23. Februar 2023
Parallele Einlegung Rechtsbehelf DSGVO
Datenschutzrecht

EuGH-Urteil: Parallele Einlegung von Rechtsbehelfen nach DSGVO zulässig

Die verwaltungs- und zivilrechtlichen Rechtsbehelfe der DSGVO können einem EuGH-Urteil zufolge nebeneinander und unabhängig voneinander eingelegt werden.

Mit Urteil vom 12. Januar 2023 (C-132/21) hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) eine wichtige Klarstellung zur Einlegung von Rechtsbehelfen in Fällen der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) vorgenommen. Es obliege den Mitgliedstaaten sicherzustellen, dass die parallele Einlegung dieser Rechtsbehelfe die gleichmäßige und einheitliche Anwendung der DSGVO nicht beeinträchtigt.

Eine betroffene Person wehrt sich parallel vor Zivilgericht gegen den Verantwortlichen und vor dem Verwaltungsgericht gegen die Aufsichtsbehörde

Dem Verfahren lag folgender Sachverhalt vor einem ungarischen Gericht zugrunde: Ein Aktionär (die betroffene Person) nahm an der Hauptversammlung einer Aktiengesellschaft teil und richtete Fragen an die Mitglieder des Vorstands dieser Gesellschaft und andere Teilnehmer der Hauptversammlung. In der Folge forderte der Betroffene diese Gesellschaft als Verantwortliche auf, ihm die während der Hauptversammlung aufgenommene Tonaufnahme zur Verfügung zu stellen. Der Verantwortliche stellte dem Betroffenen nur die Teile der Aufzeichnung zur Verfügung, die seine Redebeiträge wiedergeben, nicht aber die der anderen Teilnehmer der Hauptversammlung.

Die betroffene Person war damit nicht zufrieden. Sie beantragte bei der Datenschutzaufsichtsbehörde (Aufsichtsbehörde), festzustellen, dass der Verantwortliche dadurch, dass er ihr die Aufzeichnung mit den Antworten auf ihre Fragen nicht zur Verfügung gestellt hat, rechtswidrig gehandelt und gegen die DSGVO verstoßen habe, und den Verantwortlichen anzuweisen, ihr die fragliche Aufzeichnung zur Verfügung zu stellen. Die Aufsichtsbehörde lehnte den Antrag ab.

Gegen diese Entscheidung der Aufsichtsbehörde erhob die betroffene Person gemäß Art. 78 Abs. 1 DSGVO Klage beim Verwaltungsgericht und beantragte in erster Linie die Abänderung, hilfsweise die Aufhebung der Entscheidung (erste Klage). Gleichzeitig erhob die betroffene Person eine zweite Klage gemäß Art. 79 Abs. 1 DSGVO vor einem Zivilgericht. Gegenstand dieser Klage war die Entscheidung des Verantwortlichen (zweite Klage). Während die erste Klage noch bei Gericht anhängig ist, hat das Gericht der zweiten Klage stattgegeben und festgestellt, dass der Verantwortliche das Recht der betroffenen Person auf Auskunft über ihre personenbezogenen Daten verletzt hat. Diese Entscheidung ist rechtskräftig.

Ungarisches Verwaltungsgericht legt EuGH Vorlagefragen zum etwaigen Vorrang eines der in den Art. 77 bis 79 DSGVO vorgesehenen Rechtsbehelfe vor

Das mit der ersten Klage befasste Verwaltungsgericht wies darauf hin, dass es denselben Sachverhalt und dieselbe Behauptung eines Verstoßes gegen die DSGVO zu prüfen habe, über die das Zivilgericht in der zweiten Klage bereits rechtskräftig entschieden habe. Daher stellte sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen der Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Entscheidung des Verantwortlichen durch ein Zivilgericht und dem Verwaltungsverfahren, in dem die Entscheidung der Aufsichtsbehörde erlassen wurde, die Gegenstand der bei dem Verwaltungsgericht anhängigen Klage ist, und insbesondere nach dem Vorrang des einen Rechtsbehelfs vor dem anderen. 

Die parallele Ausübung der in den Art. 77 bis 79 DSGVO vorgesehenen Rechtsbehelfe könnte nach Ansicht des Verwaltungsgerichts nämlich zum Erlass widersprüchlicher Entscheidungen in Bezug auf denselben Sachverhalt führen. Eine solche Situation berge die Gefahr der Rechtsunsicherheit sowohl für den Einzelnen als auch für die Aufsichtsbehörden. Das Verwaltungsgericht weist darauf hin, dass angesichts der Unabhängigkeit der Aufsichtsbehörden und des Vorrangs ihrer in der DSGVO festgelegten Zuständigkeiten im System des Schutzes personenbezogener Daten die Erfüllung der Aufgaben und die Ausübung der Befugnisse dieser Behörden beeinträchtigt würden, wenn sie bei ihrer Beurteilung an die Beurteilung eines Zivilgerichts gebunden wären, das zuvor auf der Grundlage von Art. 79 Abs. 1 DSGVO mit demselben Sachverhalt befasst wurde. Da die DSGVO keine Regelung über den Vorrang eines der in den Art. 77 bis 79 DSGVO vorgesehenen Rechtsbehelfe vorsehe, sei es Sache des EuGH, das Verhältnis dieser Rechtsbehelfe zueinander zu klären.

