtecharta (GRCh) unter Privaten vgl. EuGH in der Sache Egenberger, Urteil v. 17. April 2018 – C-414/16). Grund hierfür ist, dass der Bürger gegenüber dem mit besonderen Hoheitsbefugnissen ausgestatteten Staat besonders schutzbedürftig erscheint, während die Bürger ihre Beziehungen untereinander grds. privatautonom gestalten können sollen. Hierzu gehört im Privatrechtsverkehr insbesondere die Vertragsautonomie als Teil der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG): Bürger können Verträge schließen, mit wem und warum sie wollen – und aus ebendiesen Gründen grds. auch Vertragsschlüsse ablehnen.
Das ist einerseits richtig und wichtig, andererseits greift ein Verständnis, demzufolge das Antidiskriminierungsrecht der Privatautonomie nur als Antagonist gegenübersteht, ersichtlich zu kurz. Denn das Antidiskriminierungsrecht hebt nicht in erster Linie die Vertragsfreiheit auf, sondern bezweckt (zumindest auch) deren Sicherung als gleiche Freiheit aller. Es dient damit der Sicherung bzw. Förderung der Freiheit der Schwächeren, also derjenigen, die ohne sie keinen Vertrag schließen könnten.
Dieses Spannungsverhältnis regelt in Deutschland seit dem Jahr 2006 das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG), das vier europäische Antidiskriminierungsrichtlinien umsetzt. § 7 AGG verbietet Benachteiligungen wegen der in § 1 AGG genannten Merkmale („aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität“), sieht für den Fall des Verstoßes gegen diese Verbote Sanktionen vor (Schadensersatz- bzw. Entschädigungsanspruch nach § 15 Abs. 1, Abs. 2 bzw. § 21 Abs. 2 S. 1, S. 3 AGG) und begründet unter Umständen eine Beweislastumkehr (§ 22 AGG). Zudem wird durch §§ 3 Abs. 3, 12 Abs. 3 AGG und § 75 Abs. 1 BetrVG die Pflicht des Arbeitgebers begründet, sein Personal vor diskriminierenden Anfeindungen zu schützen. Die Diskriminierungsverbote und die damit korrespondierenden Sanktionen entfalten aber nur im Rahmen des Anwendungsbereichs des AGG (vgl. § 2 bzw. § 19 AGG) und nur betreffend die in diesem abschließend aufgezählten Diskriminierungsmerkmale (vgl. § 1 AGG) Wirkung.
Ist das AGG mithin nicht anwendbar bzw. wird aus anderen Gründen als den in § 1 aufgezählten diskriminiert (z.B. wegen [vermeintlich] schlechten Aussehens, „asozialer Herkunft“ oder Übergewicht), ist dies also grds. zulässig. Das gilt zumindest, solange die Abweisung nicht z.B. ehrverletzend ist (in diesem Fall kann z.B. ein Anspruch auf Schadensersatz aus § 823 Abs. 1 BGB bestehen, wenn das allgemeine Persönlichkeitsrecht verletzt ist).
Art. 3 Abs. 1 GG lässt sich auch nach den Grundsätzen der mittelbaren Drittwirkung kein objektives Verfassungsprinzip entnehmen, wonach die Rechtsbeziehungen zwischen Privaten von diesen prinzipiell gleichheitsgerecht zu gestalten wären. Grundsätzlich gehört es zur Freiheit jeder Person, nach eigenen Präferenzen darüber zu bestimmen, mit wem sie unter welchen Bedingungen Verträge abschließen will.
BVerfG, „Stadionverbotsbeschluss“ v. 11. April 2018 – 1 BvR 3080/09
2. Im Arbeitsleben sind unmittelbare Diskriminierungen verboten, mittelbare Diskriminierungen hingegen erlaubt.
Falsch: Ausgangspunkt ist § 7 AGG, demzufolge Beschäftigte nicht wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes benachteiligt werden dürfen. Nicht gerechtfertigte Benachteiligungen sind unzulässig – nicht nur in Bezug auf die Ausgestaltung der Bedingungen im laufenden Arbeitsverhältnis (z.B. den Lohn – Stichwort: Gender Pay Gap) und auf dessen Beendigung, v.a. durch Kündigung (§ 2 I Nr. 2 AGG), sondern auch, soweit sie
die Bedingungen, einschließlich Auswahlkriterien und Einstellungsbedingungen, für den Zugang zur […] Erwerbstätigkeit
(§ 2 Abs. 1 Nr. 1 AGG) betreffen (Thema: Stellenausschreibung, § 11 AGG).
