Ein schematisches Recht auf Vergessen gibt es nicht. Eine Berichterstattung über lange zurückliegende Verfehlungen eines Unternehmers kann nicht allein wegen Zeitablaufs verboten werden.
Das hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in einem Rechtsstreit zwischen dem Unternehmer Ulrich Marseille und dem Manager Magazin mit Beschluss vom 23. Juni 2020 (Az. 1 BvR 1240/14) entschieden. Die Entscheidung ist eine deutliche Rüge der Hamburger Gerichte, die Marseilles Unterlassungsklage zuvor stattgegeben hatten.
Magazin berichtet über Unternehmer, seine Firma, seine Vorstrafen, früheren Fehltritte und politischen Aktivitäten
Das Manager Magazin hatte im August 2011 in einem langen Artikel über Ulrich Marseille, das von ihm gegründete Klinikunternehmen Marseille Kliniken AG, dessen geschäftliche Aktivitäten sowie Einzelheiten der Biografie Marseilles berichtet, der im Jahr 2002 auch als Spitzenkandidat der Schill-Partei in Sachsen angetreten war.
Erwähnt wurden unter anderem eine strafrechtliche Verurteilung aus jüngerer Zeit wegen Bestechung einer Krankenkassen-Gutachterin sowie ein noch laufendes Verfahren wegen des Versuchs der Anstiftung zur uneidlichen Falschaussage. Ferner wurde darauf hingewiesen, dass Marseille zwar einen Pilotenschein besitze, aber sein rechtswissenschaftliches Studium nicht abgeschlossen habe, da er wegen Täuschungsversuchs vom Staatsexamen ausgeschlossen worden sei.
OLG Hamburg monierte unzulässiges „Ausgraben“
Das Landgericht Hamburg hatte dem Verlag untersagt, den Ausschluss vom Staatsexamen wegen Täuschungsversuchs zu erwähnen. Die Berufung des Verlags hatte keinen Erfolg.
Das OLG vertrat die Auffassung, dass der Hinweis auf den Täuschungsversuch mit erheblicher Missbilligung belegt sei und ein „Ausgraben“ im Kontext aktueller Berichterstattung den Betroffenen erneut der Häme aussetze, ohne dass dafür ein konkreter Anlass, etwa ein vergleichbares Fehlverhalten, bestanden habe.
BVerfG: Aktuelle Berichterstattung mit Hintergrundinformationen unterliegt nicht den Grundsätzen des „Rechts auf Vergessen“
Die Verfassungsbeschwerde des Manager Magazins hat nun Erfolg. Das BVerfG hat die Urteile der Vorinstanzen aufgehoben, da sie die Bedeutung und Reichweite der Meinungs- und Pressefreiheit verkannt hätten. In seiner Entscheidung weist das BVerfG zunächst darauf hin, dass es hier nicht um einen derjenigen Fälle gehe, die gemeinhin unter dem Aspekt des „Rechts auf Vergessen“ diskutiert werden, also alte Artikel, die von Medien in ihren Online-Archiven dauerhaft zum Abruf bereitgehalten werden. Vielmehr handele es sich um eine aktuelle Berichterstattung und die Frage, ob und inwieweit dabei vergangene Ereignisse wieder aufgegriffen werden dürfen. Das unterliege anderen Voraussetzungen als die Abrufbarkeit von Altmeldungen.
Für die Erwähnung lange zurückliegender biografischer Einzelheiten im Rahmen einer aktuellen Berichterstattung formuliert das BVerfG zunächst einige allgemeine Aspekte, die im Rahmen der Abwägung zwischen dem Berichterstattungsinteresse des Mediums und dem Persönlichkeitsrecht des Betroffenen zu berücksichtigen sind. Ein mögliches Abflauen des Berichterstattungsinteresses sei zwar denkbar, es lasse sich aber nicht allein aus dem zeitlichen Abstand zum Ereignis als solchem ableiten, sondern sei bei einer neuerlichen Berichterstattung anhand deren Anlasses zu bemessen. Anderenfalls könnte man über frühere Fehltritte öffentlich bekannter Personen regelmäßig gar nicht mehr berichten, wodurch ein gesamtes journalistisches Genre, nämlich Persönlichkeitsportraits und Biografien Prominenter, unzulässig oder zu einem Ort einseitig von den Betroffenen gesteuerter Selbstdarstellung würde. Ferner sei das Verhalten der betroffenen Person von maßgeblicher Bedeutung; wer aktiv in die Öffentlichkeit trete und dort kontinuierlich präsent sei, könne nicht in derselben Weise verlangen, dass sein früheres Verhalten nicht mehr öffentlich erörtert werde, wie eine Privatperson, die die Öffentlichkeit nicht gesucht habe.
