19. Oktober 2022
agile Arbeit Arbeitsrecht
Arbeitsrecht

Einführung von agiler Arbeit: Ein Streifzug durch das Betriebsverfassungsrecht

Zahlreiche Unternehmen arbeiten bereits agil, andere wollen diesen Schritt noch gehen. Ist ein Betriebsrat im Unternehmen, sind dabei verschiedene Beteiligungsrechte zu beachten.

In den Diskussionen rund um das sog. „Arbeiten 4.0“ sowie „New Work“ führt kein Weg an agiler Arbeit vorbei. Agilität steht in diesem Zusammenhang für Flexibilität, sowohl hinsichtlich Arbeitszeit und Arbeitsort der Arbeitnehmer* als auch vor allem für flexible Organisationsstrukturen und Arbeitsmethoden in einzelnen Geschäftsbereichen oder ganzen Unternehmen. Mit der Umsetzung agilen Arbeitens gehen regelmäßig auch eine Umgestaltung der Arbeitsplätze (z.B. Desk-Sharing-Modelle), die Einführung neuer EDV-Systeme sowie die Anpassung von Vergütungsstrukturen einher.

Ausgestaltung agiler Arbeitsstrukturen und -methoden

Die verschiedenen, ursprünglich aus der Software-Entwicklung stammenden agilen Arbeitsmethoden (z.B. Scrum, Kanban) haben alle gemein, dass die Hierarchieebenen unterhalb des gesetzlichen Vertretungsorgans eines Unternehmens abgebaut werden. Streng hierarchische Berichtslinien und feststehende Fachabteilungen werden vollständig aufgelöst und durch crossfunktionale, flexible und aufgabenbezogene Teams, sog. „Squads“, ersetzt. Diese Squads werden entsprechend aus Arbeitnehmern zusammengestellt, die für das jeweilige Projekt erforderliche Fachkompetenzen aufweisen und welche die Projektaufgaben gleichberechtigt und eigenverantwortlich erledigen.

Neben der mit dem Abbau von Hierarchieebenen einhergehenden grundlegenden Änderung des Organigramms des Unternehmens ändert sich damit auch die Rolle der Führungskräfte. Da die Teams eigenverantwortlich arbeiten, nehmen die Führungskräfte keine delegierenden und kontrollierenden Aufgaben mehr wahr, sondern moderieren Konflikte und unterstützen individuell als „Coach“.

Mit der Ausweitung solcher agiler Arbeitsstrukturen und -methoden auf Unternehmen außerhalb der Software-Entwicklungs-Branche haben sich unterschiedliche Formen entwickelt. So werden in der Praxis häufig agile Abläufe in hierarchische Linienfunktionen integriert. Dies geschieht z.B., indem die Abteilungsstruktur inklusive der Führungsebene beibehalten, die Teamstruktur innerhalb der Abteilungen aber zugunsten der Bildung von Squads aufgelöst wird. Es hängt daher vom individuellen Unternehmenskonzept zur agilen Arbeit ab, ob agile Arbeitsmethoden bisherige Strukturen vollständig ersetzen oder die fortbestehende Linienorganisation ergänzen. 

Da sich in der Praxis daher kein einheitliches, feststehendes Verständnis hinter dem Begriff der agilen Arbeit verbirgt, hängen die im Einzelfall einschlägigen Beteiligungsrechte des Betriebsrats von dem konkreten Konzept ab. Regelmäßig werden aber folgende Beteiligungsrechte des Betriebsrats relevant:

Unterrichtung des Betriebsrats und des Wirtschaftsausschusses vor der Einführung von agilen Arbeitsmethoden

Nach §§ 80 Abs. 2, 90 Abs. 1 Nr. 3 und Nr. 4 BetrVG hat der Arbeitgeber den Betriebsrat rechtzeitig und unter Vorlage der erforderlichen Unterlagen insbesondere über die Planung von Arbeitsabläufen und Arbeitsplätzen zu unterrichten. Bei der Einführung von agilen Arbeitsmethoden kommt als Arbeitsablauf in diesem Sinne insbesondere die Einführung von Gruppenarbeit aufgrund der Arbeit in Squads in Betracht. Auch die Einführung von Desk-Sharing-Konzepten oder neuer EDV-Systeme kann ein Unterrichtungsrecht des Betriebsrats auslösen. 

Daneben ist der Wirtschaftsausschuss nach § 106 BetrVG zu informieren, denn agiles Arbeiten beinhaltet regelmäßig die Einführung neuer Arbeitsmethoden (§ 106 Abs. 3 Nr. 5 BetrVG) und/oder die Änderung der Betriebsorganisation (§ 106 Abs. 3 Nr. 9 BetrVG).

