10. November 2015
129 AO
Steuerrecht

Keine Berichtigung nach § 129 AO bei Übernahme „vermeintlicher″ mechanischer Fehler

BFH verneint weitere Ausdehnung des Anwendungsbereiches des § 129 AO für den Fall der Übernahme offenbarer Unrichtigkeiten durch die Finanzverwaltung.

Nach Eintritt der (materiellen und formellen) Bestandskraft können Steuerbescheide auch bei materiell falscher Steuerfestsetzung nur geändert werden, wenn dies eine gesetzlich definierte Änderungsnorm erlaubt.

Eine aufgrund ihrer Konzeption überwiegend den Finanzbehörden offenstehende Änderungsmöglichkeit ergibt sich aus der in der Vergangenheit mehrfach bzgl. ihres Anwendungsbereiches strittigen Norm des § 129 AO. Gemäß § 129 AO kann die Finanzbehörde Schreibfehler, Rechenfehler und ähnliche offenbare Unrichtigkeiten, die beim Erlass eines Steuerbescheides unterlaufen sind, jederzeit vor Ablauf der Festsetzungsfrist berichtigen.

Anwendungsbereich des § 129 AO ausgedehnt

Unter tatkräftiger Mitwirkung der Rechtsprechung ist es der Finanzverwaltung bereits gelungen, den Anwendungsbereich der Norm über den eigentlichen Gesetzeswortlaut hinaus auszudehnen. § 129 AO ist über seinen Wortlaut hinaus auch bereits dann anwendbar, wenn das Finanzamt offenbar fehlerhafte Angaben des Steuerpflichtigen als eigene übernimmt (sog. Übernahmefehler). Es muss somit nicht zwingend alleiniger Verursacher offenbarer Unrichtigkeiten im Sinne rein mechanischer Versehen wie Schreibfehler, Rechenfehler oder ähnlichen Fehlern sein.

Keine erneute Ausweitung des § 129 AO

Mit Urteil vom 16. September 2015 – IX R 37/14 hat der BFH den Bemühungen der Finanzverwaltung, eine noch weiter gehende Ausdehnung der Anwendungspraxis des § 129 AO zu erreichen, eine klare Absage erteilt.

Im zugrundeliegenden Streitfall hatte die Finanzverwaltung bei nachträglicher Überprüfung des Sachverhaltes im Rahmen einer Außenprüfung in der fehlerhaften Rechtsauffassung des steuerlichen Beraters eine offenbare Unrichtigkeit gesehen und den Steuerbescheid zu Lasten des Steuerpflichtigen nach § 129 AO geändert.

Das Finanzgericht München konnte in der Vorinstanz vom Standpunkt eines objektiven Dritten aus betrachtet keine eigenen rechtlichen Überlegungen des Finanzamtes erkennen und ging trotz zweifelsfrei aus der Aktenlage ersichtlichen rechtlichen Erwägungen seitens des steuerlichen Beraters von einem rein mechanischen Übernahmefehler im Sinne des § 129 AO aus.

Dem Steuerpflichtigen zurechenbare Tatsachen- oder Rechtsirrtümer können keine Übernahmefehler sein

Der BFH teilte indes die Auffassung des Finanzgerichtes und der Finanzverwaltung nicht. Er stellte erstmals unmissverständlich klar, dass eine Übernahme offenbarer Unrichtigkeiten durch das Finanzamt, mithin eine Änderung des Steuerbescheides nach § 129 AO, bereits dann ausscheidet, wenn seitens des Steuerpflichtigen dokumentierte Tatsachen- oder Rechtsüberlegungen stattgefunden haben.

Ein „vermeintlicher″ mechanischer Fehler, der lediglich aus Empfängersicht als offenbare Unrichtigkeit erscheinen mag, wird von § 129 AO nicht erfasst. Vielmehr kann eine Übernahme einer offenbaren Unrichtigkeit durch das Finanzamt nur dann erfolgen, wenn bereits auf Ebene des Steuerpflichtigen eine offenbare Unrichtigkeit und kein Tatsachen- oder Rechtsirrtum vorgelegen hat.

