Das LSG Baden-Württemberg qualifiziert die Tätigkeit eines IT-Beraters in einem Scrum-Team als selbstständig – eine bedeutsame Entscheidung für die Praxis.
Die Frage, wann von einer selbstständigen Tätigkeit und wann von einer abhängigen Beschäftigung auszugehen ist, ist nicht nur für die Sozialgerichte, sondern auch für tausende Unternehmen ein Dauerbrenner. Gerade dann, wenn externe Mitarbeiter* im Rahmen agiler Arbeitsmethoden tätig werden sollen (z.B. Scrum), passen die von der Rechtsprechung und der Deutschen Rentenversicherung (DRV) entwickelten Kriterien zur Abgrenzung zwischen abhängiger und freier Beschäftigung nicht.
Softwareentwickler war Teil eines Scrum-Teams – DRV sah dies als abhängige Beschäftigung an
Der Kläger ist Softwareentwickler, die Beigeladene ein IT-Unternehmen, das auf Softwareentwicklung spezialisiert ist. Zwischen dem 1. Januar 2018 und dem 30. Juni 2018 war der Kläger für das IT-Unternehmen als IT-Berater bzw. Programmierer tätig.
Die Programmierung erfolgte mittels der sog. Scrum-Methode. Darunter wird eine agile Methodik im Projektmanagement und bei der Entwicklung von Software verstanden, die dadurch gekennzeichnet ist, dass (anders als im klassischen „Wasserfall“-Modell) es gerade keine Anweisungen eines Vorgesetzten gibt, sondern das Team sich die Aufgaben und Deadlines selbst setzt. Dies erfolgt in sog. „Sprints“, d.h. einem Turnus von (in der Regel) zwei Wochen, innerhalb dessen das Team die anstehenden Aufgaben erledigt. Diese werden auf einer Art „ToDo“-Liste (sog. Backlog) gesammelt und die Teammitglieder entscheiden sodann selbstständig und anhand ihrer Qualifikationen, welche Aufgaben sie übernehmen (sog. Pull-Prinzip). Zudem finden im Rahmen dieser Arbeitsmethode relativ viele Meetings und Abstimmungen statt, um die einzelnen Sprints zu planen, nachträglich zu reviewen und die Beiträge der Team-Mitglieder zu besprechen.
Der Kläger und das IT-Unternehmen schlossen einen Rahmen- und einen darauf basierenden Einzelvertrag, wonach der Kläger im vorgenannten Zeitraum für bis zu 40 Personentage zur Verfügung stehen musste. Das IT-Unternehmen sagte dabei aber keine Mindestabnahme zu. Ein Tätigkeitsort war nicht vereinbart. Es stand dem Kläger grundsätzlich frei, für andere Auftraggeber tätig zu sein.
Der Kläger beantragte bei der beklagten DRV die Feststellung seines sozialversicherungsrechtlichen Status hinsichtlich der von ihm bei dem IT-Unternehmen ausgeübten Tätigkeit. Er war der Ansicht, dass es sich nicht um eine abhängige Beschäftigung handelt.
Die Deutsche Rentenversicherung und – insoweit bestätigend – auch das SG Karlsruhe waren hingegen der Ansicht, dass die Tätigkeit des Klägers im Rahmen einer abhängigen Beschäftigung erfolgte (Urteil v. 30. Januar 2020 – S 11 BA 4365/18, n.v.).
LSG Baden-Württemberg: freie Mitarbeiter können Teil gemischter Scrum-Teams und dennoch selbständig sein
Das LSG Baden-Württemberg (Urteil v. 17. Dezember 2021 – L 8 BA 1374/20) hat erfreulicherweise entschieden, dass es sich bei dem Kläger um einen freien Mitarbeiter handelte. Die einzelnen, von diesem bearbeiteten Arbeitspakete seien jeweils als Aufträge zu bewerten und nicht als Arbeitsanweisungen. Darüber hinaus sei der Kläger – in Anbetracht der Durchführung agiler Arbeit – nicht in den Betrieb des IT-Unternehmens eingegliedert gewesen. Auch sei der Kläger nicht weisungsgebunden tätig gewesen und habe ein unternehmerisches Risiko getragen.
Die rechtskräftige Entscheidung berücksichtigt dabei – soweit ersichtlich erstmals – die Besonderheiten der agilen Entwicklungsmethodik und wägt die bestehenden Kriterien zur Abgrenzung von freier Tätigkeit und Scheinselbstständigkeit zutreffend und überzeugend ab.