Einführung agiler Arbeitsmethoden kann interessenausgleichspflichtige Betriebsänderung darstellen

In Abhängigkeit von der konkreten Ausgestaltung des Konzepts zur agilen Arbeit kann es sich um eine grundlegende Änderung der Betriebsorganisation (§ 111 S. 3 Nr. 4 BetrVG), aber auch um die Einführung grundlegend neuer Arbeitsmethoden (§ 111 S. 3 Nr. 5 BetrVG) handeln.  

Da bei der Einführung von agilen Arbeitsstrukturen und -methoden regelmäßig flache bzw. noch flachere Hierarchien entstehen und teils Leitungsebenen wegfallen oder Entscheidungsbefugnisse in dezentrale Strukturen verlagert werden, ist eine Änderung der Betriebsorganisation regelmäßig zu bejahen. Neue Arbeitsmethoden werden eingeführt, wenn planmäßige Regelungen, die dem Arbeitsablauf zugrunde liegen, geändert werden. Als Beispiel kann die Einführung von Gruppenarbeit genannt werden. Die Arbeit in agilen Strukturen findet regelmäßig in Squads statt, d.h. in Gruppen von Arbeitnehmern, die themenspezifisch zusammengestellt werden und selbstständig arbeiten.

Erfolgen solche Veränderungen in Unternehmen mit in der Regel mehr als 20 wahlberechtigten Arbeitnehmern und sind sie grundlegend, weil sie sich erheblich auf den Betriebsablauf auswirken, liegt eine Betriebsänderung vor. Das Unternehmen muss in diesen Fällen den zuständigen Betriebsrat zu Interessenausgleichsverhandlungen auffordern und kann die agile Arbeit erst mit deren Abschluss – bei Nichteinigung nach Durchführung eines Einigungsstellenverfahrens – umsetzen.

Eine Pflicht zur Einigung über einen Sozialplan besteht nicht zwingend

Verursacht eine Betriebsänderung i.S.d. § 111 BetrVG für die betroffenen Arbeitnehmer wirtschaftliche Nachteile, kann der Betriebsrat grds. den Abschluss eines Sozialplans erzwingen. Bei der Einführung agiler Arbeit müssen nicht selten Qualifizierungsdefizite ausgeglichen werden, sofern in diesem Zusammenhang vor allen Dingen Regelungen zur Qualifizierung getroffen werden (sog. „Qualifizierungssozialpläne“). 

Qualifizierungssozialpläne können nach überwiegender Meinung aber nicht vor der Einigungsstelle erzwungen werden. Denn bei der Entscheidung über Qualifizierungsmaßnahmen gehe es nicht um Nachteilsausgleich, sondern um Nachteilsvermeidung. Maßnahmen zur Qualifizierung der Arbeitnehmer können daher entweder (freiwillig) im Interessenausgleich oder in einem freiwilligen Sozialplan geregelt werden.

Mitbestimmungsrecht bei der Festlegung von Qualifizierungsmaßnahmen

Die Nichterzwingbarkeit eines Qualifizierungssozialplans vor der Einigungsstelle bedeutet nicht zwangsläufig, dass kein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats im Zusammenhang mit Qualifizierungsmaßnahmen besteht. Nach § 97 Abs. 2 BetrVG hat der Betriebsrat ein Mitbestimmungsrecht, wenn der Arbeitgeber Maßnahmen plant, die die Tätigkeiten der betroffenen Arbeitnehmer ändern, und ihre beruflichen Fähigkeiten und Kenntnisse zur Erfüllung ihrer neuen Aufgaben nicht mehr ausreichen. Sollte das konkrete Konzept zum agilen Arbeiten demnach dazu führen, dass eine Diskrepanz zwischen den neuen Anforderungen und dem Ausbildungsstand der Arbeitnehmer entsteht oder zu entstehen droht, hat der Betriebsrat ein Initiativrecht zur Forderung von Maßnahmen zur Berufsbildung. Dies könnte bspw. der Fall sein, wenn die Arbeitnehmer allgemein in den Methoden der agilen Arbeit geschult werden müssen oder einzelne Arbeitnehmer in spezifischen agilen Rollen (z.B. sog. „Scrum Master“) entwickelt werden sollen. Der Betriebsrat kann daher im Rahmen des wirtschaftlich Zumutbaren verlangen, dass der Arbeitgeber durch betriebliche Bildungsmaßnahmen (z.B. unter Einschaltung eines externen Dienstleisters, der sich auf entsprechende Fortbildungen spezialisiert hat) die Arbeitnehmer in die Lage versetzt, ihre vertraglich geschuldeten Tätigkeiten unter den geänderten Umständen erbringen zu können. 

Daneben hat der Betriebsrat auch bezüglich der Durchführung der Qualifikationsmaßnahmen nach § 98 BetrVG mitzubestimmen. 