BFH verhindert weiteren Verlust von Rechtssicherheit der Steuerpflichtigen

In der Vergangenheit war die Ausdehnung der Anwendungspraxis des § 129 AO in der Literatur zuweilen starker rechtsstaatlicher Kritik ausgesetzt (vgl. Tehler, DStR 2009, 1019). Dies liegt unter anderem daran, dass die Entscheidung zwischen der Beurteilung einer offenbaren Unrichtigkeit oder eines den Anwendungsbereich des § 129 AO ausschließenden Tatsachen- oder Rechtsirrtums nach ständiger Rechtsprechung unter Berücksichtigung der Verhältnisse des Einzelfalles und dabei insbesondere nach der Aktenlage zu beantworten ist (z.B. BFH v. 16.7.2003 – X R 37/99, BStBl II 2003, 867).

Die Möglichkeit des Steuerpflichtigen, einen Tatsachen- oder Rechtsirrtum seitens des Finanzamtes auf Basis der Aktenlage nachweisen zu können, ist insbesondere vor dem Hintergrund des zunehmend automatisierten Steuerveranlagungsverfahrens auf Basis elektronischer Steuererklärungen und damit einhergehender Nichtexistenz von Aktenvermerken regelmäßig ausgeschlossen.

Dieses normative Defizit wäre ungleich größer geworden, wäre der BFH dem vorinstanzlichen Urteil des Finanzgerichtes gefolgt. Faktisch hätte sich dadurch die einseitige Möglichkeit der Finanzverwaltung ergeben, aus jedweder fehlerhaften Tatsachen- oder Rechtsauslegung des Steuerpflichtigen, die sich zu Ungunsten der Finanzverwaltung ausgewirkt hat, nachträglich einen potentiellen Anwendungsfall des § 129 AO zu konstruieren. Dem Steuerpflichtigen bliebe nur der ungeliebte Rechtsweg.

Tatsachen – und Rechtsüberlegungen dokumentieren

Für die Praxis gilt, angestellte Tatsachen- oder Rechtsüberlegungen im Zuge der Steuererklärungserstellung bestmöglich auch gegenüber der Finanzbehörde zu dokumentieren. So kann einer diesbezüglich „vermeintlichen″ Anwendung des § 129 AO der Boden entzogen werden. Insoweit konnte der BFH durch sein Urteil vom 16. September 2015 Rechtssicherheit schaffen bzw. bewahren.

Tags: 129 AO
Klaus Nachstedt
am 07.09.2017 um 13:02:38

Sehr geehrter Herr Uckele,
aus Ihrem sehr ausführlichen Text zum §129 AO wird mir die Anwendung auf meinen Fall leider nicht richtig klar:

Das FA hat bei einer korrekt über ELSTER abgegebenen Steuererklärung eine Anlage EUR für eine freiberufliche Tätigkeit in dem Steuerbescheid nicht berücksichtigt.
Dies war für mich ein „Steuervorteil“ von mehreren tausend Euro.
Nun erhalte ich (2 Monate nach Eingang des ersten Steuerbescheides) einen korrigierten Steuerbescheid mit den korrekten Zahlen. Ich habe unter Berufung auf § 173 AO Einspruch eingelegt.
Das FA rät mir im Antwortschreiben, den Einspruch zurückzuziehen, da fast keine Chance auf Erfolg besteht.
Nach Ansicht des FAs war dies ein Fehler im Sinne von §129 AO.

Meiner Ansicht nach kann es doch bei korrekter online-Übermittlung keine „Eingabefehler oder mechanische Fehler“ geben.

Ich wäre Ihnen für eine Stellungnahme sehr dankbar.

