21. Januar 2021
Diskriminierung Sozialplan Kinderfreibetrag
Arbeitsrecht

Mittelbare Diskriminierung im Sozialplan

Zur guten Vorbereitung und Durchführung einer Restrukturierung gehört die Planung der Kosten. Diese hängen u. a. von den im Sozialplan zugesagten Leistungen ab.

Bei einem Stellenabbau sieht der Sozialplan in der Regel Abfindungen für die ausscheidenden Arbeitnehmer vor. Ihre Höhe berechnet sich nach einer Formel, die die Dauer der Betriebszugehörigkeit des betroffenen Mitarbeiters und seine Vergütung berücksichtigt. Auch sein Alter fließt häufig in die Berechnung ein (etwa durch einen altersabhängig gestaffelten Faktor oder Zusatzleistungen).

Hinzu kommen Zuschläge, um z.B. die Abfindung für Arbeitnehmer mit unterhaltsberechtigten Kindern zu erhöhen (sogenannter „Kinderzuschlag″). Hierdurch sollen die besonderen Belastungen gemildert werden, die der Verlust des Arbeitsplatzes für Arbeitnehmer mit Kindern hat.

Kinderzuschlag wird oft von steuerlichem Kinderfreibetrag abhängig gemacht

Zum Teil verlaufen Sozialplanverhandlungen nicht nur unter erheblichem Zeitdruck. Oft soll die Belegschaft auch erst dann im Detail informiert werden, wenn mit dem Betriebsrat Einigkeit über die Maßnahme als solche (und damit den Interessenausgleich) sowie über den wirtschaftlichen Ausgleich für die Arbeitnehmer (also den Sozialplan) erzielt wurde. Um nicht bereits während der Verhandlungen jeden Arbeitnehmer konkret nach seinen aktuellen Unterhaltpflichten zu befragen, orientierten sich Arbeitgeber und Betriebsrat bislang oft an den auf der Lohnsteuerkarte eingetragenen Freibeträgen, auch um das Volumen des Sozialplans zu bestimmen.

So machten viele Sozialpläne einen Kinderzuschlag nicht davon abhängig, dass der Arbeitnehmer unterhaltsberechtigte Kinder hat, sondern davon, dass auf seiner Lohnsteuerkarte ein Kinderfreibetrag eingetragen war. Später, nach Einführung der elektronischen Lohnsteuerabzugsmerkmale (ELStAM), stellte man darauf ab, ob in dem Datensatz des Arbeitnehmers, den der Arbeitgeber beim Bundeszentralamt für Steuern abrufen kann, ein Kinderfreibetrag vermerkt ist (§ 39 Abs. 4 Nr. 2 EStG).

Fehler im System: Für die Steuerklasse V gibt es keine Kinderfreibeträge

Hierdurch hatten die Besonderheiten des Lohnsteuerrechts Einfluss auf die Gewährung eines Kinderzuschlags. Denn es gibt sechs Lohnsteuerklassen (§ 38b Abs. 1 EStG). Die Lohnsteuerklassen II und VI gelten für Sonderfälle. Im Übrigen gilt Folgendes: Ledige haben die Lohnsteuerklasse I. Bei Ehegatten, die nicht dauernd getrennt leben, hat entweder einer die Steuerklasse III und der andere die Steuerklasse V oder beide haben die Steuerklasse IV. Ein Kinderfreibetrag kann nur in den Lohnsteuerklassen I, III und IV berücksichtigt werden, nicht aber in der Steuerklasse V (§ 38b Abs. 2 EStG).

Typischerweise Lohnsteuerklasse V für die Ehefrauen mit geringerem Einkommen

Die Kombination aus den Lohnsteuerklassen III und V ist günstig, wenn einer der Ehegatten erheblich mehr verdient als der andere. In diesem Fall wählt der Besserverdiener die Steuerklasse III, sein Ehepartner die Steuerklasse V. Statistiken zeigen, dass von denjenigen, die die Steuerklasse V wählen, 89 % Frauen und nur 11 % Männer sind. Dies ist darauf zurückzuführen, dass nach der Geburt eines Kindes zumeist die Ehefrau in Teilzeit wechselt und deshalb weniger verdient als ihr Ehemann.

Dies bedeutet, dass ein Großteil der verheirateten Frauen keinen Kinderfreibetrag hat, weil es diesen in der Lohnsteuerklasse V nicht gibt. Zwar könnten die Ehepartner Lohnsteuerklasse IV mit Faktor wählen (§ 39f EstG), um der Frau einen Kinderfreibetrag zukommen zu lassen. Dies ist aber den wenigsten bekannt.

