16. Juli 2025
Beweiswert AUB Erschütterung
Arbeitsrecht

Aktuelles zur Erschütterung des Beweiswerts einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung 

Angesichts des hohen Krankenstandes und der damit verbundenen erheblichen Kosten für die Entgeltfortzahlung ist es wenig verwunderlich, dass sich gerichtliche Auseinandersetzungen rund um das Bestehen einer Arbeitsunfähigkeit in der jüngeren Vergangenheit häufen.

Das BAG hat die in Zusammenhang mit der Erschütterung des Beweiswerts einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (aus dem Nicht-EU-Ausland) anzuwendenden Maßstäbe weiter konkretisiert (Urteil v. 15. Januar 2025 – 5 AZR 284/24).

Arbeitnehmer legt Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung aus Tunesien vor

In der Zeit vom 22. August 2022 bis zum 9. September 2022 gewährte die Beklagte dem Kläger Urlaub, den er – jedenfalls teilweise – in Tunesien verbrachte. Am 7. September 2022 informierte der Kläger die Beklagte per E-Mail, dass er bis zum 30. September 2022 „krankgeschrieben und arbeitsunfähig“ sei. Der E-Mail fügte der Kläger ein auf Französisch verfasstes Attest eines tunesischen Arztes bei, nach dem er an „schweren Ischialbeschwerden“ im engen „Lendenwirbelkanal“ leide und sich daher insgesamt 24 Tage nicht bewegen und nicht reisen dürfe. Am 8. September 2022 buchte der Kläger ein Fährticket für den 29. September 2022 von Tunis nach Genua. An diesem Tag trat der Kläger sodann mit der Fähre und dem Auto die Rückreise nach Deutschland an. Dort angekommen, legte er eine Erstbescheinigung eines Orthopäden vom 4. Oktober 2022 vor, die eine Arbeitsunfähigkeit bis zum 8. Oktober 2022 bescheinigte. 

Nachdem die Beklagte dem Kläger mitteilte, dass das tunesische Attest nach ihrer Auffassung keine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung darstelle, reichte der Kläger eine Erläuterung des Arztes vom 17. Oktober 2022 ein. Aus dieser ergab sich, dass er den Kläger am 7. September 2022 untersucht habe. Er habe eine beidseitige Lumboischialgie diagnostiziert, die eine Ruhepause mit Arbeitsunfähigkeit und ein Reiseverbot von 24 Tagen erforderlich gemacht habe. 

Die Beklagte kürzte daraufhin die Entgeltfortzahlung. Nach ihrer Auffassung sei der Beweiswert der Bescheinigung vom 17.10.2022 erschüttert; dies ergebe sich aus der Gesamtschau der Umstände, nämlich konkret aus dem Inhalt der Dokumentation, dem Verhalten des Klägers und der in der Vergangenheit wiederholt aufgetretenen Krankheitszeiten im Zusammenhang mit Erholungsurlauben.

BAG sieht Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung des tunesischen Arztes als erschüttert an

Der Beweiswert der ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung sei nach Urteil des BAG jedenfalls im Rahmen einer Gesamtschau der Einzelumstände erschüttert. In der Konsequenz treffe den Kläger die Darlegungs- und Beweislast für das Bestehen der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit. 

Maßgeblich sei die erläuternde ärztliche Bescheinigung vom 17.10.2022, da sich aus ihr die erforderliche Unterscheidung zwischen Krankheit und Arbeitsunfähigkeit ergebe. Selbst wenn die Umstände isoliert betrachtet nicht ausreichten, um den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu erschüttern, könnten sich jedenfalls in einer Gesamtschau ernsthafte Zweifel an deren Beweiswert ergeben. 

Dies sei vorliegend der Fall. Zunächst sei zu berücksichtigen, dass die bescheinigte Arbeitsunfähigkeit die in der Arbeitsunfähigkeitsrichtlinie vorgesehene regelmäßige Höchstdauer von zwei Wochen erheblich überschreite, ohne dass dies näher begründet werde – zumal der Arzt trotz der strikten Verhaltensanordnung auf eine Wiedervorstellung zur Nachkontrolle verzichtete. Der Kläger habe zudem bereits einen Tag nach der ärztlichen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit ein Fährticket für den 29. September 2022 gekauft, obwohl er zu diesem Zeitpunkt – in Anbetracht der prognostizierten Dauer seiner Arbeitsunfähigkeit sowie der angeordneten Ruhepause und des Reiseverbots – nicht davon habe ausgehen können, noch vor Ablauf der bescheinigten Arbeitsunfähigkeit wieder reisefähig zu sein. Schließlich habe der Kläger in der Vergangenheit bereits weitere drei Mal unmittelbar im Anschluss an einen Urlaub Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen bei dem Arbeitgeber vorgelegt. Diese Häufung sei nicht deshalb unbeachtlich, weil der Arbeitgeber in diesen drei Fällen die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen akzeptiert habe. 