Aber wann sind Benachteiligungen unzulässig? Hier ist zwischen unmittelbarer (vgl. § 3 Abs. 1 AGG) und mittelbarer Diskriminierung (vgl. § 3 Abs. 2 AGG) zu unterscheiden.
Unmittelbare Benachteiligung bedeutet, dass eine Person wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person in einer vergleichbaren Situation erfährt, erfahren hat oder erfahren würde (§ 3 Abs. 1 AGG). Eine unmittelbare Benachteiligung wegen des Geschlechts liegt in Bezug auf § 2 Abs. 1 Nr. 2–4 AGG auch im Fall einer ungünstigeren Behandlung einer Frau wegen Schwangerschaft oder Mutterschaft vor (Klarstellung durch § 3 Abs. 1 S. 2 AGG), da ausschließlich Frauen schwanger bzw. Mutter sein können.
Unmittelbare Benachteiligungen sind grds. unzulässig, können aber ausnahmsweise gerechtfertigt („zulässig“) sein. Das Gesetz gibt zwei spezielle Rechtfertigungsgründe und einen allgemeinen Rechtfertigungsgrund vor (vgl. § 8 Abs. 1 AGG wegen „beruflicher Anforderungen“; vgl. für unterschiedliche Behandlungen wegen des Alters § 10 AGG sowie wegen der Religion und Weltanschauung § 9 AGG).
Eine mittelbare Benachteiligung liegt hingegen vor, wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes gegenüber anderen Personen in besonderer Weise benachteiligen können (§ 3 Abs. 2 S. 1 AGG). Beispiele sind die Benachteiligung von Teilzeitkräften, die zu einem ganz überwiegenden Teil Frauen sind, sowie Regelungen, die die Zulassung zu einer Berufsgruppe geschlechtsunabhängig von einer Körpergröße von z.B. mind. 170 cm abhängig machen und sich damit tatsächlich ganz überwiegend auf das weibliche Geschlecht auswirken. Auch die Anforderung „Deutsch als Muttersprache“ in einer Stellenanzeige kann eine mittelbare Benachteiligung wegen der „ethnischen Herkunft“ indizieren.
Eine mittelbare Benachteiligung scheidet allerdings schon tatbestandlich aus, wenn mit den betreffenden Vorschriften, Kriterien oder Verfahren ein rechtmäßiges Ziel verfolgt wird und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels geeignet, erforderlich und angemessen sind (vgl. § 3 Abs. 2 a.E. AGG; das wurde z.B. bei der Körpergröße von 170 cm vom EuGH für den Polizeidienst unlängst verneint, vgl. EuGH, Urteil v. 18. Oktober 2017 – C-409/16). Ist das der Fall, kommt es auf eine Rechtfertigung nach den §§ 8 ff. AGG gar nicht mehr an. Der im Rahmen mittelbarer Diskriminierung anzulegende Maßstab ist damit deutlich weniger streng als die bei unmittelbaren Benachteiligungen für eine Rechtfertigung maßgeblichen §§ 8–10 AGG. Das heißt aber keineswegs, dass mittelbare Benachteiligungen stets zulässig sind.
3. Für den Arbeitgeber ist der Außenauftritt seiner Angestellten oftmals von großer Bedeutung, gleichzeitig genießt der christliche Glaube im deutschen Arbeitsrecht besonderen Schutz. Ein katholisches Krankenhaus kann daher seinem katholischen Chefarzt bei Verstoß gegen das Verbot der Wiederheirat kündigen. Und eine Rezeptionistin kann aufgrund einer betriebsinternen Richtlinie angewiesen werden, während der Arbeit kein Kopftuch zu tragen.
Falsch: Zwar ist richtig, dass beide vorstehenden Sachverhalte über Jahre hinweg von den Gerichten verschiedenster Instanzen teilweise genau so beurteilt wurden. Dies ist aber nicht länger der Fall.
Zur Rechtfertigung wurde früher seitens des Krankenhauses das verfassungsrechtlich geschützte Selbstbestimmungsrecht der Kirchen (Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Weimarer Reichsverfassung) ins Feld geführt, aufgrund dessen eine dahingehende Regelung in der „Grundordnung des kirchlichen Dienstes im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse“ (GrO) nach § 9 Abs. 2 AGG gerechtfertigt ist; eine solche Regelung sei somit nicht gem. § 7 Abs. 2 AGG unwirksam und ein Verstoß hiergegen könne einen verhaltensbedingten Kündigungsgrund darstellen.
