BAG: Übertragung einer (bloßen) Führungsfunktion in einer Matrixorganisation ist zustimmungspflichtige Einstellung in den Betrieb des untergeordneten Arbeitnehmers.
Matrixstrukturen sind weit verbreitet – nicht nur in internationalen Konzernen. Fachliches und disziplinarisches Weisungsrecht werden über Betriebs-, Unternehmens- oder Ländergrenzen getrennt. Dies soll lange Entscheidungswege vermeiden und Effizienz und Flexibilität unter anderem durch kürzere Kommunikationswege sowie leichteren Know-how-Austausch/-Transfer steigern. Unternehmen stehen dabei vor rechtlichen und tatsächlichen Herausforderungen, weil herkömmliche Betriebsstrukturen die moderne Arbeitswelt nicht mehr abbilden.
Das BAG hat sich nun zu der Frage geäußert, ob die Übertragung einer Vorgesetztenfunktion eine Einstellung in den Betrieb der unterstellten Mitarbeiter darstelle und damit der dortige Betriebsrat nach § 99 BetrVG zustimmen müsse.
LAG ging bei Übertragung von Führungsaufgaben bereits von zustimmungspflichtiger Einstellung aus
Bei jeder Einstellung, Eingruppierung, Umgruppierung und Versetzung (sog. personellen Einzelmaßnahmen) muss ein Arbeitgeber mit mehr als 20 Arbeitnehmern den Betriebsrat nach § 99 Abs. 1 BetrVG unterrichten und seine Zustimmung einholen.
Die Landesarbeitsgerichte waren dabei schon bisher von einem sehr weiten Einstellungsbegriff ausgegangen. Die erste Entscheidung zu dieser Problematik erging durch das LAG Baden-Württemberg am 28. Mai 2014 (4 TaBV 7/13). Es hat entschieden, dass bereits die Bestellung zum Vorgesetzten für die Eingliederung in den Betrieb der unterstellten Mitarbeiter ausreiche und eine mitbestimmungspflichtige Einstellung darstelle. Es genüge für eine Einstellung, dass der Matrixvorgesetzte zwei Arbeitnehmer des Betriebes unmittelbar und weitere 17 nachgeordnete Arbeitnehmer mittelbar führe. Dass der Vorgesetzte die Mitarbeiter nicht vor Ort, sondern hauptsächlich über elektronische Kommunikationsmittel steuere, stehe der Einstellung nicht entgegen – Mindestanwesenheitszeiten in dem Betrieb seien nicht erforderlich.
Der Entscheidung des LAG Baden-Württemberg haben sich das LAG Berlin-Brandenburg am 17. Juni 2015 (17 TaBV 277/15) und das LAG Düsseldorf am 10. Februar 2016 (7 TaBV 63/15) vollumfänglich angeschlossen.
Mit der im Verfahren vor dem BAG streitbefangenen Entscheidung vom 20. Dezember 2017 (12 TaBV 66/17) erweiterte das LAG Düsseldorf den Einstellungsbegriff noch weiter. Es entschied, dass eine Einstellung nach § 99 BetrVG keine quantitative und wohl auch keine qualitative Grenze kenne. Jedenfalls sei es ausreichend, wenn der Vorgesetzte, dessen Einstellung in Rede stehe, keine völlig bedeutungslose Führungsaufgabe habe. Im konkreten Fall führte der Vorgesetzte aus der Unternehmenszentrale nur einen Mitarbeiter in dem betreffenden Betrieb, wenn auch einen Abteilungsleiter, dem weitere 35 Mitarbeiter unterstellt waren. Das reichte dem LAG Düsseldorf für eine Einstellung im Betrieb des untergeordneten Abteilungsleiters aus.
BAG: Weiter Einstellungsbegriff – jedoch sind Zustimmungsverweigerungsgründe restriktiv auszulegen
Nunmehr hat sich das BAG (nach der mündlichen Urteilsbegründung) dem weiten Einstellungsbegriff der Landesarbeitsgerichte angeschlossen; eine an sich dringend notwendige Korrektur wird es nicht geben. Wie das BAG dies im Einzelnen begründet, bleibt noch abzuwarten.
Am 12. Juni 2019 (1 ABR 5/18) fand die mündliche Anhörung in der Rechtsbeschwerde gegen die Entscheidung des LAG Düsseldorf vom 20. Dezember 2017 statt. Dabei hat sich das BAG (wohl) dem weiten Einstellungsbegriff der Landesarbeitsgerichte angeschlossen. Allerdings hat das BAG die Zustimmung des Betriebsrates zur betroffenen Einstellung des Arbeitnehmers ersetzt, da kein Zustimmungsverweigerungsgrund vorlag. Es bleibt abzuwarten, wie das BAG seinen Beschluss vor dem Hintergrund der vielfältigen Kritik am überaus weiten Einstellungsbegriff, begründet.
