21. Dezember 2022
Arbeitszeitbetrug Datenschutz Beweisverwertungsverbot
Arbeitsrecht

Arbeitszeitbetrug: Datenschutz gleich Täterschutz? Zur Reichweite von Beweisverwertungsverboten!

LAG Niedersachsen: Datenschutz schlägt Arbeitsrecht – unüberwindbare Beweisprobleme in Kündigungsschutzprozess trotz offenkundigem Arbeitszeitbetrug.

Arbeitszeitbetrug kann eine Kündigung rechtfertigen, denn Arbeitgeber* müssen auf eine korrekte Dokumentation der Arbeitszeit der Beschäftigten vertrauen können. Allerdings muss der darlegungs- und beweisbelastete Arbeitgeber den mutmaßlichen Arbeitszeitbetrug des Arbeitnehmers auch substantiiert nachweisen können. Hierbei ist der Rückgriff auf Daten einer Videoüberwachungsanlage nicht in jedem Fall zulässig.

Das LAG Niedersachsen hat u.a. entschieden (Urteil v. 6. Juli 2022 – 8 Sa 1148/20), dass die Videoaufzeichnungen, die einen Arbeitszeitbetrug eindeutig belegen, einem Beweisverwertungsverbot unterliegen. Die der Entscheidung zugrundeliegende außerordentliche Kündigung wurde mithin für unwirksam erklärt, da die behaupteten Pflichtverletzungen des Arbeitnehmers „nicht erwiesen seien und auch kein hinreichend dringender Verdacht für ihre Begehung“ bestünde. Die Kammer wies zudem darauf hin, dass Überwachungskameras am Eingang zum Betriebsgelände zur Kontrolle geleisteter Arbeitszeiten „in der Regel weder geeignet noch erforderlich“ seien.

Gegen die Entscheidung wurde Revision vor dem Bundesarbeitsgericht eingelegt.

Überwachungskamera zeichnete Fehlverhalten eines Arbeitnehmers auf

Grundlage der Entscheidung des LAG Niedersachsen war ein Kündigungsschutzstreit wegen einer außerordentlichen, hilfsweise ordentlichen Kündigung. 

Der Arbeitgeber eines Gießereibetriebs hatte im Juni 2019 über ein internes Whistleblower-Meldesystem einen anonymen Hinweis erhalten, dass mehrere Mitarbeiter, darunter auch der klagende Arbeitnehmer, regelmäßig Arbeitszeitbetrug begingen. Zur Aufklärung der Vorfälle stellte der Arbeitgeber interne Untersuchungen an. Hierbei wertete er auch über ein Jahr alte Daten des elektronischen Zugangserfassungssystems sowie Aufzeichnungen von Überwachungskameras aus, die im Betrieb an den Eingangstoren erkennbar platziert waren. Die Auswertung der Videoaufnahmen offenbarte – nach Angaben des Arbeitgebers –, dass der Arbeitnehmer teilweise nicht im Betrieb war, obwohl er im Zeiterfassungssystem als anwesend geführt wurde, unerlaubt einen Kollegen eingestempelt sowie mehrfach das Betriebsgelände vor Schichtende verlassen hatte. In der Folge kündigte der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis außerordentlich, hilfsweise ordentlich.

Hiergegen wehrte sich der Arbeitnehmer mit einer Kündigungsschutzklage und war damit sowohl vor dem Arbeitsgericht Hannover als auch vor dem LAG Niedersachsen erfolgreich, da zu seinen Gunsten ein Beweisverwertungsverbot griff. 

Keine Verwertung der Daten aus dem elektronischen Zugangserfassungssystem wegen Vertrauensschutz aus entsprechender Betriebsvereinbarung 

Dem Arbeitgeber war es zunächst verwehrt, die Daten aus dem elektronischen Zugangserfassungssystem (Logfiles), die den Arbeitszeitbetrug des Arbeitnehmers unzweifelhaft belegten, in das Verfahren einzuführen. Grund dafür war eine Betriebsvereinbarung, die eine personenbezogene Auswertung von Daten ausdrücklich verbot. 

