9. Juli 2024
EuGH Ruhezeit
Arbeitsrecht

EuGH zur Gewährung von Ruhezeit

Die tägliche Ruhezeit ist zusätzlich zur wöchentlichen Ruhezeit und sofort im Anschluss an jede Arbeitsphase zu gewähren. 

Durch die Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (Arbeitszeitrichtlinie) sind die Mitgliedstaaten der Europäischen Union verpflichtet, eine Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer* durch die Gewährung von täglichen und wöchentlichen Ruhezeiten zu gewährleisten. Demzufolge sieht Art. 3 Arbeitszeitrichtlinie eine tägliche Ruhezeit von 11 zusammenhängenden Stunden und Art. 5 Arbeitszeitrichtlinie eine wöchentliche Ruhezeit von 24 zusammenhängenden Stunden vor.

Im deutschen Recht wurde die Arbeitszeitrichtlinie mit der Ruhezeit gemäß § 5 ArbZG und der Sonntags- und Feiertagsruhe gemäß § 9 ArbZG umgesetzt. Mit Urteil vom 2. März 2023 (Az. C-477/21) traf der Europäische Gerichtshof (EuGH) eine Entscheidung zum Verhältnis zwischen der täglichen Ruhezeit und der wöchentlichen Ruhezeit und setzt sich zudem mit wichtigen Vorgaben zur Lage der Ruhezeiten auseinander.

Lokführer wünscht tägliche Ruhezeit von immer mindestens elf zusammenhängenden Stunden 

Der Entscheidung lag im Wesentlichen folgender Sachverhalt zugrunde: Ein ungarischer Lokführer klagte gegen die Entscheidung seiner Arbeitgeberin, einer ungarischen Eisenbahngesellschaft, ihm keine tägliche Ruhezeit von mindestens elf zusammenhängenden Stunden zu gewähren, wenn diese tägliche Ruhezeit einer wöchentlichen Ruhezeit vorausgeht oder dieser nachfolgt. Die Arbeitgeberin gewährte dem Arbeitgeber nämlich nur dann eine tägliche Ruhezeit, wenn zwischen zwei Arbeitsphasen maximal 24 Stunden lagen. Wenn zwischen beiden Arbeitsphasen (z.B. aufgrund von Urlaub) ein längerer Zeitraum lag, gewährte die Arbeitgeberin die tägliche Ruhezeit nicht zusätzlich. 

Die Arbeitgeberin meinte, die tägliche Ruhezeit stehe dem Arbeitnehmer nur zu, wenn auf die Ruhezeit auch eine Arbeitsphase folge. Zudem rechtfertigte sie ihre Entscheidung damit, dass der Arbeitnehmer nicht schlechter gestellt werde. Aufgrund einschlägiger tarifvertraglicher Regelungen erhalte er ohnehin eine wöchentliche Ruhezeit von mindestens 42 Stunden, die sogar wesentlich höher sei als die von Art. 3 der Arbeitszeitrichtlinie vorgegebenen wöchentlichen Ruhezeit von 24 Stunden.

Anspruch auf tägliche Ruhezeit zusätzlich zur wöchentlichen Ruhezeit 

Der EuGH lehnte die Auffassung der Arbeitgeberin allerdings ab und stellte in seiner Entscheidung zunächst fest, dass die tägliche Ruhezeit und die wöchentliche Ruhezeit zwei unterschiedliche Rechte darstellen, die getrennt voneinander zu gewähren seien. Arbeitgeber müssen die tägliche Ruhezeit daher stets zusätzlich zur wöchentlichen Ruhezeit gewähren.

Dies begründet der EuGH damit, dass beide Ruhezeiten unterschiedliche Ziele verfolgen:

  • Die tägliche Ruhezeit solle es den Arbeitnehmern ermöglichen, sich für eine bestimmte Anzahl von Stunden, die nicht nur zusammenhängen, sondern sich auch unmittelbar an eine Arbeitsphase anschließen müssen, aus ihrer Arbeitsumgebung zurückzuziehen, um sich zu erholen.
  • Die wöchentliche Ruhezeit hingegen diene dem Ausruhen der Arbeitnehmer in jedem siebentägigen Arbeitszeitraum.

Arbeitgeber haben die tatsächliche Inanspruchnahme beider Rechte sicherzustellen, da diese das in Art. 31 Abs. 2 der Grundrechtecharta verankerte Grundrecht auf gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen verwirklichen und in dessen Lichte stets zugunsten der Arbeitnehmer auszulegen seien. 

Keine Verrechnung der Ruhezeiten

Darüber hinaus ist den Arbeitnehmern nach Auffassung des EuGH innerhalb eines jeden siebentägigen Zeitraums eine zusammenhängende Gesamtruhezeit von 35 Stunden einzuräumen. Diese Gesamtruhezeit ergibt sich aus einer Kombination von 24 Stunden wöchentlicher Ruhezeit und 11 Stunden täglicher Ruhezeit. 