Allerdings besteht Hoffnung für Arbeitgeber, dass trotz des nun erforderlichen Aufwandes bei der Unterrichtung des Betriebsrates häufige Zustimmungsverweigerungen ausbleiben. Das BAG hat nämlich die Zustimmungsverweigerungsgründe restriktiv ausgelegt.
Dabei sind keineswegs nur Matrixorganisationen von der hier vorgestellten Rechtsprechung betroffen. Auch in zahlreichen „herkömmlichen″ Unternehmen, insbesondere solchen mit Filialstrukturen, in denen Führungskräfte aus den Zentralen Vorgesetztenfunktionen in zahlreichen Filialen, Shops, Einkaufsmärkte oder sonstigen Betriebe in der Fläche ausüben, hat die Rechtsprechung Relevanz. Der weite Einstellungsbegriff würde auch dort dazu führen, dass viele Führungskräfte aus den Zentralen in weitere Betriebe eingegliedert wären.
Warum Vorgesetztenfunktionen allein nicht für eine Einstellung ausreichen sollten
Eine Einstellung i.S.d. § 99 Abs. 1 Satz 1 BetrVG liegt nach ständiger Rechtsprechung vor, wenn Personen in den Betrieb eingegliedert werden, um zusammen mit den dort schon beschäftigten Arbeitnehmern dessen arbeitstechnischen Zweck durch weisungsgebundene Tätigkeit zu verwirklichen. Die bisherige weite Auslegung dieses Begriffs durch die Landesarbeitsgerichte geht daher zu weit. Um den Begriff der Eingliederung im Rahmen der Matrixorganisation zutreffend auszufüllen, müssen nach Auslegung des § 99 BetrVG und den Grenzen der Rechtsfortbildung weitere Umstände zu den Kriterien der Landesarbeitsgerichte hinzutreten.
- Solange die Führungskraft nur mit ihrem Weisungsrecht Einfluss auf einen oder mehrere Arbeitnehmer des Betriebes nimmt, ohne darüber hinaus in den Betrieb und seine Arbeitsorganisation eingebunden zu sein, fällt es schon begrifflich schwer, von einer „Einstellung″ zu sprechen. Dies lässt sich mit dem Wortsinn einer „Einstellung″ selbst bei einem weiten Verständnis nicht in Einklang bringen. Das gilt umso mehr, wenn die Führungskraft nur gelegentlich in dem fraglichen Betrieb vor Ort tätig ist und den oder die nachgeordneten Mitarbeiter nur mit einem Bruchteil seiner Arbeitszeit führt.
- Auch unter systematischen Gesichtspunkten wäre eine Eingrenzung des Begriffs der Einstellung geboten. Die Annahme, allein die Vorgesetztenfunktion reiche zur Eingliederung in den Betrieb der nachgeordneten Mitarbeiter aus, würde im Fall von Matrixorganisationen zu einer Eingliederung der Führungskraft in mindestens zwei, typischerweise sogar in eine Vielzahl von Betrieben führen. Das aktive und passive Wahlrecht fällt weniger ins Gewicht; viel gravierender sind die Berechnung der zahlreichen Schwellenwerte, kumulative Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte nicht nur in personellen, sondern auch in sozialen und wirtschaftlichen Angelegenheiten, Zuständigkeitskonflikte und kollidierende Betriebsvereinbarungen.
- Das Betriebsverfassungsgesetz stammt aus einer Zeit in der Weisungs- und Berichtslinien vertikal von oben nach unten verliefen. Moderne Organisationsformen sind aus der heutigen Welt nicht mehr wegzudenken. Das Betriebsverfassungsgesetz muss dabei auch auf neuartige Fallgestaltungen Antworten geben. Dabei sich jedoch stets die Grenzen für die Auslegung von Gesetzen oder für zulässige Analogien zu beachten.
- Der Ansatz sich bei einer Entscheidung über moderne Unternehmensorganisationen nach dem Sinn und Zweck einer Norm zu richten, ist richtig. § 99 BetrVG will einen Ausgleich zwischen den Interessen der vorhandenen Belegschaft einerseits und den Interessen der Person, die zur „Einstellung″ ansteht, sowie denjenigen des Arbeitgebers bei der für richtig gehaltenen Personal- bzw. Organisationsentscheidung andererseits herstellen. Es ist daher zu einseitig, den Begriff der Einstellung nur an den Interessen der Belegschaft des fraglichen Einsatzbetriebes auszurichten.
- Jede Ausweitung eines Mitbestimmungstatbestandes führt zu einer Einschränkung der grundrechtlich geschützten unternehmerischen Entscheidungsfreiheit. Eine extensive Ausweitung des Mitbestimmungsrechts verstößt gegen den Gesetzesvorbehalt des Art. 12 GG. Es ist eine grundrechtskonforme und damit restriktive Auslegung geboten. Je mehr die unternehmerische Entscheidungsfreiheit eingeschränkt wird, umso größer muss das Gewicht der Belange sein, die vom Betriebsrat durchgesetzt werden sollen.
