EuGH zur Frage, wann der Abschluss von Mietverträgen durch öffentliche Auftraggeber als Mieter über noch zu errichtende Gebäude (Anmietung vom Reißbrett) vergaberechtliche Ausschreibungspflichten auslösen kann.
In seiner Entscheidung in der Rechtssache Wiener Wohnen (C-537/19) vom 22. April 2021 konkretisiert der EuGH den rechtlichen Rahmen zu der Frage, wann die öffentliche Hand bei der Anmietung eines noch zu errichtenden Gebäudes dem Anwendungsbereich des Vergaberechts unterliegt.
Dem Urteil lassen sich die maßgeblichen Abgrenzungskriterien entnehmen. Seine Relevanz für den Immobilienmarkt darf nicht unterschätzt werden.
EuGH weicht von den Schlussanträgen des Generalanwaltes ab
Das Urteil überrascht zunächst dahingehend, dass der Gerichtshof – anders als in der Mehrzahl der Verfahren – von den Schlussanträgen des Generalanwaltes vom 22. Oktober 2020 abweicht. Der Generalanwalt hatte in seinen Schlussanträgen noch angenommen, dass in dem betreffenden Fall ein Verstoß gegen die europarechtlichen Vergabevorschriften vorliege.
Dem tritt der EuGH entgegen und urteilt, dass für den Abschluss des Mietvertrages über ein neu zu errichtendes Bürogebäude in Wien durch die Wohnungsbaugesellschaft der Stadt Wien kein wettbewerbliches Vergabeverfahren durchgeführt werden musste. Dies gelte auch für den Fall eines langfristigen Mietvertrages über ein Gebäude, das nach Vorgaben des öffentlichen Auftraggebers errichtet wurde und fast ausschließlich von ihm angemietet werden soll.
Miete von vorhandenen Gebäuden unterliegt grundsätzlich nicht dem Anwendungsbereich des Vergaberechts
Den rechtlichen Rahmen für die Frage des sachlichen Anwendungsbereichs des Vergaberechts und seine Bedeutung bei Mietverträgen mit der öffentlichen Hand gab in dem im Verfahren die inzwischen außer Kraft getretene Richtlinie 2004/18/EG vor. Nach Artikel 16 lit. a) der Richtlinie fand diese keine Anwendung auf öffentliche Dienstleistungsaufträge, deren Gegenstand Erwerb oder Miete von Grundstücken oder vorhandenen Gebäuden oder anderem unbeweglichen Vermögen ist. Diese Ausnahme gilt inhaltsgleich nach der Richtlinie 2014/24/EU, die die vorgenannte Vergaberichtlinie abgelöst hat und durch § 107 Abs. 1 Nr. 2 GWB in deutsches Recht umgesetzt wurde.
Die Erkenntnisse aus dem Urteil lassen sich daher uneingeschränkt auf die aktuelle Rechtslage in Deutschland übertragen. Die Auslegung dieser scheinbar klaren Vorschrift wirft in einer Reihe von Konstellationen Fragen von großer praktischer Relevanz auf. Dies zeigt gerade der Sachverhalt, über den der EuGH zu entscheidend hatte. Es ging um eine Vermietung vom Reißbrett, also die Anmietung eines noch zu errichtenden Gebäudes durch die öffentliche Hand. Da das Gebäude noch zu errichten ist, sind Gegenstand solch eines Vertrages auch bauliche Maßnahmen und nicht allein die Anmietung als solche. Dies rückt ihn in unmittelbare Nähe zu dem ausschreibungspflichtigen Bauauftrag.
Miete vom Reißbrett unterliegt nicht zwangsläufig dem Vergaberecht
Der EuGH betont zu Beginn seiner rechtlichen Würdigung, dass sich die Ausnahmevorschrift von der Anwendung des Vergaberechts auch auf die Anmietung nicht vorhandener, d.h. noch nicht errichteter Gebäude erstrecken kann. Die Bestimmung sei dahingehend auszulegen. Mit diesem – wenn auch leider nicht näher begründeten Ergebnis – knüpft der EuGH an seine Rechtsprechungslinie in den Entscheidungen zu den Messehallen Köln (C-536/07) und in der Rechtssache Pizzarotti (C-213/13) an. Sie entspricht auch der nationalen Rechtsprechung in Deutschland, etwa der Vergabekammer des Bundes (VK 2-88/19).
Das Ergebnis überzeugt. Trotz der Bezugnahme auf die „vorhandenen“ Gebäude ist auch die Anmietung zu errichtender Gebäude vom Wortlaut erfasst. Die Gebäude müssen nicht schon bei Vertragsschluss vorhanden sein. Es genügt, dass sie mit Beginn des Mietverhältnisses vorhanden sind. Auch ein Mietvertrag kann den Beginn der Anmietung für einen späteren Zeitpunkt als den Vertragsschluss vorsehen und tut dies in aller Regel auch. Bezugspunkt kann daher auch der Zeitpunkt sein, in dem das Gebäude vorhanden sein wird.