Die Ruhezeiten dürfen daher keinesfalls miteinander verrechnet werden. Wenngleich den Arbeitnehmern – wie im zu entscheidenden Fall – eine längere wöchentliche Ruhezeit als 24 Stunden gewährt wird, kann hierdurch nicht das davon unabhängige Recht der Arbeitnehmer auf die tägliche Ruhezeit reduziert werden. Dies gilt zum Schutz der Arbeitnehmer selbst dann, wenn das jeweilige nationale Recht eines Mitgliedsstaats, ein Tarifvertrag oder der Arbeitsvertrag eine längere wöchentliche Ruhezeit als die Mindestdauer von 24 Stunden vorsehen. Nach der Rechtsprechung des EuGH (Urteil v. 4. Juni 2020 – C-588/18) darf nämlich die Ausübung solcher eigenen Befugnisse gerade nicht dazu führen, dass der den Arbeitnehmern durch die Arbeitszeitrichtlinie gewährleistete Mindestschutz beeinträchtigt und insbesondere das Recht zur tatsächlichen Inanspruchnahme der täglichen Ruhezeit ausgehöhlt wird.

Umsetzung der Arbeitszeitrichtlinie im deutschen Recht

Im deutschen Recht wurde die wöchentliche Ruhezeit mit der Sonn- und Feiertagsruhe in § 9 Abs. 1 ArbZG umgesetzt. Die Besonderheit der Festlegung des Tages, an dem die wöchentliche Ruhezeit nach Art. 5 Arbeitszeitrichtlinie genommen werden soll, folgt aus dem besonderen verfassungsrechtlichen Sonn- und Feiertagsschutz in Deutschland. Die tägliche Ruhezeit von 11 Stunden ist in § 5 Abs. 1 ArbZG normiert. Damit wird im ArbZG – entsprechend der Entscheidung des EuGH – bereits klargestellt, dass die tägliche und wöchentliche Arbeitszeit voneinander getrennt zu betrachtende und somit autonome Rechte sind.

Zudem wird durch § 11 Abs. 4 ArbZG bestimmt, dass die Sonn- und Feiertagsruhe sowie der Ersatzruhetag nach § 11 Abs. 3 ArbZG den Arbeitnehmern unmittelbar in Verbindung mit der täglichen Ruhezeit nach § 5 ArbZG zu gewähren sind, soweit technische oder arbeitsorganisatorische Gründe nicht entgegenstehen. Mit der zusätzlich auch für Feiertage vorgesehenen Ruhezeit geht die Regelung in § 11 Abs. 4 ArbZG sogar über die Vorgaben der Richtlinie hinaus.

Gewährleistung der täglichen Ruhezeiten unmittelbar nach der Arbeitsphase 

Zudem stellt der EuGH praxisrelevante Vorgaben zur Lage der täglichen Ruhezeit auf: Arbeitnehmern, denen eine wöchentliche Ruhezeit gewährt wird, ist auch eine tägliche Ruhezeit zu gewähren, die dieser wöchentlichen Ruhezeit vorausgeht. Nach einer Arbeitsphase ist den Arbeitnehmern sofort eine tägliche Ruhezeit zu gewähren. Dies gilt unabhängig davon, ob sich an die tägliche Ruhezeit eine Arbeitsphase anschließt oder nicht. In den Fällen, in denen die tägliche und die wöchentliche Ruhezeit zusammenhängend gewährt werden, darf die wöchentliche Ruhezeit erst nach Inanspruchnahme der täglichen Ruhezeit beginnen.

Durch diese Feststellungen weicht der EuGH teilweise von der bisherigen Rechtsprechung des BAG ab. Da die tägliche Ruhezeit laut EuGH sofort im Anschluss an jede Arbeitsphase gewährt werden muss, ist es entgegen der Auffassung des BAG (Urteil v. 16. September 2020 – 7 AZR 491/19) nicht mehr möglich, die tägliche Ruhezeit „lediglich“ irgendwann innerhalb eines Zeitraums von 24 Stunden nach Beginn der Arbeitsphase zu gewähren. Vielmehr muss sich die tägliche Ruhezeit nahtlos an die Arbeitsphase anschließen.

BAG könnte Rechtsprechung zu Ruhezeiten ändern

Von erheblicher praktischer Relevanz ist die Entscheidung des EuGH im Hinblick auf die bisherige Rechtsprechung des BAG, wonach die Ruhezeit (§ 5 ArbZG) durch diverse Arten der Freistellung von der Arbeitspflicht gewährt werden kann. Bislang galten danach sowohl die Gewährung von Urlaub als auch die Gewährung eines Freizeitausgleichs für geleistete Überstunden als Ruhzeiten i.S.d. § 5 ArbZG (vgl. BAG, Urteil v. 23. Mai 2018 – 5 AZR 303/17; BAG, Urteil v. 22. Juli 2010 – 6 AZR 78/09; BAG, Urteil v. 13. Februar 1992 – 6 AZR 638/89). 