Michael Uckele
am 12.09.2017 um 12:05:30

Sehr geehrter Herr Nachstedt,

leider kann ich Ihnen auf Basis Ihrer Ausführungen kaum Hoffnung machen. Auch elektronisch übermittelte Steuererklärungsdaten werden geprüft, beurteilt/bearbeitet und schließlich freigeben, um dann in den Steuerbescheid übernommen werden zu können. Im Verlaufe dieses Prozesses können ohne Weiteres offenbare Unrichtigkeiten im Sinne mechanischer Fehler auftreten. Beispielsweise können diese vorliegen, wenn der zuständige Sachbearbeiter irrtümlich (d. h. ohne steuerliche Wertung) notwendige Eintragungen wie bspw. die Übernahme von Einkünften oder anderen Eingaben versehentlich sperrt oder löscht. Die Würdigung, dass der zuständige Sachbearbeiter aufgrund rechtlicher Überlegungen zu dem Entschluss kam, Ihre Einkünfte nicht zu berücksichtigen, halte ich doch für sehr unwahrscheinlich. Der Anscheinsbeweis spricht daher eher für eine versehentliche Nichterfassung Ihrer Einkünfte im Rahmen einer offenbaren Unrichtigkeit.

Falls sich das Finanzamt etwas konkreter dazu äußert, wie es zur Nichterfassung der Einkünfte im Steuerbescheid kam, könnten ggfs. daraus etwaige Anhaltspunkte entnommen werden, die eine Anwendung des §129 AO im konkreten Fall wider Erwarten ausschließen. Dies halte ich jedoch nach Ihren bisherigen Schilderungen für eine überwiegend theoretische Möglichkeit.

Freundliche Grüße
Michael Uckele

Frieder Lilje
am 18.01.2018 um 16:25:34

Sehr geehrter Herr Uckele, zufällig bin ich bei der Suche nach „Fakten“ auf Ihrer Seite. Gilt der §129 AO nur für das FA bei Fehlern/Unrichtigkeiten = zu Lasten des StPfl., oder auch, wenn das FA einen Fehler zu-UNGUNSTEN des StPfl gemacht hat? Ist es richtig, §-Text 129 = FA kann(!) ändern (zugunsten StPfl.) = Ermessenssache. Auch ? = „Bei berechtigtem Interesse des Beteiligten ist zu berichtigen“ ? Es geht um NICHT-Berücksichtigung Künstlerfreibetrag § 3.26 EStG mit Falsch-Behauptung bei Vorliegen von umfassenden Anlagen/schriftlich-nicht online.

Michael Uckele
am 22.01.2018 um 10:04:42

Sehr geehrter Herr Lilje,

bitte sehen Sie meine Anmerkungen im Folgenden in Ihre Ausgangsmail eingefügt. Beachten Sie dabei, dass sich die Möglichkeit der Änderung nach §129 AO nur eröffnet, wenn der Finanzbehörde eine offenbare Unrichtigkeit bei Erlass des Verwaltungsaktes unterlaufen ist, nicht jedoch, wenn der Nichtberücksichtigung durch das Finanzamt sachbezogene Erwägungen zugrunde lagen.

Sehr geehrter Herr Uckele, zufällig bin ich bei der Suche nach „Fakten“ auf Ihrer Seite. Gilt der §129 AO nur für das FA bei Fehlern/Unrichtigkeiten = zu Lasten des StPfl., oder auch, wenn das FA einen Fehler zu-UNGUNSTEN des StPfl gemacht hat?

- § 129 AO greift sowohl zugunsten als auch zuungunsten des Finanzamtes/des Steuerpflichtigen.

Ist es richtig, §-Text 129 = FA kann(!) ändern (zugunsten StPfl.) = Ermessenssache.

- Grundsätzlich Ermessenssache des Finanzamtes mit Ausnahme des berechtigten Interesses des Beteiligten/Steuerpflichtigen.

Auch ? = „Bei berechtigtem Interesse des Beteiligten ist zu berichtigen“ ?

- Bei berechtigtem Interesse hat der Steuerpflichtige ein Rechtsanspruch auf Änderung. Berechtigtes Interesse besteht in aller Regel, wenn ein Steuerpflichtiger die Änderung des Verwaltungsaktes wünscht.

Es geht um NICHT-Berücksichtigung Künstlerfreibetrag § 3.26 EStG mit Falsch-Behauptung bei Vorliegen von umfassenden Anlagen/schriftlich-nicht online.

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