Zugunsten der muslimischen Rezeptionistin hingegen wurde vorgetragen, das Verbot des Tragens eines Kopftuches stelle eine mittelbare Diskriminierung nach § 3 Abs. 2 AGG dar und mache eine dahingehende Arbeitgeberweisung (§ 106 S. 1 GewO) nach § 7 Abs. 2 AGG unwirksam, da die Religionsfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 GG bzw. Art. 10 GRCh insofern gegenüber der Unternehmerfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG bzw. Art. 16 GRCh überwiege.
Hierüber wurde zwischen den Gerichten verschiedenster Instanzen jahrelang – im Falle des Krankenhauses sogar unter Zwischenschaltung des Bundesverfassungsgerichts – bitter gestritten. Inzwischen hat der EuGH nach Vorlagen des Bundesarbeitsgerichts für Klarheit gesorgt:
- Bezüglich des Verbotes der Wiederheirat entschied der EuGH (Urteil v. 11. September 2018 – C-68/17), dass die Entscheidung der Kirche, an ihre leitenden Angestellten – je nach deren Konfession – unterschiedliche Anforderungen in Bezug auf loyales Verhalten zu stellen, gerichtlicher Kontrolle zugängig sei. Bei dieser müsse das nationale Gericht prüfen, ob die Religion im Hinblick auf die Art der in Rede stehenden beruflichen Tätigkeit sowie der Umstände ihrer Ausübung eine „wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung“ (vgl. auch § 9 Abs. 1 AGG) sei. Dabei muss es auf die konkrete Tätigkeit und ihre Nähe zum Verkündigungsauftrag der Kirche ankommen, was von den nationalen Gerichten nicht mehr in Form einer „Plausibilitäts- oder Missbrauchskontrolle“, sondern einer „Rechtskontrolle“ zu prüfen sei. Gleichzeitig ließ der EuGH aber durchblicken, dass es doch eher fernliegend sei, im Sakrament der Ehe eines Chefarztes eine wesentliche Anforderung für seine berufliche Tätigkeit zu sehen, da es bei einem Arztbesuch doch vielmehr auf dessen medizinische Fähigkeiten ankomme. Eine Beurteilung, der sich das BAG in der Folge anschloss, sodass es die Kündigung des Chefarztes mangels Verstoßes gegen seine Loyalitätspflichten für unwirksam erachtete (für die verwandte Frage der Zulässigkeit einer konfessionsabhängigen Einstellungspraxis in kirchlichen Einrichtungen vgl. die ebenfalls kirchenrechtskritische Entscheidung in der Sache Egenberger, EuGH, Urteil v. 17. April 2018 – C-414/16).
- Auf die Vorlage im Fall der Rezeptionistin entschied der EuGH (Urteil v. 15. Juli 2021 – C-341/19 – in der Sache Bougnaoui) hingegen, dass eine interne Regel, die den Arbeitnehmern das Tragen jedes sichtbaren Zeichens politischer oder religiöser Überzeugung am Arbeitsplatz verbietet, keine unmittelbare Diskriminierung darstelle, sofern diese Regel allgemein und unterschiedslos angewandt werde. Dem obersten europäischen Gericht zufolge kann ein Arbeitgeber also das Tragen auffälliger religiöser Zeichen wie des Kopftuchs im Unternehmen verbieten, um den Kunden gegenüber ein Bild der Neutralität zu vermitteln bzw. soziale Konflikte zu vermeiden, wenn im Unternehmen eine ansonsten konsequente Neutralitätspolitik verfolgt wird. Das gilt jedenfalls, wenn die Anweisung auf einer unternehmensinternen Regelung beruht und der Arbeitnehmer mit Kunden des Arbeitgebers in Kontakt treten soll (deren Wünsche jedoch grds. unbeachtlich sind, vgl. EuGH in der Sache Achbita, Urteil v. 14. März 2017 – C-188/15). Im skizzierten Fall wäre eine solche Regelung und die mit ihr einhergehende mittelbare Ungleichbehandlung also gerechtfertigt, stellt keine Diskriminierung und damit keinen Verstoß gegen Art. 7 Abs. 2 GG dar und ist daher aufgrund des Weisungsrechts des Arbeitgebers (§ 106 S. 1 GewO) zu befolgen.
4. Das AGG verbietet Diskriminierungen nur im Arbeitsleben. Außerhalb dessen (also z.B. im Mietrecht) sind nicht gerechtfertigte Benachteiligungen im privaten Rechtsverkehr also grds. erlaubt.
Falsch: Zwar schützt das AGG v.a. vor Diskriminierungen im Arbeitsleben. Das zeigt sich zum einen am Aufbau des Gesetzes, dessen arbeitsrechtlicher Teil (Abschnitt 2) zwölf Paragraphen umfasst, während dem „Schutz vor Benachteiligungen im Zivilrechtsverkehr“ nur drei Paragraphen gewidmet sind. Zum anderen beschäftigen sich die allermeisten Entscheidungen zum AGG mit Benachteiligungen im Arbeitskontext.