BVerfG kritisiert Vorinstanzen: Verlässlichkeit von Unternehmern ist ein Anliegen der interessierten Öffentlichkeit
Im konkreten Fall hagelt es dann Kritik an den Entscheidungen der Hamburger Gerichte. Die Gründe, mit denen diese den Vorrang der persönlichkeitsrechtlichen Interessen Marseilles begründet hätten, seien nicht tragfähig. Die Berechtigung zur Mitteilung wahrer Tatsachen über eine in der Öffentlichkeit stehende Person erlösche nicht in schematischer Weise durch bloßen Zeitablauf. Der berichtete Täuschungsversuch im juristischen Staatsexamen sei zwar mit gesellschaftsrechtlicher Missbilligung verbunden, bewirke aber nicht die Gefahr einer sozialen Ausgrenzung, wie etwa Berichte über lange zurückliegende Strafurteile.
Die Gerichte hätten auch verkannt, dass der Täuschungsversuch mitnichten eine private Angelegenheit des Betroffenen sei. Denn dieser stehe in der Öffentlichkeit, das von ihm gegründete Unternehmen trage seinen Familiennamen und verschaffe damit auch ihm persönlich große öffentliche Sichtbarkeit. Zudem habe er sich zwischenzeitlich politisch betätigt. Und bei einem börsennotierten Unternehmen sei seine Verlässlichkeit als Unternehmerpersönlichkeit zwangsläufig auch Anliegen der interessierten Öffentlichkeit. Das Fazit des BVerfG lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: Eine Person, die derart dauerhaft in der Öffentlichkeit steht und sich darum auch bemüht, könne nicht verlangen, dass ihre in der Vergangenheit liegenden Fehler, nicht aber ihre Vorzüge, allgemein in Vergessenheit geraten.
Ergänzend merkt das BVerfG noch an, dass die Entscheidungen der Hamburger Gerichte auch in einem weiteren Punkt nicht tragfähig seien, soweit sie nämlich einen Zusammenhang des berichteten Täuschungsversuchs zu den aktuellen Ereignissen vermissten. Ein solcher Zusammenhang werde im Artikel schon mit der Erwähnung der beiden Strafverfahren hergestellt. Es sei grundsätzlich Aufgabe der Presse, selbst zu entscheiden, was sie mit welchen Umständen im Zusammenhang bringe und wie sie einen Sachverhalt bewerte. Die angegriffenen Entscheidungen hätten dies verkannt, wenn sie zwar ein öffentliches Interesse des Berichtsgegenstands als Ganzen und einen hinreichenden Zusammenhang zwischen der unternehmerischen Tätigkeit und den mitgeteilten Straftaten anerkennten, hiervon aber die Erwähnung des Täuschungsversuchs ausnähmen.
Personen des öffentlichen Lebens müssen umfassende Beleuchtung ihrer Vergangenheit hinnehmen
Das BVerfG hat die Sache zur neuerlichen Entscheidung an das Landgericht zurückverwiesen. Nach den klaren Worten des BVerfG dürfte der weitere Weg vorgezeichnet sein: Sollte der Kläger nicht zwischenzeitlich seine Streitlust verlieren, wird seine Klage abgewiesen werden müssen. Das ist auch richtig, denn wer sich als Unternehmer (und hier auch zeitweise Politiker) in die Öffentlichkeit drängt, muss sich gefallen lassen, dass sein beruflicher Werdegang umfassend beleuchtet wird – lange zurückliegende Fehltritte auf dem Weg in den Beruf eingeschlossen.
Aus dem zwischenzeitlichen Zeitablauf kann der mündige Rezipient ja seine eigenen Schlüsse ziehen und selbst entscheiden, ob er die mitgeteilte Information für die Einschätzung des heutigen Wirkens des Betroffenen überhaupt noch für relevant hält. Ihm diese Informationen gänzlich vorzuenthalten, geht aber nicht und ist eine glatte Bevormundung. Das liegt eigentlich auf der Hand, und es erstaunt schon sehr, dass es erst des BVerfG bedurfte, um dem Versuch Marseilles, vor der Öffentlichkeit eine Schattenseite seiner Biografie zu verbergen, Grenzen zu setzen.
So ist das Ganze aber auch zum Eigentor geworden. Der Artikel aus dem Jahr 2011 wäre längst vergessen, hätte Marseille nicht geklagt. Die Niederlage vor dem BVerfG ist damit eine doppelte, liefert sie doch einen neuen Anlass, den Täuschungsversuch beim Staatsexamen zu erwähnen, was auch in dieser Besprechung unvermeidbar ist.