Mitbestimmung bei personellen Einzelmaßnahmen

Ferner geht die Einführung agiler Arbeit häufig mit der Umgestaltung der bisherigen Anforderungsprofile an die Stellen im Unternehmen einher. Bei der Zuordnung der Arbeitnehmer zu diesen neuen Profilen kann die Zuweisung eines anderen Arbeitsbereichs und damit eine zustimmungspflichtige Versetzung i.S.d. § 99 Abs. 1 BetrVG vorliegen. Auch der mit der Einführung agiler Arbeitsmethoden ggf. zusammenhängende Wechsel der räumlichen Arbeitsumgebung, die Änderung der Berichtslinien oder die Einführung und Änderung einer Teamzuordnung stellen grds. eine mitbestimmungspflichtige Versetzung dar. Hier entscheidet der Einzelfall, ausgehend von dem bisherigen und dem neuen Tätigkeitsprofil eines individuellen Arbeitnehmers, der in agile Arbeitsstrukturen und -methoden überführt wird.

Mitbestimmungsrechte nach § 87 BetrVG bei Einführung agiler Arbeit

Nicht selten wird in der Praxis ein Interessenausgleich in eine Betriebsvereinbarung über agiles Arbeiten integriert, denn die Einführung agiler Arbeit stellt in der Regel unter verschiedensten Aspekten eine mitbestimmungspflichtige soziale Angelegenheit dar:

  • Fragen des Ordnungsverhaltens der Arbeitnehmer nach § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG sind von der Einführung agiler Arbeitsmethoden betroffen, wenn gleichzeitig begleitende Veränderungen wie bspw. ein neues Raumkonzept (Desk-Sharing, Open Space) erfolgen.
  • Wird den Arbeitnehmern mit der Einführung agiler Arbeit auch mehr Flexibilität hinsichtlich der Arbeitszeit eingeräumt, mit der Folge, dass die Arbeitszeit neu gestaltet wird oder bestehende Arbeitszeitmodelle geändert werden, hat der Betriebsrat hierbei nach § 87 Abs. 1 Nr. 2, Nr. 3 BetrVG mitzubestimmen. 
  • Da die Einführung agiler Arbeitskonzepte teilweise auch mit der Nutzung neuer EDV-Systeme einhergeht (bspw. neue Systeme zur Raumbelegung oder Software, die eine agile Personalplanung umsetzen), löst dies in der Regel ein Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG aus.
  • Kommt es bei der Einführung agiler Arbeit auch zu einer Umgestaltung der Betriebsräume (z.B. für Open-Space-Arbeitsplätze), sind auch Fragen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes relevant – und damit das Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG
  • In der Praxis wird mit der Einführung agiler Arbeitsmethoden auch das Entgeltsystem des Betriebs verändert bzw. angepasst. So kann bspw. die Anpassung von Eingruppierungssystemen an die agilen Rollenprofile oder persönliche Zielvorgaben in Teamvorgaben erforderlich sein. Hier besteht ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 10, 11 BetrVG.
  • Schließlich beinhaltet die Bildung von sich selbst organisierenden und eigenverantwortlich agierenden Squads die Einführung von Gruppenarbeit i.S.d. § 87 Abs. 1 Nr. 13 BetrVG, sodass der Betriebsrat bei zahlreichen Angelegenheiten, die die Durchführung der Gruppenarbeit betreffen, mitzubestimmen hat. Dazu gehören z.B. die Festlegung des Gegenstandes der Gruppenarbeit und der teilnehmenden Arbeitnehmer (Auswahlverfahren), die Bestimmung der Ziele und der Verantwortung der Gruppe sowie die Festlegung der Regelung der internen Arbeitsorganisation eines Squads. 

Test- bzw. Pilotphasen helfen bei der Einführung agiler Arbeitsstrukturen

Unternehmen, die agile Arbeitsstrukturen und -methoden einführen möchten, müssen wissen, dass sie damit einen Streifzug durch das Betriebsverfassungsrecht unternehmen und die verschiedensten Beteiligungsrechte des Betriebsrats auslösen. Das sollte bereits bei der Erarbeitung des individuellen Konzepts beachtet und auch in zeitlicher Hinsicht bei der Planung der Einführung berücksichtigt werden. Die Schwierigkeit bei den Verhandlungen mit den Betriebsräten besteht oft darin, dass die Auswirkungen des agilen Arbeitens – im positiven wie im negativen Sinne – zu diesem Zeitpunkt schwer einzuschätzen sind, weil die Betriebsparteien keine Erfahrungswerte haben. Deshalb bietet es sich an, anhand einer groben Rahmenvereinbarung eine Test- bzw. Pilotphase, ggf. in einem abgrenzbaren Bereich, zu vereinbaren, um auf der Basis der gegenseitig gesammelten Erfahrungen ein Regelwerk für das agile Arbeiten auch in anderen oder in allen Bereichen zu schaffen. 

*Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Um der leichteren Lesbarkeit willen wird im Beitrag die grammatikalisch männliche Form verwendet.

Tags: agile Arbeit Arbeitsrecht Betriebsrat Betriebsverfassungsrecht Sozialplan