Diese Tatsachen sollten aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Anwendungsbereich des AGG – entgegen einer verbreiteten Fehlannahme – weit über das Arbeitsrecht hinausgeht. So sind nach § 19 Abs. 1 AGG Benachteiligungen aus fast allen in AGG genannten Gründen bei der Begründung, Durchführung und Beendigung zivilrechtlicher Schuldverhältnisse, die entweder ein sog. Massengeschäft (Nr. 1) oder aber eine privatrechtliche Versicherung (Nr. 2) zum Gegenstand haben, unzulässig.
Unter einem Massengeschäft versteht man laut § 19 Abs. 1 „Schuldverhältnisse, die typischerweise ohne Ansehen der Person in einer Vielzahl von Fällen zu vergleichbaren Bedingungen zustande kommen“. Das sind typischerweise Verträge im Bereich der Konsumgüterwirtschaft sowie standardisierte Dienstleistungen, etwa des Einzelhandels, der Gastronomie oder des Transportgewerbes.
So haben Gerichte z.B. entschieden, dass Diskothekbesuche trotz Türsteherselektion dem AGG unterfallen, da für den Betreiber regelmäßig nicht die individuelle Person, sondern allenfalls gewisse Negativmerkmale (unangemessene Kleidung, Alkoholisierung etc.) eine Rolle spielen. Sie haben im Fall der Verweigerung eines Diskothekbesuchs wegen der Hautfarbe eine entschädigungspflichtige Diskriminierung angenommen (OLG Stuttgart, Urteil v. 12. Dezember 2011 − 10 U 106/11), eine Diskriminierung im Fall der Ablehnung eines Festivalgängers wegen seines Alters hingegen abgelehnt (BGH, Urteil v. 5. Mai 2021 – VII ZR 78/20).
Neben diesen eher kurzzeitigen Vertragsschlüssen des alltäglichen Lebens ist die Diskriminierung aber v.a. auf dem Wohnungsmarkt ein großes Problem: Einer repräsentativen Umfrage der Antidiskriminierungsstelle des Bundes aus dem Jahr 2019 zufolge haben rund 35 % der Befragten mit Migrationshintergrund, die in den vergangenen zehn Jahren auf Wohnungssuche waren, rassistische Diskriminierung erlebt. Auch sog. Testing-Studien deuten darauf hin, dass z.B. Menschen mit türkischem Nachnamen deutlich seltener eine Einladung zur Wohnungsbesichtigung erhalten, als Bewerber mit gleichem beruflichen Status bzw. gleichen Vermögensverhältnissen, aber deutschem Nachnamen.
Im Mietrecht gelten die meisten Benachteiligungsverbote nach § 19 Abs. 1 Nr. 1, 3–5 AGG nur für Vermieter, die mehr als 50 Wohnungen zum nicht nur vorübergehenden Gebrauch vermieten. Bei weniger als 50 Wohnungen sind derartige Benachteiligungen also grds. zulässig. Denn dann liegt kein Massengeschäft nach § 19 Abs. 1 Nr. 1 AGG vor, sodass nur § 19 Abs. 2 i.V.m. § 2 Abs. 1 Nr. 8 AGG zu beachten ist (die Zahl 50 gilt dabei nicht absolut, sondern „in der Regel“, sodass das AGG auch bei weniger Wohnungen anwendbar sein kann). Eine besondere Ausnahme gilt aber für das Verbot von Benachteiligungen wegen der „Rasse oder ethnische(n) Herkunft“, das grundsätzlichere Geltung hat, vgl. § 19 Abs. 2 AGG. Bezogen auf das Mietrecht gilt dieses Diskriminierungsverbot damit unabhängig von der Anzahl der vermieteten Wohnungen und damit auch, wenn nur eine Wohnung vermietet wird.
Alle Diskriminierungsverbote gelten hingegen nicht, wenn durch das Mietverhältnis ein besonderes Nähe- und Vertrauensverhältnis begründet wird (z.B. wenn Parteien auf demselben Grundstück wohnen), vgl. § 19 Abs. 4 S. 1 und S. 2 AGG. Zudem gilt § 19 Abs. 3 AGG: Eine unterschiedliche Behandlung ist zulässig im Hinblick auf die Schaffung und Erhaltung sozial stabiler Bewohnerstrukturen und ausgewogener Siedlungsstrukturen bzw. ausgeglichener wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Verhältnisse. Die Rechtsprechung fordert hierfür, dass der Vermieter ein „schlüssiges Integrationskonzept“ zur Vermieterauswahl erarbeitet hat, um in geeigneter Weise Ghettobildungen zu bekämpfen und Ausgrenzung zu verhindern (Derleder NZM 2008, 505 [510]).