Arbeitspakete sind Einzelaufträge und keine Weisungen
Wesentlich für das LSG Baden-Württemberg war zunächst, dass die einzelnen Arbeitspakete, die im Rahmen der Scrum-Methodik definiert wurden, keine Arbeitsanweisungen, sondern einzelne Aufträge darstellten, die der Kläger annehmen oder ablehnen konnte. Zu Beginn jedes einzelnen Entwicklungszyklus (sog. Sprints) hat der Kläger mitgeteilt, wie viele Arbeitspakete er übernimmt, wobei er bei der Auswahl der Arbeitspakete frei war. Das Gericht erkannte auch zutreffend, dass Programmierungen kleinteilig und variabel nach den Anforderungen und Änderungswünschen des Endkunden erfolgen und die endgültigen Vorgaben oftmals erst nach Testung der Programmbestandteile auf Tauglichkeit und Kompatibilität mit den weiteren Programmierungen durch den Endkunden feststehen.
Entscheidend war insofern, dass der Kläger ab der Übernahme eines Arbeitspaketes bis zur Abnahme der Programmkomponenten keine weiteren Vorgaben zum Inhalt oder Ablauf erhielt.
Sonderstellung des Externen aufgrund von Spezialkenntnissen maßgeblich
Das LSG Baden-Württemberg verneinte die Eingliederung des Klägers insbesondere deswegen, weil der Kläger aufgrund seiner Spezialkenntnisse eine Sonderstellung im Projekt eingenommen habe. Er sei daher bereits nicht mit anderen (festangestellten) Mitarbeitern im Projekt vergleichbar gewesen.
Im Vergleich zu den anderen Programmierern habe der Kläger sich seine Arbeitspakete aufgrund seines Spezialwissens frei aussuchen können. Er habe zudem nur diejenigen Arbeitspakete bearbeitet, die seinem Fachgebiet entsprachen und auch nur an diesbezüglichen Besprechungen teilgenommen. Zu anderen Projekten habe das IT-Unternehmen den Kläger – anders als im Falle der übrigen Mitarbeiter – nicht heranziehen können und auch nicht gezogen. Zudem habe er seine Ergebnisse in einen separaten Entwicklungszweig eingestellt.
Unternehmerisches Risiko bei externen Mitgliedern des Scrum-Teams als gewichtiges Indiz für eine freie Mitarbeit
Auch das (im Vergleich zu dem Gehalt der festangestellten Arbeitnehmer) deutlich höhere Tageshonorar und das unternehmerische Risiko sah das Gericht als gewichtige Indizien für das Vorliegen einer selbstständigen Tätigkeit an. So spreche der hohe Tagessatz gerade für eine auf den Spezialkenntnissen des Klägers beruhende fachliche Unabhängigkeit.
Zudem habe der Kläger das mit dem Einsatz eigenen Kapitals verbundene Unternehmerrisiko getragen. Es sei unschädlich, dass die Vergütung nach zeitlichem Aufwand erfolgte, da es sich bei der Softwareentwicklung um eine betriebsmittelarme Branche handle, die im Wesentlichen durch den Einsatz von Knowhow geprägt sei. Es bestand auch ein Unternehmerrisiko, da das IT-Unternehmen nicht zu einer Mindestabnahme verpflichtet gewesen sei, der Kläger die über sein Honorar hinausgehenden Kosten selbst getragen habe und das IT-Unternehmen bei Unzufriedenheit auch jederzeit die Zusammenarbeit mit dem Kläger habe beenden können. Der Kläger habe unternehmerische Investitionen getätigt (Fortentwicklung seiner Spezialkenntnisse, von ihm gegründete Softwareentwicklungsgesellschaft), habe einen Marktauftritt und sei während des streitgegenständlichen Projektes auch für andere Auftraggeber tätig gewesen.
Konkrete Leistungsbeschreibung nicht zwingend erforderlich
Das Gericht ging zudem davon aus, dass die Leistungsbeschreibung hinreichend konkret gewesen sei und beachtete so die Besonderheiten agiler Arbeitsmethoden.
Nach Ansicht des Gerichts sprach es nicht für eine abhängige Beschäftigung, dass sich die konkreten Einzelheiten der Leistung erst bei der Bearbeitung der einzelnen Arbeitspakete oder im Rahmen des Test- und Implementierungsprozesses zeigten. Insofern schließe die Tatsache, dass eine weitere Leistungspräzisierung erst nach Rücksprache und Prüfung durch den Endkunden möglich war, die Bestimmtheit des Auftragsinhalts nicht aus.