- Die Tätigkeit des Matrixvorgesetzten im fraglichen Einsatzbetrieb sollte auch erheblich sein. In quantitativer Hinsicht lässt sich in Anlehnung an § 12 Abs. 1 Satz 3 TzBfG eine Grenze bei zehn Wochenstunden gut vertreten. Dabei erscheint eine absolute Grenzziehung sachgerechter als eine prozentuale Betrachtung. In qualitativer Hinsicht hält das LAG Düsseldorf es in seiner Entscheidung vom 20. Dezember 2017 (12 TaBV 66/17) für ausreichend, dass die Führungskraft, um deren Einstellung es geht, in dem betreffenden Betrieb eine „nicht völlig bedeutungslose Führungsaufgabe″ habe. Diese deutlich unter der Erheblichkeit liegende Schwelle ist jedoch angesichts des damit verbundenen Eingriffs in die unternehmerische Organisationsfreiheit nicht angemessen.
- Die „teilweise Personalhoheit“ des Betriebsinhabers ist nach zutreffender Auffassung notwendige, aber keineswegs hinreichende Voraussetzung für die Eingliederung der Führungskraft in den fraglichen Betrieb. Dabei kann es sich um die Bindung des Matrixmanagers an Weisungen einer Führungskraft des fraglichen Betriebs, insb. eines etwaigen Betriebsleiters, handeln, oder aber um sonstige Kriterien, die auf eine räumliche oder organisatorische Eingliederung schließen lassen.
Trotz dieser Argumente hat sich das BAG – zumindest nach den Aussagen in der mündlichen Anhörung – dem weiten Einstellungsbegriff der Landesarbeitsgerichte angeschlossen. Jegliche Förderung des arbeitstechnisches Zwecks eines Betriebes aufgrund der ausgeübten Tätigkeit sei für eine Einstellung ausreichend – damit genügt auch die Ausübung einer nicht völlig bedeutungslosen Führungsaufgabe. Die in der Praxis herbeigesehnte Einschränkung des völlig ausgeweiteten Einstellungsbegriffs ist dabei ausgeblieben
Zustimmungsverweigerungsgrund, § 99 Abs. 2 BetrVG
Allerdings lässt das BAG die Arbeitgeber nicht völlig mit seiner extensiven Auslegung des Einstellungsbegriffs allein. Vielmehr ersetzte es in seinem Beschluss vom 12. Juni 2019 (1 ABR 5/18) die Zustimmung des Betriebsrates und entschied, Zustimmungsverweigerungsgründe nach § 99 Abs. 2 BetrVG lägen nicht vor. Der Betriebsrat kann bekanntermaßen die Zustimmung nur aus bestimmten, in § 99 Abs. 2 BetrVG gelisteten Gründen verweigern. Dabei ist insbesondere bemerkenswert, dass das BAG keinen Zustimmungsverweigerungsgrund nach § 99 Abs. 2 Nr. 5 BetrVG (fehlender Ausschreibung des Arbeitsplatzes) angenommen hat. Dieser ist üblicherweise in den geschilderten Fällen von besonderer Relevanz.
Eine Ausschreibung der Stelle im Betrieb, für den die Führungskraft Führungsaufgaben übernimmt, scheint demnach bei der Übertragung von Vorgesetztenfunktionen nicht erforderlich. Das BAG begründete dies im Termin damit, dass im Betrieb, in dem die Führungskraft Führungsaufgaben übernimmt, kein neuer Arbeitsplatz geschaffen werde. Der Arbeitsplatz des Vorgesetzten bleibe vielmehr in seinem Kern nur in der Zentrale. In den Entscheidungsgründen wird daher spannend zu lesen, wie das BAG von einer Einstellung von § 99 Abs. 1 BetrVG ausgeht und dennoch einen Arbeitsplatz für die Führungskraft im Betrieb der ihr unterstellten Mitarbeiter verneint.
Fazit – Viel Aufwand für wenig Verweigerungsmöglichkeit
Das BAG scheint damit die Frage der Einstellung nach § 99 Abs. 1 BetrVG und die Frage des Arbeitsplatzes nach § 99 Abs. 2 Nr. 5 BetrVG unterschiedlich zu beurteilen. Es wäre wünschenswert gewesen, dass der extensive Einstellungsbegriff eingeschränkt würde. Mit dieser Entscheidung kommt nun viel bürokratischer Aufwand auf Arbeitgeber in Matrixorganisationen und Filialstrukturen zu. Jede Übernahme von Führungsaufgaben in einem anderen Betrieb macht nunmehr ein Verfahren nach § 99 BetrVG notwendig. Allerdings hat der Betriebsrat wenig Aussichten, die Zustimmung zu einer solchen „Einstellung″ zu verweigern. Er kann sie nicht mehr auf eine fehlende Ausschreibung stützen. Wichtig ist daher für den Arbeitgeber, das Verfahren ordnungsgemäß durchzuführen, insbesondere eine vollständige und richtige Unterrichtung des Betriebsrates vorzunehmen.