Das Kurzarbeitergeld ist für Arbeitgeber eine wichtige Unterstützung. Aber es lauern auch Haftungsrisiken, die auf den ersten Blick kaum zu erkennen sind.
Arbeitnehmer* haben bei einem erheblichen Arbeitsausfall mit Entgeltausfall Anspruch auf Kurzarbeitergeld (§ 95 S. 1 SGB III). Während der Covid-19-Pandemie war das Kurzarbeitergeld ein wichtiges Mittel, um Arbeitgeber finanziell zu entlasten und Arbeitnehmer finanziell abzusichern. Denn viele Unternehmen hatten aufgrund der Pandemie mit Auftragsrückgängen und in der Folge mit teilweise erheblichen Umsatzeinbrüchen zu kämpfen. Es hätten zahlreiche Arbeitsplätze (mehr) auf dem Spiel gestanden, hätte nicht die Agentur für Arbeit über das Kurzarbeitergeld einen Großteil des Arbeitsentgelts getragen.
Beim Kurzarbeitergeld drohen Arbeitgebern Haftungsrisiken
Ein aktueller Fall zeigt, dass das Kurzarbeitergeld für Arbeitgeber auch Haftungsrisiken birgt. Das Problem: Der Anspruch auf das Kurzarbeitergeld steht dem Arbeitnehmer persönlich zu (§ 95 S. 1 SGB III).
Den Antrag auf Gewährung dieser Leistung kann aber nur der Arbeitgeber oder die Betriebsvertretung, d.h. der Betriebs- oder der Personalrat, stellen (§ 323 Abs. 2 S. 1 und 2 SGB III); man spricht von Verfahrensstandschaft (BSG, Urteil v. 25. Mai 2005 – B 11a/11 AL 15/04 R). Den Bescheid, mit dem sie über den Antrag entscheidet, gibt die Agentur für Arbeit nur dem Arbeitgeber oder der Betriebsvertretung bekannt (vgl. § 99 Abs. 3 SGB III). Daher kann Widerspruch und Anfechtungsklage gegen den Bescheid nur der Arbeitgeber oder die Betriebsvertretung einlegen, sog. Prozessstandschaft (BSG, Urteil v. 25. Mai 2005 – B 11a/11 AL 15/04 R).
Der Arbeitnehmer erlangt von dem Bescheid, obwohl er seinen Anspruch betrifft, regelmäßig keine Kenntnis. Denn die Auszahlung des Kurzarbeitergelds obliegt dem Arbeitgeber (§ 320 Abs. 1 SGB III); man spricht hier von öffentlich-rechtlicher Indienstnahme, weil sich die Agentur für Arbeit bei der Auszahlung des Geldes des Arbeitsgebers bedient.
Die Beklagte entlohnte Mehrarbeitsstunden unterschiedlich
Die Klägerin im entschiedenen Fall ist seit November 2000 Kassenmitarbeiterin. Ihr Arbeitsvertrag sieht eine regelmäßige monatliche Arbeitszeit von 86 Stunden vor. Nach dem anwendbaren Tarifvertrag wird für jede Stunde Mehrarbeit die Grundvergütung nebst einem Zuschlag von 25 % gezahlt.
Begann das Arbeitsverhältnis nach Juli 2001, liegt nach dem Tarifvertrag Mehrarbeit aber erst vor, wenn der Arbeitnehmer monatlich mehr als 173 Stunden arbeitet. Es gibt neben der Klägerin eine weitere Kassenmitarbeiterin, die vor Juli 2001 eingestellt wurde. Alle anderen Mitarbeiter nahmen ihre Tätigkeit nach Juli 2001 auf. Sämtliche Arbeitsverträge sehen eine regelmäßige monatliche Arbeitszeit von 86 Stunden vor. Alle Beschäftigten leisteten monatlich regelmäßig über 86 Stunden, wobei die beklagte Arbeitgeberin bei der Entlohnung differenzierte:
- Die Klägerin und die zweite vor 2001 eingestellte Kassenmitarbeiterin erhielten den Mehrarbeitszuschlag ab der 87. Stunde.