Frage nach Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen beschäftigt die Gerichte

Der Beweiswert von ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ist nicht erst seit der Einführung der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung im Jahr 2023 Gegenstand zahlreicher gerichtlicher Auseinandersetzungen zwischen Arbeitgeber* und Arbeitnehmer. Dreh- und Angelpunkt ist dabei oftmals die Frage, ob der Beweiswert einer vom Arbeitnehmer vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttert ist.

Die hierbei anzuwendenden Maßstäbe hat das BAG in der hiesigen Entscheidung – mit der Besonderheit, dass die Bescheinigung aus dem Nicht-EU-Ausland stammte – erneut klargestellt bzw. weiter konkretisiert:

  • Der Nachweis der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit wird in der Regel durch die arbeitnehmerseitig veranlasste Vorlage einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erbracht.
  • Die ordnungsgemäß von einem Arzt ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist das gesetzlich vorgesehene und wichtigste Beweismittel.
  • Einer im Nicht-EU-Ausland ärztlich ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung kommt der gleiche Beweiswert wie einer in Deutschland erstellten Bescheinigung zu – zumindest wenn diese erkennen lässt, dass der ausstellende Arzt zwischen einer Krankheit und einer darauf zurückzuführenden Arbeitsunfähigkeit unterscheidet. Dieser Aspekt ist wichtig und sollte von Arbeitgebern immer überprüft bzw. hinterfragt werden.
  • Eine ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung begründet keine gesetzliche Vermutung einer tatsächlich bestehenden Arbeitsunfähigkeit, d.h. ihr kommt kein absoluter Beweiswert zu, der nur dem durch den Arbeitgeber zu erbringenden Beweis des Gegenteils zugänglich wäre. Sie begründet aber eine tatsächliche Vermutung für das Bestehen einer Arbeitsunfähigkeit. Zur Erschütterung des Beweiswertes muss der Arbeitgeber ernsthafte und objektiv greifbare tatsächliche Umstände darlegen und im Streitfall beweisen, die erhebliche Zweifel an dem Bestehen einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers begründen. Ein bloßes Bestreiten der vom Arbeitnehmer angezeigten Arbeitsunfähigkeit mit Nichtwissen ist nicht ausreichend.
  • Dabei dürfen aufgrund der nur eingeschränkten Erkenntnismöglichkeiten des Arbeitgebers keine überhöhten Anforderungen an dessen Vortrag zur Erschütterung des Beweiswerts gestellt werden; er muss insbesondere keine Tatsachen darlegen, die den Beweis des Gegenteils begründen können.
  • Die Erschütterung des Beweiswerts kann sich auch aus einer Gesamtschau der tatsächlichen Umstände ergeben, wenn diese jeweils für sich genommen die Erschütterung des Beweiswerts nicht tragen können (vgl. dazu auch: LAG Niedersachsen, Urteil v. 31. Mai 2024 – 14 Sa 618/23).
  • Ist der Beweiswert des ärztlichen Attestes erschüttert, hat der Arbeitnehmer den vollen Beweis für das Vorliegen einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit zu erbringen und Umstände und Tatsachen vorzutragen, die eine Erkrankung glaubhaft machen. Dies erfordert, dass der Arbeitnehmer – bezogen auf den gesamten Entgeltfortzahlungszeitraum – zumindest laienhaft schildert, welche konkreten gesundheitlichen Beeinträchtigungen mit welchen Auswirkungen auf seine Arbeitsfähigkeit bestanden haben. Der Verweis auf die möglichen Angaben des behandelnden Arztes allein ist nicht ausreichend, selbst wenn der Arbeitnehmer diesen von der Schweigepflicht entbindet.

Indizien für eine Erschütterungswirkung der vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung

Hohe Krankenstände können für Unternehmen eine erhebliche wirtschaftliche Belastung darstellen, denn mit ihnen steigen die mit der Entgeltfortzahlung verbundenen Lohnkosten, ohne dass eine „wertgleiche“ Gegenleistung des Arbeitnehmers erbracht wird. 

Hat der Arbeitgeber ein „Störgefühl“ hinsichtlich der tatsächlichen bzw. rechtlichen Belastbarkeit einer von dem (vorgeblich erkrankten) Arbeitnehmer vorgelegten ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung – wie in der hiesig besprochenen Entscheidung – sollte arbeitgeberseits eine kritische Prüfung erfolgen. Dies gilt insbesondere, wenn und soweit 