5. Arbeitnehmer und Mietinteressenten müssen Informationen, die Diskriminierungen zur Folge haben können, nicht von sich aus offenlegen. Werden Sie aber z.B. nach der ethnischen Herkunft oder einer geplanten Schwangerschaft gefragt, müssen sie die Frage wahrheitsgemäß beantworten.
Falsch: Zwar ist es richtig, dass Arbeitnehmer bzw. Mietinteressenten grds. auf Fragen des Arbeitgebers bzw. Vermieters wahrheitsgemäß antworten müssen (sog. Wahrheitspflicht als Konkretisierung der auch schon vor Vertragsschluss bestehenden Treuepflicht). Unabhängig von den Diskriminierungsverboten des AGG gilt aber grds., dass im Bewerbungsverfahren um eine Wohnung oder einen Arbeitsplatz nur solche Fragen zulässig sind, hinsichtlich derer der Vermieter bzw. Arbeitgeber ein berechtigtes, billigenswertes und schutzwürdiges Interesse hat, das gegenüber dem Interesse des Arbeitnehmers bzw. Mietinteressenten, seine Individualsphäre geheim zu halten, überwiegt. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn die Fragen die Arbeitsleistung des Arbeitsnehmers bzw. Erfüllungsbereitschaft und -fähigkeit eines potentiellen Mieters betreffen.
So hat der BGH für das Mietrecht entschieden, dass
Fragen nach der Person und Anschrift des Vorvermieters, der Dauer des vorangegangenen Mietverhältnisses und der Erfüllung der mietvertraglichen Pflichten – ebenso wie Fragen nach den Einkommens- und Vermögensverhältnissen – grundsätzlich geeignet [sind], sich über die Bonität und Zuverlässigkeit des potentiellen Mieters ein gewisses Bild zu machen[,]
Und daher zulässig sind. Gleiches gilt nach dem LG Itzehoe (Urteil v. 28. März 2008 – 9 S 132/07) für Fragen nach dem Beruf, Mietschulden aus früheren Rechtsverhältnissen oder auch dem Familienstand. Im Arbeitsleben hingegen werden insbesondere tätigkeitsbezogene Fragen, z.B. nach einschlägiger Erfahrung bzw. einschlägigen Fähigkeiten, für zulässig erachtet. Fragen nach Vorstrafen, Krankheiten, Drogenabhängigkeit und Infektionen sind hingegen von vornherein nur zulässig, wenn sie im funktionellen Zusammenhang zum einzugehenden Arbeitsverhältnis stehen. Ist dies der Fall und sind die Fragen für den Arbeitgeber bzw. Vermieter mithin erlaubt, müssen sie im Bewerbungsgespräch wahrheitsgemäß beantwortet werden. Beantwortet der Bewerber bzw. Mietinteressent die Frage nicht wahrheitsgemäß, kann der Arbeitgeber bzw. Vermieter den Vertrag wegen arglistiger Täuschung anfechten.
Besteht ein anerkennenswertes Interesse hingegen nicht, ist oft das Recht auf informationelle Selbstbestimmung betroffen (BGH, Urteil v. 28. März 2008 – 9 S 132/07), z.B. weil die Fragen den persönlichen oder intimen Lebensbereich der Bewerber betreffen (vgl. BGH, Urteil v. 9. April 2014 – VIII ZR 107/13). Dann aber steht es diesen frei, unwahre Angaben zu machen, sodass in diesem Fall weder eine Pflichtverletzung noch ein Kündigungs- bzw. Anfechtungsgrund vorliegt (vgl. auch BGH, Urteil v. 9. April 2014 – VIII ZR 107/13). Dies wird im Arbeitsrecht als das „Recht auf Lüge“ bezeichnet und ist insbesondere bei personenbezogenen Fragen, wie z.B. der Frage nach einer geplanten Schwangerschaft oder der Gewerkschaftszugehörigkeit, gegeben. Sind Diskriminierungsmerkmale nach dem AGG betroffen, ist die Frage nicht nur unzulässig, sondern kann zudem auch ein Indiz für eine Benachteiligung nach § 22 AGG bilden, was bei mangelnder Widerlegung zu Schadensersatz- bzw. Entschädigungsansprüchen berechtigen kann.
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*Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Lediglich der leichteren Lesbarkeit halber wird künftig bei allen Bezeichnungen nur noch die grammatikalisch männliche Form verwendet.