18. August 2023
Arbeit Datenschutz Beweisverwertungsverbot
Arbeitsrecht

Datenschutz ist doch kein Täterschutz 

Kein Verwertungsverbot, weder gesetzlich noch durch Betriebsvereinbarung, bei nicht DSGVO-konformer offener Videoüberwachung und vorsätzlichem Fehlverhalten.

Seit dem Urteil des LAG Niedersachsen vom 6. Juli 2022 (Az. 8 Sa 1148/20) waren viele Arbeitgeber* und Praktiker verunsichert: Kann der Datenschutz tatsächlich so weit gehen, dass selbst kleinere Verstöße zu einem Verwertungsverbot der zwar nicht vollständig datenschutzkonform erhobenen, aber auf gravierendes Fehlverhalten hindeutenden Daten führen? Und begründet schon die Verlautbarung einer maximalen Speicherdauer der erhobenen Daten in einem „Betriebskonzept“ eine „berechtigte Privatheitserwartung“ der Arbeitnehmer, dass Daten nach diesem Zeitpunkt nicht länger gespeichert oder verwertet werden? 

Das BAG hat diese und weitere drängende Fragen aus der Praxis nun mit erfreulicher Klarheit beantwortet (BAG, Urteil vom 29. Juni 2023 – 2 AZR 296/22). 

Arbeitszeitbetrug stand im Raum 

In dem vom BAG entschiedenen Fall ging es um den Verdacht des Arbeitszeitbetruges: Der Mitarbeiter eines Gießereibetriebs hatte zunächst das Werksgelände betreten. Hierzu hatte er mit seinem Werksausweis ein Kartenlesegerät bedient, welches das Drehkreuz freischaltete und ihm so den Zugang ermöglichte. Der Zutritt zum Werksgelände wurde dabei im SAP-System der Arbeitgeberin durch einen „Anwesenheitshaken“ vermerkt.

Eine bei der Arbeitgeberin bestehende Betriebsvereinbarung zu diesem elektronischen Anwesenheitserfassungssystem sah u.a. vor, dass „keine personenbezogene Auswertung von Daten erfolgt“. An den Werkstoren waren zudem Kameras angebracht, auf die Videoüberwachung wurde mit einem Piktogramm gut erkennbar hingewiesen.

Über ein Hinweisgebersystem hatte die Arbeitgeberin einen anonymen Hinweis erhalten, dass der Kläger und andere Mitarbeiter regelmäßig Arbeitszeitbetrug begingen, indem sie das Werksgelände schon vor Schichtbeginn oder jedenfalls vor Schichtende unerlaubt verließen. 

Die Arbeitgeberin hatte daraufhin eine interne Untersuchung angestellt, den Mitarbeiter befragt und die Daten des elektronischen Zugangssystems sowie die Videoaufzeichnungen der Kameras an den Werkstoren ausgewertet. Dabei hatte sie nach ihrer Darstellung u.a. festgestellt, dass der Mitarbeiter das Werksgelände schon vor Schichtbeginn wieder verlassen hatte, gleichwohl aber während der vollen Schicht im SAP-System als anwesend geführt wurde, mit der Folge, dass ihm auch die entsprechende volle Vergütung ausgezahlt wurde. Nach Anhörung des bei ihr zuständigen Personalausschusses des Betriebsrats kündigte die Arbeitgeberin das Arbeitsverhältnis außerordentlich und hilfsweise ordentlich, und zwar in Gestalt einer Tat- sowie hilfsweisen Verdachtskündigung. Der Mitarbeiter erhob Kündigungsschutzklage und machte u.a. geltend, die Aufzeichnungen aus der Videoüberwachung und dem elektronischen Anwesenheitssystem unterlägen einem Sachvortrags- und Beweisverwertungsverbot. Die Vorinstanzen hatten der Kündigungsschutzklage stattgegeben. Das BAG hat das Urteil des LAG Niedersachsen aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung dorthin zurückverwiesen. 

LAG hat die Grundsätze der abgestuften Darlegungslast verkannt

Das BAG stellt zunächst fest, dass der Mitarbeiter seiner sekundären Darlegungslast nicht nachgekommen ist: Auf die Behauptung der Arbeitgeberin, er habe die fragliche Schicht nicht abgeleistet, sondern nach dem Zutritt zum Werksgelände dieses noch vor Schichtbeginn wieder verlassen und anschließend bis zum Schichtende nicht wieder betreten, hätte er konkret erwidern müssen. Aus Sicht des BAG hätte der Mitarbeiter darstellen müssen, ob er durchgehend auf dem Werksgelände geblieben ist oder dieses zwar verlassen, aber rechtzeitig vor Schichtbeginn wieder betreten hat. 