Problem: Abgrenzung zwischen vergabepflichtigen Bauauftrag und vergabefreien Mietvertrag
Das in der Praxis anzutreffende Abgrenzungsproblem liegt darin, dass der Beginn des Mietverhältnisses eine Bautätigkeit zur Errichtung des Gebäudes voraussetzt. Es stellt sich – wie in der Rechtssache Wiener Wohnen – die Frage, ob diese Bauarbeiten von dem Mieter beauftragt wurden, der als öffentlicher Auftraggeber Bauleistungen ausschreiben müsste. Zwingend ist dies jedoch nicht, da die Maßnahmen auch von dessen Vertragspartner in seiner Funktion als Immobilienentwickler und Vermieter beauftragt worden sein können. Ein Bauauftrag setzt voraus, dass:
- der Auftraggeber die Erfordernisse des Bauwerks vorgibt
- dem Auftraggeber die Bauleistung unmittelbar wirtschaftlich zugutekommt und
- der Auftraggeber einen entscheidenden Einfluss auf Art und Planung der Bauleistung hat.
Nur wenn alle drei Merkmale erfüllt sind und der Mieter dabei als Auftraggeber fungiert, liegt ein Bauauftrag des Mieters vor. Ist der Mieter öffentlicher Auftraggeber (oder Sektorenauftraggeber) besteht eine Ausschreibungspflicht.
EuGH konkretisiert Anforderungen an den entscheidenden Einfluss auf die Bauleistung
Die Entscheidung des EuGH präzisiert, wann eine entscheidende Einflussnahme auf die Planung der Bauleistung vorliegt. Der EuGH formuliert als Leitkriterium, dass der Mieter entscheidenden Einfluss auf die architektonische Struktur des Gebäudes, wie seine Größe, seine Außenwände und tragenden Wände ausüben muss. Dies fasst er unter den Begriff der Gebäudestruktur. Allein Anforderungen an die Gebäudeeinteilung sieht der Gerichtshof nur unter besonderen Bedingungen als entscheidenden Einfluss an. Diese Grenze wurde nach Auffassung des EuGH in der Rechtssache Wiener Wohnen nicht überschritten. Die Erweiterung des Gebäudes um zwei Stockwerke und der Neubau einer Verbindungsbrücke waren – anders als noch vom Generalanwalt angenommen – im konkreten Fall nicht ausreichend. Der Gerichtshof wertete hier detailliert den Sachverhalt aus und stellte fest, dass die Erweiterungen bereits vom Vermieter als Option in seinem ursprünglichen Planungskonzept vorgesehen waren. Ein Einfluss der öffentlichen Hand auf die Gestaltung der Gebäudestruktur scheide daher aus. Dieses Ergebnis überzeugt, da die Gebäudestruktur bereits im Vorhinein autonom vom Vermieter festgelegt worden war.
Neben dieser grundlegenden Aussage zur Gebäudestruktur hält der EuGH eine entscheidende Einflussnahme auch dann für möglich, wenn der öffentliche Auftraggeber spezifische Ausstattungsmerkmale des Gebäudes vorgibt, die über das hinausgehen, was ein Mieter typischerweise bei vergleichbaren Gebäuden verlangen kann. Hier können sämtliche Vorgaben des öffentlichen Auftraggebers von Bedeutung sein.
EuGH erteilt Gesichtspunkten der EU-Kommission eine Absage
Positiv ist zudem, dass der EuGH zu weiteren Gesichtspunkten Stellung bezieht, die von der Kommission im Verfahren angeführt worden waren. Sie sollten belegen, dass ein vergabepflichtiger Bauauftrag vorliegt. Der Gerichtshof hält hierzu fest:
- das Fehlen einer Baugenehmigung bei Abschluss des Mietvertrages ist kein Gesichtspunkt
- die Laufzeit des Mietvertrages ist für sich kein Kriterium
- enge Kontrollen durch den Mieter, wie sie sonst ein Bauherr durchführt, sind kein maßgeblicher Gesichtspunkt.
Der EuGH erteilt der Sichtweise der EU-Kommission, die auch vom Generalanwalt aufgegriffen worden war, damit eine klare Absage. Das Leitkriterium bildet allein der entscheidende Einfluss auf die Planung der Bauleistung.
Urteil des EuGH bestätigt die Entscheidungslinie der Vergabekammer des Bundes
Mit der Konkretisierung seiner bisherigen Rechtsprechungslinie bestätigt der EuGH die für Deutschland von der Vergabekammer des Bundes geprägte Rechtsprechung zur Frage einer Ausschreibungspflicht der Miete vom Reißbrett. In ihrem grundlegenden Beschluss von Ende 2019 (VK 2-88/19) rückte die Vergabekammer ebenfalls in den Mittelpunkt, ob der öffentliche Auftraggeber die Planung der grundlegenden Gebäudekonzeption beeinflusst hat und Ausstattungsvorgaben getroffen hat, die nicht marktüblich sind. Im Lichte des Urteils des EuGH ist davon auszugehen, dass diese Grundsätze von der Rechtsprechung in weiteren Entscheidungen fortgeschrieben werden.
Mietverträge mit der öffentlichen Hand können vergaberechtliche Relevanz haben
Festzuhalten ist, dass die Entscheidung des EuGH für die Frage der vergaberechtlichen Relevanz von Mietverträgen über neu zu errichtende Gebäude klare Konturen für die Praxis schafft. Auch wenn der EuGH im konkreten Fall einen Vergaberechtsverstoß verneinte, birgt die Anmietung von Gebäuden durch öffentliche Institutionen oder öffentliche Unternehmen auch weiterhin vergaberechtliche Sprengkraft in sich. Jeder Einzelfall ist mit seinen konkreten Besonderheiten zu betrachten. Andernfalls droht die Gefahr einer Unwirksamkeit des Vertrages. Das dürfen auch private Projektentwickler, Investoren und Finanzierer nicht aus dem Blick verlieren.