LAG Hessen sieht in Anknüpfung an den steuerlichen Kinderfreibetrag eine mittelbare Diskriminierung der Frauen

Vor fast einem Vierteljahrhundert hat das BAG (Urteil v. 12. März 1997 – 10 AZR 648/96) entschieden, dass Arbeitgeber und Betriebsrat aus Gründen der Praktikabilität einen Kinderzuschlag davon abhängig machen dürfen, dass für das Kind ein Kinderfreibetrag auf der Lohnsteuerkarte eingetragen ist. Nunmehr hat das LAG Hessen (Urteil v. 28. Oktober 2020 – 18 Sa 22/20) diese Praxis für rechtswidrig erklärt.

Das Anliegen der Betriebsparteien, im Vorfeld zu wissen, wie viele Arbeitnehmer in den Genuss des Kinderzuschlags kommen, sei – so das LAG – zwar grundsätzlich legitim. Es sei aber unklar, ob man hierfür an den Kinderfreibetrag anknüpfen müsse. Vermutlich sei es ebenso gut möglich, die Zahl der Arbeitnehmer mit unterhaltsberechtigten Kindern auf andere Art und Weise zu ermitteln oder notfalls zu schätzen.

Jedenfalls aber sei die Anknüpfung an den Kinderfreibetrag eine verbotene mittelbare Diskriminierung wegen des Geschlechts (§§ 1, 3 AGG und § 75 BetrVG). Zwar sei die Sozialplanklausel, die den Kinderzuschlag von einem Kinderfreibetrag abhängig mache, dem Wortlaut nach eine neutrale Vorschrift, die für Männer ebenso wie für Frauen gelte. In der Praxis benachteilige sie aber fast ausschließlich Frauen, weil es weit überwiegend Frauen seien, die die Lohnsteuerklasse V wählten, bei der es keinen Kinderfreibetrag gebe. Deshalb seien es fast ausschließlich Frauen, denen der Kinderzuschlag allein wegen der Wahl einer ungünstigen Steuerklasse vorenthalten werde.

Wegen Unzulässigkeit der Anknüpfung an den Kinderfreibetrag muss Arbeitgeber allen Arbeitnehmern mit unterhaltsberechtigten Kindern den Kinderzuschlag zahlen

Deshalb hat das LAG die Arbeitgeberin verurteilt, an eine Arbeitnehmerin den Kinderzuschlag für zwei Kinder zu zahlen, obwohl sie wegen der Lohnsteuerklasse V keinen Kinderfreibetrag hatte. Allerdings hat das LAG die Revision zugelassen. Es bleibt abzuwarten, ob die Arbeitgeberin sie einlegt. Das BAG hätte dann Gelegenheit, grundsätzlich zu klären, ob es seine alte Rechtsprechung aufrechterhält oder sich den Bedenken des LAG anschließt.

Praxistipp: Kinderzuschlag nicht mehr von Kinderfreibetrag abhängig machen

Unabhängig von einer etwaigen Entscheidung des BAG sollten Arbeitgeber bei Sozialplanverhandlungen darauf achten, dass ein Kinderzuschlag nicht von einem steuerlichen Kinderfreibetrag abhängig gemacht wird. Vielmehr sollte auf das Bestehen der Unterhaltspflicht als solcher und ggf. deren Nachweis abgestellt werden. Soweit hierzu eine genaue Kalkulation erforderlich ist, lassen sich die Sozialdaten (einschließlich der Anzahl der unterhaltspflichtigen Kinder) vor Ausspruch der Kündigungen abfragen. Hierfür sprechen – neben der Konkretisierung der im Vorfeld ggf. anhand der steuerlichen Kriterien ermittelten Budgetüberlegungen – vor allem kündigungsschutzrechtliche Überlegungen. Denn für die im Zuge der Umsetzung der Maßnahmen in den meisten Fällen erforderlich werdende Sozialauswahl ist es für den Arbeitgeber wichtig, die genauen Sozialdaten der Mitarbeiter (insbesondere ihre Unterhaltspflichten) zu kennen. Denn andernfalls droht bei fehlender Berücksichtigung vorhandener (aber steuerrechtlich nicht erfasster) Kinder die Unwirksamkeit der Kündigung aufgrund fehlerhafter Sozialauswahl. 

Arbeitgeber sind daher – nicht nur zur korrekten Budgetermittlung – gut beraten, die Unterhaltspflichten der Mitarbeiter bei anstehenden Restrukturierungsmaßnahmen korrekt zu erfassen und zu berücksichtigen.

Tags: Diskriminierung Kinderfreibetrag Sozialplan