Nach zahlreichen Verzögerungen soll zum 1. Januar 2023 die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung kommen. Was sollten Arbeitgeber jetzt beachten?
Die entsprechenden Gesetzesänderungen stammen bereits aus dem Jahr 2019 und wurden seitdem, abgesehen vom Zeitpunkt des Inkrafttretens, inhaltlich kaum angepasst. Seit 1. Oktober 2021 sind Vertragsärzte* verpflichtet, Arbeitsunfähigkeitsdaten elektronisch an die Krankenkassen zu übermitteln.
Nun werden auch die Arbeitgeber in die Pflicht genommen. Ab dem 1. Januar 2023 müssen diese bei den Krankenkassen elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen abrufen. Hierbei handelt es sich um einen Paradigmenwechsel, da ein Übergang von einer Bringschuld der Arbeitnehmer zu einer Holschuld der Arbeitgeber vorgesehen ist.
Mit der neuen Rechtslage gehen mehrere ungeklärte Folgefragen einher. Diese betreffen insbesondere den Umgang mit Störfällen, Mitteilungspflichten der Arbeitnehmer und Mitbestimmungsrechte von Betriebsräten. Unabhängig hiervon sollten Arbeitgeber die Einführung der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung begleiten, indem sie ihre Beschäftigten informieren und Arbeitsverträge sowie interne Prozesse und betriebliche Regelungen modifizieren.
Elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung: Paradigmenwechsel zur Holschuld des Arbeitgebers
Auch zukünftig sind gem. § 5 Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG) alle Arbeitnehmer verpflichtet, ihrem Arbeitgeber eine Arbeitsunfähigkeit und deren voraussichtliche Dauer unverzüglich mitzuteilen (sog. Anzeigepflicht). Bei Arbeitnehmern mit privater Krankenversicherung bleibt auch im Übrigen alles beim Alten. Diese haben ihrem Arbeitgeber spätestens am vierten Tag der Arbeitsunfähigkeit eine ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung in Papierform vorzulegen, sofern der Arbeitgeber dies nicht vertraglich oder im Einzelfall durch Weisung bereits zu einem früheren Zeitpunkt verlangt (sog. Vorlagepflicht).
Digitales Neuland beschreitet der Gesetzgeber hingegen bei Arbeitnehmern mit gesetzlicher Krankenversicherung. Für sie besteht künftig keine Vorlagepflicht beim Arbeitgeber mehr. Sie sind lediglich verpflichtet, eine Arbeitsunfähigkeit sowie deren voraussichtliche Dauer spätestens am vierten Tag der Arbeitsunfähigkeit bei einem Arzt feststellen und sich selbst eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung in Papierform aushändigen zu lassen. Ihre bis dato bestehende Vorlagepflicht wird künftig dadurch erfüllt, dass die Arbeitsunfähigkeitsdaten durch den feststellenden Arzt elektronisch an die Krankenkasse übermittelt werden. Die jeweilige Krankenkasse erstellt sodann aus diesen ärztlichen Daten eine Meldung für den Arbeitgeber, die den Namen des Beschäftigten, den Beginn und das Ende der Arbeitsunfähigkeit, das Datum der ärztlichen Feststellung, eine Kennzeichnung als Erst- oder Folgemeldung sowie etwaige Anhaltspunkte für einen Unfall enthält. Diese Meldung muss der Arbeitgeber aktiv bei der Krankenkasse elektronisch abrufen (Holschuld).
Arbeitgeber können auch einen Dritten (z.B. den externen Gehaltsabrechner) mit dem Abruf der Meldung bei der Krankenkasse beauftragen. Jedenfalls bedarf es einer gesicherten und verschlüsselten Datenübertragung. Zudem darf ein Abruf immer nur dann erfolgen, wenn ein Arbeitnehmer seinem Arbeitgeber eine Arbeitsunfähigkeit und deren voraussichtliche Dauer zuvor angezeigt hat, d.h., ein Abruf auf Verdacht soll nicht möglich sein. Stellt die Krankenkasse fest, dass die Entgeltfortzahlung wegen anrechenbarer Vorerkrankungszeiten ausläuft, ist vorgesehen, dass sie dem Arbeitgeber automatisch eine entsprechende Meldung übermittelt, er diese also nicht aktiv abrufen muss.