Selbst die nachträgliche ausdrückliche Zustimmung des Betriebsrats zu der Verwertung der durch die Kartenlesegeräte gewonnenen Daten erkannte das LAG Niedersachsen nicht an. Nach Auffassung der Kammer ist der Arbeitgeber an die Regelungen in der Betriebsvereinbarung gebunden. Eine rückwirkende Beseitigung sei nicht möglich, da der Arbeitnehmer insoweit Vertrauensschutz genieße. Durch den Abschluss der Betriebsvereinbarung bestehe eine „berechtigte Privatheitserwartung“ der Mitarbeiter.

„Berechtigte Privatheitserwartung“ wegen internen Betriebskonzepts mit max. Dauer der Datenspeicherung

Weiterhin ließ das LAG Niedersachsen auch das Bildmaterial von den Überwachungskameras als Beweismittel nicht zu. Der Arbeitgeber durfte mithin die Erkenntnisse, die er durch die Videoaufzeichnungen gewonnen hatte, nicht verwenden. 

Hintergrund war zum einen der Umstand, dass sich der Arbeitgeber in einem internen Betriebskonzept für das Videosystem dazu verpflichtete, die aus der Videoüberwachungsanlage gewonnenen Daten nur 96 Stunden lang aufzubewahren. Zudem hatte er eigens Hinweisschilder an den Überwachungskameras angebracht, die unter der Überschrift „Dauer der Datenspeicherung“ die gleiche max. Speicherungsdauer von 96 Stunden angaben. Die Kammer führte auch in diesem Zusammenhang aus, dass die Verwertung von Videoaufzeichnungen, die über ein Jahr zurückliegen, gegen die entsprechende Selbstbindung des Arbeitgebers „eklatant verstoßen“ und die „berechtigte Privatheitserwartung“ des Klägers verletzen würde. 

Beweisverwertungsverbot wegen eines nicht zulässigen Eingriffs in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung 

Zusätzlich urteilte das LAG Niedersachsen, dass hinsichtlich der Videoaufzeichnungen ein generelles Beweisverwertungsverbot bestehe. Dieses folge aus einer verfassungskonformen Auslegung des Verfahrensrechts, da die Verwertung der aus den Videoaufzeichnungen gewonnenen Kenntnisse durch das Gericht im Ergebnis zu einem rechtswidrigen Eingriff in das Grundrecht des Klägers auf informationelle Selbstbestimmung führen würde. Grund hierfür sei, dass bereits die konkreten Videoaufzeichnungen unter Verstoß gegen Regelungen des Bundesdatenschutzgesetzes (BDSG) zustande gekommen seien. Insbesondere die Voraussetzungen des hier maßgeblichen § 26 Abs. 1 BDSG, wonach die Verarbeitung personenbezogener Daten von Beschäftigten nur zulässig ist, soweit sie für die Durchführung oder Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses oder für die Aufdeckung einer Straftat „erforderlich“ ist, seien nicht erfüllt.

In den Urteilsgründen führt die Kammer hierzu im Rahmen der gebotenen Verhältnismäßigkeitsprüfung aus, dass die Videoüberwachung schon nicht geeignet sei, den behaupteten Arbeitszeitbetrug nachzuweisen. Die Aufzeichnung der Videokameras dokumentiere lediglich den Zutritt der Arbeitnehmer auf das Werksgelände sowie das Verlassen desselben. Damit könne man lediglich eine Anwesenheit des Arbeitnehmers auf dem Betriebsgelände sicher nachweisen, nicht jedoch den Beginn oder das Ende der tatsächlich geleisteten Arbeitszeit (dabei unterschlägt das Gericht jedoch, dass die Aufzeichnungen denklogisch dazu geeignet sind, zu beweisen, zu welchen Zeiten die Arbeitnehmer nicht vor Ort gearbeitet haben). Des Weiteren sei die Videoüberwachung auch nicht erforderlich, da andere Mittel – namentlich eine Arbeitszeiterfassung durch Vorgesetzte oder technische Einrichtungen wie Stempelkarten – in Betracht kämen. Schließlich sei die Videoüberwachung auch nicht angemessen, da die Eingriffsintensität außer Verhältnis zum Interesse des Arbeitgebers stehe. Nach Auffassung der Kammer widerspreche der erstmalige Zugriff auf Videoaufzeichnungen, die mehr als ein Jahr zurückliegen, erheblich den gesetzlich verankerten Grundsätzen von Datenminimierung und Speicherbegrenzung.