Nach derzeitiger Auffassung des BAG dürfe sich die tägliche Ruhezeit mit Zeiten eines gewährten Urlaubs oder Freizeitausgleichs überschneiden. Die Ruhezeit könne durch sämtliche Zeiten der Freizeit verwirklicht werden und müsse daher nicht etwa vor Beginn des Erholungsurlaubs zusätzlich gewährleistet werden. Die deutsche Regelung zu den täglichen Ruhezeiten (§ 5 ArbZG) gebe nämlich nicht vor, inwiefern Arbeitgeber sicherstellen müssen, dass die Arbeitnehmer nach Beendigung einer Arbeitsphase während der Dauer der gesetzlichen Ruhezeit keine Arbeitsleistung erbringen. Es komme lediglich darauf an, dass den Arbeitnehmern ermöglicht werde, sich von den Auswirkungen der vorangegangenen Arbeitsphase zu erholen, um für die darauf folgende Arbeitsphase ausgeruht zu sein (vgl. BAG, Urteil v. 23. Mai 2018 – 5 AZR 303/17).

Folgt man den seitens des EuGH aufgestellten Grundsätzen, könnte dies jedoch eine Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung des BAG zur Folge haben. Der EuGH stellt zwar – lediglich pauschal – fest, dass sich die tägliche Ruhezeit an jede Arbeitsphase anschließen muss und zusätzlich zu einer sich anschließenden wöchentlichen Ruhezeit zu gewährleisten ist. Mangels einer ausdrücklichen Feststellung bleibt hingegen unklar, ob die tägliche Ruhezeit nach Ansicht des EuGH auch zusätzlich vor Beginn eines Urlaubs oder eines Freizeitausgleichs zu gewährleisten ist.

Jedoch würde für ein solches Verständnis sprechen, dass sich die Vorlagefrage auf sämtliche Zeiten von sich anschließender Freizeit bezog und der EuGH die unterschiedlichen Ziele der Ruhezeiten eingehend betont. Wenn mit der wöchentlichen Ruhezeit bereits ein anderes Ziel verfolgt wird als mit der täglichen Ruhezeit (vgl. oben), so können auch weiteren arbeitsfreien Phasen unterschiedliche Erholungszwecke zugesprochen werden: Der Urlaub soll die langfristigere Erholung der Arbeitnehmer von sich regelmäßig wiederholenden Arbeitsphasen über einen längeren Zeitraum, die nur durch die gesetzlichen täglichen und wöchentlichen Ruhezeiten unterbrochen werden, gewährleisten. Der Freizeitausgleich hingegen dient der Erholung von Arbeitsphasen, die über die vertraglich geschuldete Arbeitszeit hinausgehen. In allen Fällen liegt also jeweils eine andere Zielsetzung der arbeitsfreien Zeiten vor. Vor diesem Hintergrund erscheint es – in Anlehnung an die vom EuGH aufgestellten Grundsätze – nur konsequent, dass auch der Urlaub / Freizeitausgleich unterschiedliche Rechte darstellen, die getrennt voneinander zu gewähren sind.

Gegen ein solches Verständnis könnte aber angeführt werden, dass der EuGH explizit nur die tägliche und wöchentliche Ruhezeit als autonome und getrennt voneinander zu gewährleistende Rechte benennt. Ferner könnte argumentiert werden, dass die Erholung als solche – unabhängig von deren konkreten Anlass – sämtlichen arbeitsfreien Phasen immanent ist.

Letztlich bleibt eine endgültige Klärung dieser Frage dem EuGH vorbehalten. Ungeachtet dessen bleibt abzuwarten, ob das BAG an seiner bisherigen Rechtsprechung, nach der sich die tägliche Ruhezeit auch mit einem Urlaub oder Freizeitausgleich überschneiden könne, festhalten wird oder die Entscheidung des EuGH zum Anlass nimmt, diese abzuändern.

Überprüfung der Arbeits- und Ruhezeiten im Unternehmen erforderlich

Insbesondere vor dem Hintergrund, dass Verstöße gegen das Arbeitszeitgesetz mit Bußgeldern von bis zu EUR 30.000 geahndet werden können, sollten Arbeitgeber die Entscheidung des EuGH zum Anlass nehmen, die Einhaltung der arbeitszeitrechtlichen Vorschriften im Unternehmen zu überprüfen:

  • Insbesondere muss gewährleistet werden, dass sich eine tägliche Ruhepause unmittelbar an jede Arbeitsphase anschließt.
  • Zudem sollte darauf geachtet werden, dass die Sonn- und Feiertagsruhe gemäß § 9 ArbZG (wöchentliche Arbeitszeit) eingehalten wird und diese in Kombination mit der (täglichen) Ruhezeit gemäß § 5 ArbZG in einem siebentägigen Zeitraum zu einer ununterbrochenen Gesamtruhezeit von mindestens 35 zusammenhängenden Stunden führt.
  • Risikoscheue Arbeitgeber sollten ferner – jedenfalls bis zu einer klarstellenden Entscheidung – darauf achten, dass die tägliche Ruhezeit auch vor Phasen des Freizeitausgleichs und des Erholungsurlaubs zusätzlich gewährt wird.

* Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Um der leichteren Lesbarkeit willen wird im Beitrag die grammatikalisch männliche Form verwendet.

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