Die neuen Regelungen gelten größtenteils auch für geringfügig Beschäftigte, jedoch ausdrücklich nicht für solche in Privathaushalten. Keine Anwendung findet das neue Verfahren zudem bei einer Feststellung der Arbeitsunfähigkeit durch einen Nichtvertragsarzt (also z.B. im Ausland). In diesen Fällen bleibt es bei dem bewährten Prozedere nach § 5 Abs. 1, 2 EFZG.
Vereinbarkeit der Holschuld mit der Nachweispflicht des Arbeitnehmers gem. EFZG noch ungeklärt
Lediglich auf den ersten Blick scheint die Rechtslage bei Störfällen gesichert, wie z.B. bei einer fehlgeschlagenen Übermittlung der Arbeitsunfähigkeitsdaten im elektronischen Verfahren. Laut der Gesetzesbegründung trifft die Nachweispflicht für das Vorliegen einer Arbeitsunfähigkeit nach wie vor den Arbeitnehmer. Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch dessen künftige Verpflichtung, sich weiterhin eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung in Papierform aushändigen zu lassen.
Allerdings ist völlig unklar, wie sich dies mit § 7 EFZG in Einklang bringen lässt. Dort ist nach wie vor bestimmt, dass ein Arbeitgeber berechtigt ist, die Fortzahlung des Arbeitsentgelts zu verweigern, solange ein Arbeitnehmer die „von ihm vorzulegende“ ärztliche Bescheinigung nicht vorlegt. Eine solche Vorlagepflicht entfällt für gesetzlich krankenversicherte Arbeitnehmer jedoch ab dem 1. Januar 2023, sodass sich die Frage stellt, in wessen Risikosphäre Störfälle liegen werden. Arbeitgeber könnten deshalb auf die Idee kommen, ihre Arbeitnehmer vertraglich weiterhin zur Vorlage der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung in Papierform zu verpflichten. Allerdings ist aktuell unklar, ob die künftig durch den Arzt auszuhändigende Bescheinigung Angaben zur gesundheitlichen Diagnose enthält oder nicht. Sofern die Bescheinigung solche sensiblen Daten enthält, dürften Arbeitnehmer eine Vorlage wohl allein deswegen verweigern. Von den Vorschriften des EFZG kann zudem nicht zuungunsten des Arbeitnehmers abgewichen werden. Es werden deshalb vermutlich die Gerichte (schnell) entscheiden müssen, ob sich Arbeitgeber bei Störfällen auf ein Leistungsverweigerungsrecht berufen können oder ohne weiteres Entgeltfortzahlung leisten müssen.
Etwaige Mitteilungspflicht über den die AU bescheinigenden Arzt möglich
Abzuwarten bleibt ferner, ob die Gerichte eine Mitteilungspflicht der Arbeitnehmer hinsichtlich der Identität des die Arbeitsunfähigkeit feststellenden Arztes annehmen werden. Anders als bisher werden die Arbeitgeber hiervon in der elektronischen Meldung durch die Krankenkassen nämlich nicht mehr in Kenntnis gesetzt. Eine entsprechende Mitteilungspflicht erscheint sachgerecht, da Arbeitgeber anderenfalls kaum noch die Möglichkeit hätten, den hohen Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu erschüttern. Dies betrifft etwa Fälle, in denen ein Arzt durch die Häufigkeit der von ihm ausgestellten Bescheinigungen über Arbeitsunfähigkeit auffällig geworden ist.
Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates bei technischen Lösungen zum Abruf von elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen zu bedenken
Schließlich wird man hinterfragen können, ob die Einführung der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung und die damit einhergehende Schaffung einer IT-Schnittstelle zwischen Arbeitgeber und Krankenkassen (z.B. mit dem Entgeltabrechnungsprogramm des Arbeitgebers) ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG auslösen oder ob insoweit allein eine gesetzliche Vorgabe umgesetzt wird, die keinen Raum für ein Mitbestimmungsrecht lässt.
Denkbare Regelungsgegenstände wären das Zugriffsberechtigungskonzept sowie die zulässigen Nutzungszwecke. Auf der anderen Seite gibt der Gesetzgeber vor, dass das entsprechende IT-System am 1. Januar 2023 in Betrieb genommen werden muss, und sieht keinen Vorbehalt bzgl. eines abgeschlossenen Beteiligungsverfahrens vor.
Arbeitgeber sollten sich früh auf elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vorbereiten
Unabhängig von diesen ungeklärten Rechtsfragen sollten Arbeitgeber die Einführung der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nunmehr vorbereiten, indem sie ihre Beschäftigten auf betriebsübliche Art und Weise von den neuen Regelungen in Kenntnis setzen.
Darüber hinaus sollten Arbeitgeber ihre Musterarbeitsverträge für Neueintritte an das neue Regelungsregime anpassen. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass das Gesetz künftig zwischen privat und gesetzlich krankenversicherten Arbeitnehmern differenziert und dass sich der Versicherungsstatus während des Arbeitsverhältnisses ändern kann. Auch den vorgesehenen Ausnahmen, insbesondere für Fälle der Feststellung der Arbeitsunfähigkeit durch einen Nichtvertragsarzt, ist insoweit Rechnung zu tragen. Ein bloßer Verweis auf das EFZG könnte gegen die EU-Richtlinie über transparente und vorhersehbare Arbeitsbedingungen verstoßen.
Demgegenüber bedarf es keiner zwingenden Anpassung bestehender Verträge mit gesetzlich krankenversicherten Arbeitnehmern. Klauseln, die die alte Rechtslage abbilden, werden mit dem Jahreswechsel schlicht nichtig. An die Stelle solcher Klauseln treten dann die neuen gesetzlichen Regelungen, wie sie bereits in § 5 Abs. 1a EFZG aufgenommen wurden. Allerdings ist zu beachten, dass die gesetzlichen Regelungen Arbeitnehmern erst für den vierten Tag einer Arbeitsunfähigkeit die Verpflichtung auferlegen, die Arbeitsunfähigkeit feststellen zu lassen. Soweit Arbeitgeber den Nachweis der Arbeitsunfähigkeit generell früher bei der Krankenkasse abrufen möchten, könnte eine entsprechende individualvertragliche Regelung getroffen werden. In Unternehmen mit Betriebsrat ist bei einer solchen allgemeinen früheren Feststellungspflicht der Arbeitnehmer dessen Mitbestimmungsrecht gem. § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG zu beachten.
Auch die technische Umsetzung, insbesondere die Schaffung der erforderlichen IT-Schnittstelle mit den Krankenkassen, sollte – sofern noch nicht geschehen – nunmehr initiiert werden. Um einen reibungslosen Übergang zum neuen Verfahren sicherzustellen, sollten Arbeitgeber ihren Softwareanbieter kontaktieren und mit diesem gemeinsam erörtern, wie sie mit dem denkbaren Mitbestimmungsrecht eines Betriebsrats umgehen. Auch die HR-Prozesse müssen angepasst werden. Zwar kann eine erneute Verschiebung der Einführung der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zum heutigen Zeitpunkt nicht gänzlich ausgeschlossen werden. Arbeitgeber sollten aber vorbereitet sein und die Umstellung zeitnah in die Wege leiten, da anderenfalls ein Durcheinander bei der Abrechnung droht.
*Gemeint sind Arbeitnehmer jeder Geschlechtsidentität. Lediglich der leichteren Lesbarkeit halber wird in diesem Beitrag bei allen Bezeichnungen ausschließlich die grammatikalisch männliche Form verwendet.