Verbot der mittelbaren Verwertung und „Zufallsfunde“

In seiner Argumentation konsequent ließ das LAG Niedersachsen auch die Vernehmung von Zeugen, die die Videoaufzeichnungen angesehen und ausgewertet hatten, nicht zu, da das Beweisverwertungsverbot auch einer mittelbaren Verwertung entgegenstehe. Zudem stellte die Kammer fest, dass auch kein ggf. verwertbarer „Zufallsfund“ vorliege, da der Arbeitgeber die entsprechenden Aufzeichnungen aus der Überwachungskamera gezielt im Hinblick auf den Arbeitszeitbetrug gesichtet und ausgewertet habe und daher die Straftat gerade nicht „zufällig“ aus Anlass einer zulässigen, anders gearteten Verwertung der Videoaufzeichnungen entdeckt wurde. 

Zu möglichen Ausnahmen – etwa in besonders schweren Fällen – äußerte sich das Gericht nicht. Spannend bleibt auch, ob eine mögliche Beweisverwertung der Videoaufzeichnungen in einem strafrechtlichen Prozess Auswirkungen auf die arbeitsrechtliche Bewertung hätte.

Verwertungsverbotsklauseln in Betriebsvereinbarungen vermeiden

Das LAG Niedersachsen zeigt eindrucksvoll und für Arbeitgeber höchst unerfreulich, welchen Einfluss das Datenschutzrecht auf arbeitsrechtliche Streitigkeiten hat. Trotz eines offenkundig begangenen Arbeitszeitbetrugs wird die darauf gestützte (außerordentliche) Kündigung wegen datenschutzrechtlicher Bestimmungen hinsichtlich der Erlangung von Beweismitteln für unwirksam erklärt. Mit dem Datenschutz als weiterer Hürde sind somit auch eindeutige und erhebliche Pflichtverletzungen arbeitsrechtlich mitunter nur schwer zu ahnden und können Arbeitgeber vor unüberwindbare Beweisprobleme stellen. 

Wenn das LAG den Eindruck erweckt, die Erhebung von personenbezogenen Daten durch Videoaufzeichnung sei generell rechtswidrig, ist auf den Widerspruch zu Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts hinzuweisen: So ist eine offene Videoüberwachung an den Werkstoren bei Vorliegen eines berechtigten Interesses des Arbeitgebers (z.B. Vermeidung von Vermögensdelikten durch Dritte) zugelassen. Das LAG Niedersachsen hat sich vorliegend nicht mit dieser Zweckrichtung auseinandergesetzt und sie nicht in seine Verhältnismäßigkeitsabwägung einfließen lassen. Es bleibt daher mit Spannung abzuwarten, wie das Bundesarbeitsgericht die Entscheidung bewerten wird.

Für die Praxis ergeben sich bereits jetzt die nachfolgenden Erkenntnisse:

  • Arbeitgeber sollten bei dem Abschluss von Betriebsvereinbarungen zu technischen Einrichtungen (z.B. elektronische Zugangserfassungssysteme) die Vereinbarung von Verwertungsverbotsklauseln weitestgehend vermeiden. 
  • Unter Beachtung der Grenzen des materiellen Rechts sollte zudem die Befugnis zur Auswertung der gewonnenen Daten in bestimmten Situationen klar geregelt sein oder sollten Öffnungsklauseln, wonach mit Zustimmung des Betriebsrats Daten der Arbeitnehmer in bestimmten Fällen doch verwertet werden können, vereinbart werden. Hierdurch kann dem Argument der „berechtigten Privatheitserwartung“ entgegengetreten werden.
  • Bei elektronischen Zugangserfassungssystemen empfiehlt sich – soweit möglich – zu vereinbaren, dass Zugangskarten neben der Ermöglichung des Zugangs auf das Werksgelände auch Anwesenheitszeiten zum Zwecke des Nachweises der Erbringung von Arbeitsleistung erfassen. Hierüber sollte der Arbeitgeber seine Belegschaft jedoch unbedingt gesondert in Kenntnis setzen. 

*Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Um der leichteren Lesbarkeit willen wird im Beitrag die grammatikalisch männliche 

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