Das BAG macht deutlich, dass es von beiden Varianten nicht so recht überzeugt ist: Sollte der Mitarbeiter behaupten, er sei dauerhaft auf dem Werksgelände verblieben, werde sich aus der Videoaufnahme der Arbeitgeberin ggf. das Gegenteil ergeben. Sollte er behaupten, das Gelände nach dem Verlassen wieder betreten zu haben, müsse er glaubhaft erläutern, wann und durch welchen Eingang er das Werksgelände wieder betreten habe. Im Fall eines Zutritts durch ein Werkstor mit elektronischer Anwesenheitserfassung und Videoüberwachung werde die Arbeitgeberin entsprechenden Vortrag leicht widerlegen können. 

Sollte der Mitarbeiter dagegen behaupten, durch den Haupteingang zurückgekommen zu sein, wo allein der Zugang ohne Verwendung des Werksausweises und ohne entsprechenden Eintrag ins Anwesenheitssystem möglich ist, müsse er glaubhaft erläutern, warum ihm ein „überaus ungewöhnliches“ Wiederbetreten des Werksgeländes durch den Haupteingang nicht mehr erinnerlich sei. Dem LAG gibt das BAG den deutlichen Hinweis mit, dass ein derartiges Vorbringen des Mitarbeiters kaum glaubhaft sei und viel für die Darstellung der Beklagten spreche, wonach der Mitarbeiter nach dem durch die Videoaufnahme festgehaltenen Verlassen des Werksgeländes dieses nicht wieder betreten habe. 

Kein absolutes Sachvortrags- oder Verwertungsverbot bzgl. Videoaufnahmen; Abwägung erforderlich  

Die Arbeitgeberin war nach Auffassung des BAG nicht gehindert, ihren Sachvortrag zum vorzeitigen Verlassen des Werksgeländes auch auf die Videoaufnahmen der Überwachungskamera am Werkstor zu stützen. Ein entsprechendes Verbot bestand nicht, das LAG war vielmehr nach der DSGVO berechtigt und nach der Zivilprozessordnung verpflichtet, entsprechende Videoaufnahmen des Mitarbeiters als personenbezogene Daten zu verarbeiten: Der Europäische Gerichtshof habe klargestellt, dass das Recht auf Schutz personenbezogener Daten kein uneingeschränktes Recht sei, sondern unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsprinzips gegen andere Grundrechte abgewogen werden müsse. 

Danach komme ein Sachvortragsverwertungsverbot regelmäßig nicht in Betracht, wenn eine vorsätzlich begangene Pflichtverletzung im Raum stehe, die von einer offenen Überwachungsmaßnahme erfasst wurde: In einem solchen Fall habe sich der Arbeitnehmer trotz seiner Kenntnis von der Überwachung für die Begehung einer Vorsatztat zulasten des Arbeitgebers entschieden und sei insofern nicht schutzwürdig. 

Das BAG äußert sich bemerkenswert deutlich: Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung könne nicht zu dem alleinigen Zweck in Anspruch genommen werden, sich der Verantwortung für vorsätzlich rechtswidriges Handeln zu entziehen; Datenschutz sei kein Tatenschutz. 

Missachtung datenschutz- oder betriebsverfassungsrechtlicher Vorgaben an sich führt zu keiner abweichenden Beurteilung

Das BAG macht ferner deutlich, dass eine Missachtung datenschutzrechtlicher Vorgaben oder betriebsverfassungsrechtlicher Mitbestimmungsrechte zu keinem abweichenden Ergebnis führt, solange das „Auswertungsinteresse“ des Arbeitgebers das Schutzinteresse des Arbeitnehmers überwiegt: insbesondere sei ohne Bedeutung, dass die Arbeitgeberin ihren Informationspflichten bzgl. der Videoüberwachung nach Art. 13 Abs. 1 und Abs. 2 DSGVO nicht vollständig nachgekommen sei. Denn der Mitarbeiter habe aufgrund der Offenkundigkeit der Videoüberwachung, die zumindest aus dem Piktogramm herrühre, mit einer Aufzeichnung und Speicherung von ihn abbildendem Videomaterial rechnen müssen. Er sei nicht „ausgespäht“ worden und habe keine „berechtige Privatheitserwartung“ haben dürfen. 

Auch die lange Speicherung und erst späte Sichtung des Bildmaterials führe zu keiner schweren Grundrechtsverletzung. Etwas anderes gelte allenfalls dann, wenn die Überwachungsmaßnahme des Arbeitgebers trotz offener Durchführung zu schwerwiegenden Grundrechtsverletzungen führe (etwa die Überwachung von Toiletten oder Umkleideräumen). Sollte die Videoüberwachung schließlich entgegen § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG ohne Mitbestimmung des Betriebsrats eingeführt worden sein, folge auch daraus kein Verwertungsverbot, wenn die Verwertung der Videoaufnahmen – wie hier – nach allgemeinen Grundsätzen zulässig war. 