Anpassungsbedürfnis des Eingliederungsbegriffs
Das Gericht betont, dass der „klassische“ Eingliederungsbegriff im Kontext agiler Entwicklungsprojekte unpassend ist und daher fortentwickelt werden müsse. So sei es kein Indiz für eine abhängige Beschäftigung, dass die vom Kläger entwickelten Komponenten erst nach deren Abnahme (durch den Kunden) in das bestehende System implementiert und integriert werden. Dies sei allein den hohen Sicherheitsanforderungen geschuldet und lasse daher keine Rückschlüsse auf eine abhängige Beschäftigung zu.
Auch indiziere der Umstand, dass der Kläger in den Räumlichkeiten des IT-Unternehmens gearbeitet habe, nicht per se seine Eingliederung in deren Betrieb, weil dies sicherheitstechnischen Gegebenheiten geschuldet sei.
Im Ergebnis seien für die Abgrenzung die konkreten Umstände der Tätigkeit entscheidend. Ob diese Tätigkeit nun auch „eingegliedert“ ist, sei im Lichte der Gegebenheiten der modernen Arbeitswelt – somit auch agiler Arbeitsmethoden – zu ermitteln.
Gesamtwürdigung aller Umstände auch im agilen Kontext relevant
Entscheidend war zudem, dass der Kläger frei darüber entscheiden konnte, wann er tätig wird und er nicht zur Anwesenheit verpflichtet war. Auch hier berücksichtigt das LSG Baden-Württemberg die Besonderheiten der agilen Arbeitsmethodik und wertet in dem Umstand, dass der Kläger die übernommenen Arbeitspakete in der Zeitspanne der zweiwöchigen Sprints bearbeiten musste, nicht als Indiz für eine abhängige Beschäftigung, sondern führt dies einzig darauf zurück, dass dies den Umständen der Projektorganisation geschuldet sei.
Die im Rahmen von agiler Arbeit gerade fehlenden Weisungen hinsichtlich Ort und Zeit der Ausübung der Tätigkeit sind nach zutreffender Ansicht des Gerichts starke Indizien für eine selbstständige Tätigkeit.
Richtige Richtung, aber noch keine Rechtssicherheit für Scrum-Teams
Eine wegweisende Entscheidung zur agilen Arbeit war lange überfällig und ist für zahlreiche Unternehmen von erheblicher Bedeutung. Denn bislang vertritt die DRV die Auffassung, dass
die Erwerbstätigkeit im Rahmen agiler Arbeitsmethoden oder einer projektbezogenen Arbeit (…) für eine abhängige Beschäftigung [spricht].
Zudem seien
agile Arbeitsmethoden wie Scrum (…) schließlich das Eingeständnis, dass die Einbindung der Externen in die Strukturen des Betriebes zu besseren Arbeitsergebnissen führt.
Dies spiegelt sich auch in unserer Erfahrung aus der Praxis: Sobald Schlagwörter wie „agil“ oder „Scrum“ fallen, geht die DRV von einer abhängigen Beschäftigung aus. Dabei bietet die Beauftragung externer Ressourcen im agilen Umfeld zahlreiche Möglichkeiten, dass Externe gerade nicht eingegliedert und weisungsgebunden tätig werden. Es verbietet sich auf der einen Seite eine „blinde“ Subsumtion unter veraltete Merkmale. Auf der anderen Seite kann und darf es keinen Automatismus à la „agil = abhängig beschäftigt“ geben.
Vor diesem Hintergrund ist die vorliegende Entscheidung umso wichtiger und bedeutender, auch wenn sie die bestehenden Unwägbarkeiten für die Unternehmen bei der Beauftragung externer Mitarbeiter – gerade bei agilen Arbeitsformen im hochqualifizierten Bereich – bedauerlicherweise nicht in Gänze wird eliminieren können. Dafür wären klare (gesetzliche) Vorgaben und Kriterien für die Abgrenzung von abhängiger Beschäftigung und freier Tätigkeit erforderlich, insbesondere für hochqualifizierte Tätigkeiten. Der Gesetzgeber muss zwingend aktiv werden und die Kriterien zur Abgrenzung von selbstständiger und abhängiger Tätigkeit endlich so klar fassen, dass Unternehmen und Freelancer hier rechtssicher agieren können.
Die Revision zum BSG wurde nicht zugelassen, obwohl die Entscheidung des LSG Baden-Württemberg – jedenfalls in praktischer Hinsicht für unzählige Unternehmen – von grundsätzlicher Bedeutung ist. Damit bleibt abzuwarten und gleichsam zu hoffen, ob bzw. dass sich weitere Gerichte der Linie des LSG Baden-Württemberg anschließen werden.
*Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Um der leichteren Lesbarkeit willen wird im Beitrag die grammatikalisch männliche Form verwendet.