EuGH: Parallele Einlegung der Rechtsbehelfe zulässig

Ausgehend vom Wortlaut der Art. 77 bis 79 DSGVO stellt der EuGH zunächst fest, dass die Bestimmungen der DSGVO Personen, die eine Verletzung der DSGVO geltend machen, verschiedene Rechtsbehelfe zur Verfügung stellen, wobei jeder dieser Rechtsbehelfe „unbeschadet“ der anderen geltend gemacht werden können muss. Die DSGVO sehe weder eine vorrangige oder ausschließliche Zuständigkeit noch einen Vorrang der Beurteilung des Vorliegens einer Verletzung der durch die DSGVO verliehenen Rechte durch die genannte Aufsichtsbehörde oder das Gericht vor.

Dies werde durch den Kontext der DSGVO bestätigt. Der europäische Gesetzgeber habe das Verhältnis der in der DSGVO vorgesehenen Rechtsbehelfe im Falle der gleichzeitigen Anrufung von Aufsichtsbehörden oder Gerichten mehrerer Mitgliedstaaten durch denselben Verantwortlichen ausdrücklich geregelt (vgl. Art. 60 bis 63, 81 Abs. 2, 3 DSGVO). Eine solche Regelung fehlt bei den Rechtsbehelfen der Art. 77 bis 79 DSGVO

Darüber hinaus ergibt sich aus Art. 78 Abs. 1 DSGVO in Verbindung mit Erwägungsgrund 143, dass die Gerichte, bei denen ein Rechtsbehelf gegen eine Entscheidung einer Aufsichtsbehörde eingelegt wird, über eine umfassende Zuständigkeit verfügen sollen, die die Befugnis zur Prüfung aller für den bei ihnen anhängigen Rechtsstreit maßgeblichen Tatsachen- und Rechtsfragen umfasst. Erwägungsgrund 10 verlange zudem ein hohes Datenschutzniveau für die betroffenen Personen. Dies habe zur Folge, dass der betroffenen Person mehrere Rechtsbehelfe nebeneinander zur Verfügung stehen müssten. Die DSGVO erlege insbesondere den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten die Verpflichtung auf, ein hohes Schutzniveau für die in Art. 16 AEUV und Art. 8 GRCh garantierten Rechte zu gewährleisten.

EuGH: Umsetzung eines hohen Datenschutzniveaus obliegt den Mitgliedstaaten

Die konkrete Umsetzung eines hohen Datenschutzniveaus obliege nach Ansicht des EuGH den einzelnen Mitgliedstaaten. Das nationale Gericht habe auf der Grundlage der nationalen Verfahrensvorschriften zu bestimmen, wie die in der DSGVO vorgesehenen Rechtsbehelfe umzusetzen seien. Dabei sei zu beachten, dass die Modalitäten der Durchführung dieser nebeneinander bestehenden und voneinander unabhängigen Rechtsbehelfe die praktische Wirksamkeit und den effektiven Schutz der durch die DSGVO garantierten Rechte nicht in Frage stellen dürfen. In diesem Zusammenhang verweist der EuGH auf die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität. 

Die Parallelklage dürfe nicht zu widersprüchlichen Entscheidungen führen. In diesem Fall wäre das in Erwägungsgrund 10 genannte Ziel, unionsweit eine gleichmäßige und einheitliche Anwendung der Vorschriften zum Schutz der Grundrechte und Grundfreiheiten natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten zu gewährleisten, in Frage gestellt. Eine „Situation der Rechtsunsicherheit“ sollte vermieden werden.

Auswirkungen in Deutschland: Bindungswirkung gerichtlicher Entscheidungen eine Frage des Einzelfalls

Grundsätzlich sind rechtskräftige Urteile der Zivilgerichte in Deutschland gemäß § 322 Abs. 1 ZPO nur für nachfolgende Zivilprozesse bindend. Eine gewisse Bindungswirkung z.B. sozialversicherungsrechtlicher Entscheidungen für andere Gerichtszweige ergibt sich aus § 108 SGB VII.

Nach Auffassung des BGH sind die Zivilgerichte an rechtskräftige verwaltungsgerichtliche Entscheidungen nur im Rahmen der in § 121 VwGO geregelten Rechtskraftwirkung gebunden. Gegenüber Personen, die an dem verwaltungsgerichtlichen Verfahren nicht beteiligt waren und denen daher in diesem Verfahren auch kein rechtliches Gehör gewährt wurde, kann eine gerichtliche Entscheidung in einem späteren Schadensersatzprozess grundsätzlich keine Bindungswirkung entfalten. Nur im Rahmen dieser gesetzlich geregelten Rechtskraftwirkung sieht der BGH auch eine Bindung der Zivilgerichte an rechtskräftige Entscheidungen der Verwaltungsgerichte (BGH, Urteil vom 16. März 2021 – VI ZR 773/20).

Die Frage der Bindungswirkung gerichtlicher Entscheidungen für andere Gerichtszweige ist in Deutschland im Ergebnis einzelfallabhängig und muss im jeweiligen Verfahren von dem Gericht geprüft werden (vgl. Gehle, in: Anders/Gehle, ZPO, 81. Auflage 2023, Vorbemerkung zu § 322, Rn. 26).

Der EuGH stärkt die Rechte der betroffenen Personen. Es dürfe nicht zu ihren Lasten gehen, wenn sie wegen ein und desselben Sachverhalts mehrere Rechtsbehelfe einlegen. Vielmehr sei es Aufgabe der Mitgliedstaaten, dafür zu sorgen, dass die Rechte der betroffenen Personen ihre größte Wirksamkeit und Effektivität entfalten.

Die Mitgliedstaaten und insbesondere Deutschland sind nun in der Pflicht, ein kohärentes System zu schaffen, das die parallele Einlegung von Rechtsbehelfen in den von der DSGVO erfassten Fällen ermöglicht.

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