6. März 2024
Arbeitsrecht

Die Verhältnismäßigkeit von Streikmaßnahmen

Die Streik-Pläne der GDL werfen (erneut) die Frage nach der Rechtmäßigkeit der angekündigten Maßnahmen auf.

„Unsere Streiks sind rechtmäßig und verhältnismäßig″ – Mit diesen Worten hat Claus Weselsky, der Bundesvorsitzende der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL), den Rekordstreik, der im Januar 2024 ganz Deutschland lahmlegte, verteidigt. Ab Donnerstag sind nunmehr weitere 35 Stunden Streik angekündigt – ebenso hat Herr Weselsky darauf hingewiesen, dass aufgrund des Streiks auch Notfallfahrpläne beeinträchtigt sein werden.

Auch die Gewerkschaftsseite muss sich bei Arbeitskampfmaßnahmen an – wenn auch sehr weitgesteckte – Grenzen halten.

In Anbetracht der Auswirkungen auf Millionen von Pendlern, den Folgen für die Wirtschaft auf Grund der lahmgelegten Logistik im Schienenverkehr sowie der Schäden im mehrstelligen Millionenbereich für die Gesamtwirtschaft, stellt sich die Frage nach der Rechtsmäßigkeit von Streikmaßnahmen. Überschreitet ein Arbeitskampf die Grenzen der Rechtmäßigkeit – etwa, weil ein Streik unverhältnismäßig ist – kann der Arbeitgeber hiergegen im Wege der einstweiligen Verfügung vorgehen. Auch kommen in diesem Fall Schadenersatz-ansprüche gegen die streikführende Gewerkschaft in Betracht.

Ein Streik muss verhältnismäßig, d.h. zur Erreichung rechtmäßiger Arbeitskampfziele geeignet, erforderlich und angemessen sein.

Streiks sind als Arbeitskampfmaßnahmen verfassungsrechtlich von der Koalitionsfreiheit nach Art. 9 Abs. 3 GG geschützt (BVerfG (1. Senat ), Beschluss vom 26.06.1991 – 1 BvR 779/85). Allerdings dürfen Gewerkschaften von ihrem Streikrecht nicht uneingeschränkt Gebrauch machen. Gesetzliche Regelungen zu den Grenzen fehlen allerdings. So beruht die gesamte Ausgestaltung des Arbeitskampfrechts auf richterlichen Entscheidungen. Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat hierzu bereits im Jahr 1971 entschieden, dass alle Arbeitsmaßnahmen unter dem Gebot der Verhältnismäßigkeit stehen. Das bedeutet, dass ein Streik nur dann geführt werden darf, wenn er zur Erreichung rechtmäßiger Arbeitskampfziele geeignet, erforderlich und angemessen ist (BAG, Beschluss vom 21.04.1971 – GS 1/68). Hierauf wird seitdem auch in Nachfolgeentscheidungen verwiesen (BAG, Urteil vom 19.06.2007 – 1 AZR 396/06 = openJur 2011, 97985 Rn. 28; LAG Nürnberg Urt. v. 20.7.2023 – 3 SaGa 6/23, in: NZA-RR 2023, 539 Rn. 37, beck-online; LAG Hessen, Urt. v. 9.9.2015 – 9 SaGa 1082/15, in: NZA 2015, 1337 Rn. 20, beck-online, etc.).

In Bezug auf die Geeignetheit und die Erforderlichkeit gewähren sowohl das BAG als auch das BVerfG der den Streik führenden Gewerkschaft eine (sehr weite) Einschätzungsprärogative, d.h. Gewerkschaften haben einen Beurteilungsspielraum bei der Frage, ob eine Arbeitskampfmaßnahme geeignet ist, Druck auf den sozialen Gegenspieler auszuüben. Die richterliche Kontrolle ist insoweit eingeschränkt. Ein Streik könne – so die Rechtsprechung – nur dann für rechtswidrig erachtet werden, wenn der Streik zur Erreichung des Streikziels „offensichtlich ungeeignet ist″ (BAG, Urteil vom 19.06.2007 – 1 AZR 396/06 = openJur 2011, 97985 Rn. 31; BVerfG, Beschluss vom 10.09.2004 – 1 BvR 1191/03 = openJur 2012, 25311 Rn. 33). Hiervon ist in der Regel nicht auszugehen, da der durch die Gewerkschaft organisierten Arbeitsniederlegung nicht abgesprochen werden kann, den Arbeitgeber unter Druck zu setzen, um den Forderungen nach bestimmten Arbeitsbedingungen nachzugeben. Andererseits hat Rechtsprechung aber auch stets die Notwendigkeit der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne betont (BAG, Urteil vom 19.06.2007 – 1 AZR 396/06 = openJur 2011, 97985 Rn. 33; BAG, Urteil vom 14.08.2018 – 1 AZR 287/17, in: NJW 2019, 538 Rn. 36, beck-online). Ein Streik muss „ultima ratio″ sein.