- Alle anderen Arbeitnehmer erhielten den Mehrarbeitszuschlag erst ab der 174. Stunde.
Die Beklagte berücksichtigte beim Kurzarbeitergeld der Klägerin nur 86 Monatsstunden
Im März 2020 wurde bei der Beklagten Kurzarbeit „null“ eingeführt. Die Beklagte schloss mit dem Betriebsrat zu diesem Zweck eine Betriebsvereinbarung. Sie sah vor, dass die Beklagte das Kurzarbeitergeld für Mitarbeiter, die den allgemeinen Leistungssatz von 60 % (§ 105 Nr. 2 SGB III) erhielten, auf 85 % der Nettoentgeltdifferenz i.S.d. § 106 SGB III aufstockte. Als die Beklagte für die Antragstellung bei der Agentur für Arbeit das Kurzarbeitergeld berechnete, legte sie bei den nach Juli 2001 eingestellten Beschäftigten deren Durchschnittsverdienst der letzten drei Monate und damit das Entgelt für mehr als 86 Monatsstunden zugrunde, bei der Klägerin aber ebenfalls nur das Entgelt für 86 Monatsstunden.
Das begründete sie damit, dass ein Überschreiten der 86 Monatsstunden nicht in beiden Fällen Mehrarbeit gewesen sei. Für die nach Juli 2001 eingestellten Beschäftigten sei die Arbeitszeit ab der 87. Monatsstunde keine Mehrarbeit im Rechtssinne gewesen, weil bei ihnen nach dem Tarifvertrag Mehrarbeit erst vorliege, wenn sie monatlich mehr als 173 Stunden arbeiteten. Für die Klägerin aber sei jede über 86 Monatsstunden hinausgehende Arbeitsstunde Mehrarbeit gewesen. Daher habe sie, so die Beklagte, differenzieren müssen:
- Nach § 106 Abs. 1 S. 2 SGB III sei Bemessungsgrundlage für das Kurzarbeitergeld das Entgelt, das der Arbeitnehmer ohne den Arbeitsausfall bezogen hätte, aber ohne das Entgelt für Mehrarbeit.
- Abweichend hiervon bestimme § 106 Abs. 4 S. 1 SGB III, dass, wenn sich das ohne den Arbeitsausfall erzielte Arbeitsentgelt nicht hinreichend bestimmt feststellen lasse, der Durchschnittsverdienst der letzten drei Monate Bemessungsgrundlage für das Kurzarbeitergeld sei.
Für die Klägerin lasse sich das ohne den Arbeitsausfall erzielte Entgelt feststellen, weil ihre vertragliche Arbeitszeit (nur) 86 Monatsstunden betrage, denn jede weitere Stunde sei nach dem Tarifvertrag Mehrarbeit im Rechtssinne gewesen. Somit gelte für sie § 106 Abs. 1 S. 2 SGB III, sodass ihre Mehrarbeitsstunden bei der Berechnung des Kurzarbeitergelds nicht berücksichtigt werden könnten.
Für die nach Juli 2001 eingestellten Arbeitnehmer lasse sich das ohne den Arbeitsausfall erzielte Entgelt nicht feststellen, weil bei ihnen die über 86 Monatsstunden hinausgehenden Stunden nach dem Tarifvertrag keine Mehrarbeit im Rechtssinne gewesen seien. Somit gelte für sie § 106 Abs. 4 S. 1 SGB III, sodass bei der Berechnung auf den Durchschnittsverdienst der letzten drei Monate abzustellen sei.
LAG Hamm: Kurzarbeitergeld hängt von regelmäßiger Arbeitszeit ab
Die Klägerin war anderer Ansicht. Sie meinte, auch bei ihr sei der Durchschnittsverdienst der letzten drei Monate und damit das Entgelt für 144,15 Monatsstunden Bemessungsgrundlage für das Kurzarbeitergeld.