  • die Arbeitsunfähigkeit in Zusammenhang mit einer Beendigung des Arbeitsverhältnisses angezeigt wird, unabhängig davon, ob die Kündigung vom Arbeitgeber oder vom Arbeitnehmer ausgesprochen wird, und diese bis zum Ablauf der Kündigungsfrist – ggf. auch mehrfach verlängert – andauert (Stichwort: „zeitliche Koinzidenz“, vgl. dazu: BAG, Urteil v. 18. September 2024 – 5 AZR 29/24; BAG, Urteil v. 13. Dezember 2023 – 5 AZR 137/23); dies gilt im Übrigen auch für den Ablauf eines befristeten Arbeitsverhältnisses, das nicht verlängert wird (vgl. LAG Niedersachsen, Urteil v. 22. Februar 2023 – 8 Sa 713/22), oder bei der Verweigerung des Abschlusses eines vom Arbeitnehmer verlangten Aufhebungsvertrages,
  • gegen die Vorgaben der Arbeitsunfähigkeitsrichtlinie verstoßen worden ist (vgl. BAG, Urteil v. 28. Juni 2023 – 5 AZR 335/22; LAG Berlin-Brandenburg, Urteil v. 5. Juli 2024 – 12 Sa 1266/23; LAG Niedersachsen, Urteil v. 30. Juli 2024 – 10 Sa 699/23) oder 
  • eine die Arbeitsunfähigkeit auslösende Erkrankung in Zusammenhang mit einer für den Arbeitnehmer „unliebsamen“ und aus seiner Sicht „belastenden“ Weisung (vgl. Barrein/Fuhlrott, NZA 2024, 1377), z.B. Versetzung des Arbeitnehmers an einen anderen Arbeitsort oder dessen „Rückruf“ aus dem Home-Office in den stationären Betrieb, oder mit sonstigen, sich aus dem Arbeitsverhältnis ergebenden Konflikten steht, z.B. Abmahnung durch den Arbeitgeber. 

Hierbei kann in der Praxis inzwischen auf eine umfangreiche, teilweise höchstrichterlich bereits gefestigte Rechtsprechung zu der Frage, welche Umstände Zweifel an der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung begründen können, zurückgegriffen werden. Dabei ist auch eine Gesamtbetrachtung der einzelnen Umstände anzustellen. Dies gilt insbesondere für den Fall, dass die Prüfung zu dem Ergebnis kommt, dass die einzelnen Umstände für sich genommen den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nicht erschüttern können.

Auch bei Erschütterungswirkung scheidet ein Anspruch auf Entgeltfortzahlung nicht zwingend aus

Wenn es dem Arbeitgeber gelingt, den Beweiswert der von dem Arbeitnehmer vorgelegten ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu erschüttern, ist damit freilich noch nicht das letzte Wort gesprochen, dass ein Anspruch auf Entgeltfortzahlung tatsächlich ausscheidet. In einem Rechtsstreit trägt der Arbeitnehmer nun die volle Darlegungs- und Beweislast dafür, dass eine die gesetzliche Entgeltfortzahlung nach dem EFZG begründende Arbeitsunfähigkeit vorgelegen hat. Die Anforderungen an den Vortrag sind hoch und in der Praxis nicht zu unterschätzen. Es ist eine entsprechende (prozessuale) Mühewaltung erforderlich, da es Sache des Arbeitnehmers ist, seinen Vortrag z.B. mit Hinweisen zu den Fragen, welche Krankheiten vorgelegen haben, welche gesundheitlichen Einschränkungen bestanden haben, welche Verhaltensmaßregeln der Arzt gegeben hat, welche Medikamente verschrieben wurden etc., weiter zu substantiieren. Erst wenn der Arbeitnehmer insoweit seiner prozessualen Pflicht nachgekommen ist und ggf. die behandelnden Ärzte von ihrer Schweigepflicht entbunden hat, muss der Arbeitgeber aufgrund der ihm obliegenden Darlegungs- und Beweislast den konkreten Sachvortrag des Arbeitnehmers widerlegen. In der Praxis scheitern Klagen von Arbeitnehmern oftmals an dieser Stelle, weil ein entsprechend substantiierter Vortrag fehlt oder sich darauf beschränkt wird, auf den Arzt zu verweisen, der dabei von seiner Schweigepflicht entbunden wird.

Zu beachten ist, dass die oben dargestellten Grundsätze erst recht für die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (ab dem 1. Januar 2023) gelten müssen. Dieser kommt nämlich nur ein geringerer Beweiswert als der „körperlich“ vorgelegten ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu (in diesem Sinne bereits: Pitzer/Roters, GmbHR 2025, R69). Zwar hat die Rechtsprechung diese Frage noch nicht entschieden. Es ist aber davon auszugehen, dass eingedenk der Tatsache, dass Arbeitgeber – auch aufgrund der in der jüngeren Zeit veröffentlichten Entscheidungen zur Erschütterung des Beweiswertes von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen – zusehends ihrer Rechte und Handlungsmöglichkeiten, u.a. durch die Verweigerung der Entgeltfortzahlung, gewahr werden und davon entsprechend Gebrauch machen, über kurz oder lang eine (abschließende) Klärung durch die Gerichte erfolgen wird. 

* Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Um der leichteren Lesbarkeit willen wird im Beitrag die grammatikalisch männliche Form verwendet.

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