Ein Streik ist nicht ultima ratio, wenn weder ausreichende Vorverhandlungen noch ein Schlichtungsversuch durchgeführt wurden.

Ultima ratio bedeutet, dass ein Streik ohne vorausgehende Verhandlungen oder einen Schlichtungsversuch rechtswidrig ist. Allerdings muss die Gewerkschaft, wie das BAG in seinem Warnstreik-Urteil vom 21. Juni 1988 (Az. 1 AZR 651/86) entschied, die Tarifverhandlungen nicht förmlich für gescheitert erklären, um rechtmäßig zu handeln. Bereits im Aufruf zum Streik läge die freie und gerichtlich nicht nachprüfbare Entscheidung der Gewerkschaft, dass sie die Verhandlungsmöglichkeiten ohne begleitende Arbeitskampfmaßnahmen als ausgeschöpft ansieht.

Ob die GDL aktuell alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel ausgeschöpft hat, bevor sie nun erneut zum Streik aufrief, lässt sich aus zwei Gründen bezweifeln: Zum einen waren die Verhandlungen den Angaben der DB AG noch in vollem Gange. So hatte die DB AG der GDL unmittelbar vor Ankündigung des Streiks eine 37-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich angeboten und war der Forderung der Gewerkschaft nach einer 35-Stunden-Woche damit um eine Stunde entgegengekommen. Weitere Verhandlungen wären also denkbar und damit eine aussichtsreiche Alternative zum Streik. Zum anderen wäre auch die weitere Durchführung eines Schlichtungsverfahrens als Alternativmaßnahme denkbar – und auf Grund der Annährung beider Seiten naheliegend gewesen.

Zur Verhältnismäßigkeitsprüfung gehört bei Arbeitgebern der Daseinsvorsorge insbesondere auch der Abschluss von Notdienstvereinbarungen, um ein Mindestmaß an Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen.

So wie Krankenhäuser, Kindergärten, Wasser- und Energieversorgung, Tunnelbetriebe u.a. ist der Personenverkehr der Bahn der sog. Daseinsvorsorge bzw. kritischen Infrastruktur zuzurechnen. Für diese Bereiche sieht die Rechtsprechung für die Frage der Verhältnismäßigkeit von Streikmaßnahmen die Notwendigkeit sog. Notdienstvereinbarungen vor. Die Tarifvertragsparteien müssen also sicherstellen, dass ein Mindestmaß an Versorgung gewährleistet bleibt. Hierzu schließen die Tarifvertragsparteien in der Regel selbst Vereinbarungen ab, die den Umfang der Arbeitsleistungserbringung festlegen und die Aufrechterhaltung des Betriebs im Sinne einer Minimalversorgung – trotz der Streikmaßnahmen – sicherstellen (etwa Mindestbesetzungen der OP-Dienste in einem Krankenhaus für unaufschiebbare OPs, Mindestbesetzung der Pflege für die Patienten, Mindestöffnungszeiten einer Kita mit Mindestbesetzung durch Erzieherinnen und Erzieher). Solche Notdienstvereinbarungen bzw. Mindestbesetzungen werden teilweise in einstweiligen Verfügungsverfahren auch durch gerichtliche Entscheidung angeordnet (so z.B. LAG Hamburg (1. Kammer), Urteil vom 26.03.2023 – 1 Ta 1/23, in: BeckRS 2023, 8569 zur Mindestbesetzung zum Betrieb des Elbtunnels; LAG Baden-Württemberg, Urteil vom 18.07.2023 – 4 SaGa 3/23 = openJur 2023, 10054 zur Notdienstregelung des Technikservices des Universitätsklinikums Heidelberg).

Insbesondere bei den von der GDL angekündigten, sog. Wellen-Streiks dürfte aber kaum eine hinreichende Vorlaufzeit für Notfallmaßnahmen bestehen, sodass ernste Zweifel an der Verhältnismäßigkeit dieser Streikmaßnahmen bestehen. Zudem wurde bereits angekündigt, dass auch die Funktionsfähigkeit des Notfallfahrplans eingeschränkt sei.

Bei der Bestimmung der Verhältnismäßigkeit muss ein angemessener Ausgleich zwischen der Koalitionsfreiheit der Gewerkschaft und den Rechten Dritter erfolgen.