Keine Beschränkung des Sachvortrags durch Betriebsvereinbarung 

In seiner „Segelanweisung“ für das LAG führt das BAG schließlich noch aus, dass aus der Regelung in der Betriebsvereinbarung zum elektronischen Anwesenheitserfassungssystem, wonach „keine personenbezogene Auswertung von Daten erfolgt“, kein „Auswertungsverbot“ oder eine sonstige Beschränkung der rechtlichen Möglichkeiten der beklagten Arbeitgeberin folgt: Diese Regelung könne schon kaum so ausgelegt werden, dass sie auch vorsätzliche Pflichtverletzungen der rechtlichen Ahndung entziehen wolle. Eine solche „Sanktionsvereitelung“ sei nämlich nicht mit dem „Wohl des Betriebs“ nach § 2 Abs. 1 BetrVG vereinbar; auch sei das Recht zur außerordentlichen Kündigung nach § 626 BGB im Voraus weder verzicht- noch erheblich beschränkbar. 

Schließlich sei eine solche Regelung ihrerseits DSGVO-widrig, da sie entgegen Art. 88 Abs. 2 DSGVO keine geeignete Maßnahme zur Wahrung der berechtigten Interessen und Grundrechte der Arbeitgeberin sei und auch entgegen Art. 6 Abs. 1 Buchst. f) DSGVO eine Datenverarbeitung kategorisch ohne einzelfallbezogene Abwägung ausschließe, an der bei Vorsatztaten ein besonders hohes berechtigtes Interesse der Arbeitgeberin bestehe. Doch selbst wenn die Betriebsparteien entsprechende Auswertungsverbote auf betrieblicher Ebene wirksam vereinbaren könnten, wäre eine solche Absprache aus Sicht des BAG keinesfalls bindend für die Arbeitsgerichte. Denn den Betriebsparteien fehle es in jedem Fall an der Regelungsmacht, in das gerichtliche Verfahren einzugreifen und den gerichtlichen Verfahrensablauf zu bestimmen; eine entsprechende Befugnis komme nur dem Gesetzgeber zu.

Fazit: Begrüßenswerte Klarstellung, aber kein „Freifahrtschein“

Die Entscheidung des BAG überzeugt in jeder Hinsicht: Dem häufig zu beobachtenden Trend, den – zweifelsohne wichtigen – Datenschutz zu verabsolutieren, erteilt das BAG eine Absage und stellt klar, dass entsprechend Art. 6 Abs. 1 Buchst. f) DSGVO im Einzelfall die Interessen und Grundrechte der Beteiligten sorgfältig abzuwägen sind, wenn ein Sachvortragsverwertungsverbot im Raum steht. 

Dies entspricht auch der Rechtsprechung der anderen Gerichtszweige zur Frage eines Verwertungsverbotes: so sind etwa in einem Strafverfahren die Grundrechte des Beschuldigten gegenüber dem staatlichen Interesse an einer effektiven Aufklärung und Sanktionierung von Straftaten abzuwägen. 

Im Rahmen dieser Abwägung hat das BAG in einem praktisch wichtigen Teilbereich für Klarheit gesorgt, indem es jedenfalls im Fall einer offenen Überwachung und eines vorsätzlichen vertragswidrigen Verhaltens ein Vortrags- und Verwertungsverbot regelmäßig ablehnt. Für sonstige Konstellationen ist immerhin vorgezeichnet, dass es auf eine Abwägung und nicht die strikte Gesetzmäßigkeit der Datenverarbeitung ankommt.

Das überzeugt, denn die rechtswidrige Datenverarbeitung wird bereits durch das Sanktionsregime der DSGVO geahndet, empfindliche Geldbußen und ggf. eine Verpflichtung zum (auch immateriellen) Schadensersatz gegenüber den Betroffenen eingeschlossen. Hieraus folgt auch zugleich, dass das BAG keinen „Freifahrtschein“ zur rechtswidrigen Überwachung von Arbeitnehmern ausgestellt hat: Solche Rechtsverstöße haben Konsequenzen – nur reichen diese nach der BAG-Klarstellung nicht mehr so weit, dass sogar ein auf der Hand liegendes vorsätzliches Fehlverhalten ohne Sanktion bleibt; diese „überschießende“ Sanktion ist zur Generalprävention nicht erforderlich.  

* Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Um der leichteren Lesbarkeit willen wird im Beitrag die grammatikalisch männliche Form verwendet.

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