Das LAG Hamm (Urteil v. 12. Oktober 2022 – 2 Sa 184/21) gab ihr Recht: Zwar habe sie keinen Anspruch auf ein höheres Kurzarbeitergeld, weil die Bescheide der Agentur für Arbeit, in denen ihr Kurzarbeitergeld auf den geringeren Betrag festgesetzt worden sei, bestandskräftig geworden seien. Die Klägerin könne den Mehrbetrag von der Beklagten aber als Schadensersatz verlangen. Denn die Beklagte habe bei der Beantragung des Kurzarbeitergelds falsche Angaben zu dem Entgelt gemacht, das die Klägerin ohne den Arbeitsausfall bezogen hätte, und so bewirkt, dass die Agentur für Arbeit ein zu niedriges Kurzarbeitergeld festgesetzt habe. Die Beklagte müsse daher die Klägerin so stellen, wie sie stünde, wenn sie der Agentur für Arbeit richtige Angaben gemacht hätte (§§ 280 Abs. 1, Abs. 3, 283 S. 1, 252 BGB).
Die Beklagte habe der Agentur für Arbeit mitteilen müssen, dass die regelmäßige Arbeitszeit der Klägerin Schwankungen unterworfen sei, daher § 106 Abs. 4 S. 1 SGB III gelte und die Klägerin in den drei Monaten vor der Kurzarbeit im Durchschnitt 144,15 Monatsstunden gearbeitet habe. Denn die Ansicht der Beklagten, jede über 86 Stunden hinausgehende Stunde sei Mehrarbeit gewesen, sei unvertretbar. Für die Abgrenzung zwischen regelmäßiger Arbeit und Mehrarbeit komme es nicht auf die Regelung im Arbeitsvertrag, sondern auf die tatsächliche Handhabung an, und tatsächlich habe die Klägerin in all den Jahren jeden Monat weit mehr als 86 Monatsstunden gearbeitet.
LAG Hamm ließ die Revision zum BAG zu
Das Verfahren ist nun beim 5. Senat des BAG unter dem Az. 5 AZR 360/22 anhängig. Der 8. Senat verwarf jüngst in einem gleichgelagerten Fall eine Nichtzulassungsbeschwerde als unzulässig (BAG, Beschluss v. 18. Januar 2023 – 8 AZN 618/22). Die Entscheidung des 8. Senats ist nicht veröffentlicht, was dafür spricht, dass sie ohne Begründung erging. Das wiederum ist ein Indiz dafür, dass es in jenem Fall der Arbeitgeberin (sie hatte in beiden Instanzen verloren) nicht gelungen war, Rechtsfehler im Urteil der Vorinstanz (LAG Berlin-Brandenburg, Urteil v. 26. August 2022 – 12 Sa 297/22) aufzudecken.
Praxistipp: Arbeitgeber und Arbeitnehmer können sich bei der Beantragung von Kurzarbeitergeld abstimmen
Arbeitgeber sollten bei der Beantragung von Kurzarbeitergeld sehr vorsichtig sein, wenn unklar ist, was die Bemessungsgrundlage ist. Das Dilemma ist, dass gegen den Bescheid der Agentur für Arbeit nur binnen eines Monats Widerspruch erhoben werden kann (§ 84 Abs. 1 S. 1 SGG), der Arbeitnehmer aber wegen der dreijährigen Verjährungsfrist (§ 195 BGB) noch Jahre später Schadensersatz verlangen kann. Der Arbeitgeber sollte daher in Zweifelsfällen mit dem Arbeitnehmer abstimmen, welche Angaben der Agentur für Arbeit übermittelt werden, im Antrag an die Agentur notfalls offenlegen, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer unterschiedlicher Ansicht sind, und dem Arbeitnehmer anbieten, dass er gegen den Bescheid der Agentur für Arbeit Widerspruch und notfalls Klage erhebt, wenn der Arbeitnehmer die Anwalts- und Gerichtskosten trägt. Anders geht es nicht, weil der Arbeitnehmer selbst weder zur Einlegung des Widerspruchs noch zur Erhebung der Klage befugt ist.
*Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Um der leichteren Lesbarkeit willen wird im Beitrag die grammatikalisch männliche Form verwendet.