Vor allem im Bereich der Daseinsvorsorge / kritischen Infrastruktur greifen Streikmaßnahmen sehr stark in grundrechtlich geschützten Positionen Dritter ein, die weder selbst Streikbeteiligte sind, noch auf die tariflichen Verhandlungen Einfluss nehmen können. Diese unbeteiligten Personen profitieren nicht von etwaigen Anpassungen der Arbeitsbedingungen. Auch deren Rechtspositionen sind bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit des Streiks zu berücksichtigen. Bei den anstehenden Streiks der GDL werden nun sowohl der Personen- als auch der Güterverkehr vollständig bestreikt und damit lahm gelegt – zunächst für 35 Stunden, verbunden mit der Ankündigung weiterer Streikmaßnahmen (Wellenstreiks), zu denen dann keine gesonderte Ankündigungsfrist von 48 Stunden mehr eingehalten werde. Für Dritte – d.h. insbesondere die Reisenden – entfällt damit jegliche Planbarkeit und jegliche Möglichkeit, ggf. rechtzeitig alternative Maßnahmen zu ergreifen (sei es im Vorfeld Termine entsprechend umzuplanen, alternative Reisemöglichkeiten zu organisieren etc.). Die Betroffenen sind damit massiv in ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) beeinträchtigt. Auf Grund der Auswirkungen auf das jeweilige Arbeitsverhältnis, etwa wegen fehlender Erreichbarkeit der Arbeitsstätte oder des Verpassens beruflicher Termine wird zudem in ihre Berufsfreiheit eingegriffen (Art. 12 GG). Unternehmen sind durch die erheblichen Einschränkungen im Güter- und im Personenverkehr in ihrem eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb betroffen. Grundrechte der DB AG kommen hingegen nicht in Betracht, da diese als juristische Person des Privatrecht, die zu 100% in öffentlicher Hand ist, nicht grundrechtsfähig ist (BVerfG, Urt. v. 7.11.2017 – 2 BvE 2/11). Das Streikrecht der Gewerkschaft und die Grundrechtspositionen der unbeteiligten Dritten sind in „praktische Konkordanz″ zu bringen, d.h. es muss ein möglichst schonender Ausgleich zwischen diesen Grundrechtspositionen hergestellt werden, bei denen jeder Position ein möglichst großer Entfaltungsspielraum zukommt. Hieran bestanden bereits nach den letzten Streiks der GDL Zweifel – mit den nun angekündigten Arbeitsniederlegungen – einschließlich des Lahmlegens von Notfallplänen – scheint die Grenze der Verhältnismäßigkeit deutlich überschritten. Dies gilt insbesondere für die bereits in Aussicht gestellten umfangreichen Streikmaßnahmen (Wellenstreiks) ohne vorherige Ankündigungsfrist.  

Zwar ließe sich argumentieren, dass weiterhin ein Notfallfahrplan nicht gänzlich ausgeschlossen sei. Zudem bestehe seit der Corona-Krise für viele Pendler die Möglichkeit, aus dem Home-Office heraus zu arbeiten. Auch stünden alternative Beförderungsmittel, wie zum Beispiel das Auto, zur Verfügung. Allerdings ist es nicht in allen Branchen möglich, auf Ersatztransporte umzusteigen. Für einen nicht unerheblichen Anteil der Pendler stellen öffentliche Verkehrsmittel zudem die einzige realisierbare Möglichkeit zum Erreichen der Arbeitsstätte dar. Auch sind insbesondere die Stahl-, Chemie- und Automobilindustrie im Rahmen der Just-in-Time Produktion nicht nur auf den Transport auf der Straße, sondern vor allem auch auf den Güterverkehr angewiesen. Nach dem Institut der Deutschen Wirtschaft verursacht ein Bahnstreik Schäden von bis zu 100 Millionen Euro pro Tag. Der DB AG entstehen nach eigenen Angaben täglich Schäden in Höhe von 25 Millionen Euro.

Verhältnismäßigkeit ohne Ankündigungsfristen und Mitteilung zur Streik-Dauer sowie Einschränkungen von Notfallmaßnahmen fraglich

Auch wenn die Rechtsprechung bislang Streikmaßnahmen selten die Rechtmäßigkeit abgesprochen hat, liegen bei den aktuellen Streikmaßnahmen der GDL, die mit der Arbeitsniederlegung ihre Vorstellungen zur Anpassung der Arbeitsbedingungen für die rund 20.000 bei der GDL organisierten LokführerInnen erreichen will, viele Argumente vor, dass die Grenzen der Verhältnismäßigkeit deutlich überschritten sind. Folge wäre die Rechtswidrigkeit der nun anstehenden Streikmaßnahmen. Insbesondere die DB AG könnte dann Schadensersatzansprüche gegen die GDL geltend machen. Es bleibt abzuwarten, ob die Tarifvertragsparteien doch noch zu einer Lösung kommen.

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