6. Oktober 2020
SE Umwandlung Sitzgarantie
Arbeitsrecht

Sitzgarantie für Gewerkschaften im Aufsichtsrat einer SE europarechtskonform?

Der EuGH wird den Umfang des Gestaltungsspielraums bei der Vereinbarung der Unternehmensmitbestimmung im Rahmen einer SE-Gründung durch Umwandlung näher klären.

Eine Societas Europaea (SE) kann auf vier verschiedene Arten gegründet werden. Möglich ist die Gründung der SE durch Verschmelzung, Gründung einer Holding-SE, Gründung einer Tochter-SE sowie der Gründung im Wege der formwechselnden Umwandlung (vgl. Art. 2 -VO).

Für die Mitbestimmung der Arbeitnehmer* auf Unternehmensebene gilt bei einer SE grundsätzlich das sog. „Vorher-Nachher-Prinzip″. Dies bedeutet, dass nach der gesetzlichen Auffanglösung die vor der Gründung von den Arbeitnehmern erworbenen Mitbestimmungsrechte geschützt und als Mindeststandard in der SE verankert werden (vgl. § 35 SEBG).

Regelung der Mitbestimmung in der SE durch Beteiligungsvereinbarung

Dieses „Vorher-Nachher-Prinzip″ gilt allerdings nicht ausnahmslos, sondern die gesetzliche Auffangregelung kommt primär zum Einsatz, wenn es nicht gelingt, in dem bei Gründung der SE durchzuführenden Arbeitnehmerbeteiligungsverfahren eine Vereinbarung mit den Arbeitnehmern über die künftige Mitbestimmung der Arbeitnehmer in der SE abzuschließen (sog. Beteiligungsvereinbarung gemäß § 21 SEBG). Gelingt es den an der Gründung beteiligten Unternehmen dagegen mit den hierfür gewählten bzw. bestellten Arbeitnehmervertretern (dem sog. besonderen Verhandlungsgremium, BVG) im Gründungsverfahren eine Beteiligungsvereinbarung abzuschließen, enthält diese Beteiligungsvereinbarung auch die Vorgaben für die Mitbestimmung der Arbeitnehmer auf Unternehmensebene in der SE. Ob in einer Beteiligungsvereinbarung dabei das Niveau der Mitbestimmung, welches vor der SE-Gründung bestand, abgesenkt werden kann (sofern das BVG dem zustimmt), ist danach zu beurteilen, auf welche Weise die SE im konkreten Fall gegründet wird.

Keine Absenkung des Mitbestimmungsniveau bei SE-Gründung durch Umwandlung

Während bei den Gründungsformen Verschmelzung, Tochter-SE und Holding-SE eine Absenkung des vorherigen Mitbestimmungsniveaus durch eine Beteiligungsvereinbarung rechtlich möglich wäre, ist dies bei der Gründung einer SE durch formwechselnde Umwandlung nicht der Fall. Hier heißt es schon in der europäischen Richtlinie zur Arbeitnehmerbeteiligung in der SE, dass in der Beteiligungsvereinbarung (vgl. Art. 4 Abs. 4 RL 2001/86/EG)

im Falle einer durch Umwandlung gegründeten SE in Bezug auf alle Komponenten der Arbeitnehmerbeteiligung zumindest das gleiche Ausmaß gewährleistet werden, das in der Gesellschaft besteht, die in eine SE umgewandelt werden soll.

Diese Vorgabe ist durch § 21 Abs. 6 SEBG, der den Text der Richtlinie fast wortlautgetreu wiedergibt, in das deutsche Recht umgesetzt. Dieses Verschlechterungsverbot beruht auf dem Gedanken, dass bei der Gründung einer SE durch Umwandlung, bei der sich die Identität der Belegschaft nicht verändert, ein strenger Bestandsschutz erforderlich ist, um eine „Flucht aus der Mitbestimmung″ zu verhindern.

Umfang des Mitbestimmungsschutzes ungeklärt

Nicht abschließend geklärt ist bislang, welche Reichweite der Schutz des Mitbestimmungsniveaus über § 21 Abs. 6 SEBG hat. Unzweifelhaft ist zunächst, dass das vor der Umwandlung in die SE geltende Mitbestimmungsstatut in qualitativer Hinsicht übernommen werden muss. Dies bedeutet, dass die proportionale Beteiligung der Arbeitnehmer im Aufsichts- oder Verwaltungsorgan der SE nicht verändert werden kann. War der Aufsichtsrat vor der Gründung der SE bspw. mit einer gleichen Anzahl von Anteilseignervertretern und Arbeitnehmervertretern besetzt (sog. paritätische Mitbestimmung nach dem MitbestG), muss diese Gleichzahl in der SE aufrecht erhalten bleiben. Nicht in Gänze geklärt ist allerdings, inwieweit weitere Komponenten des deutschen Mitbestimmungsrechts nach der Umwandlung der Gesellschaft in eine SE beibehalten werden müssen.

Zum Sachverhalt der EuGH-Vorlage: In wieweit müssen Rechte von Gewerkschaften, die sich aus dem MitbestG ergeben, auch nach der Umwandlung in eine SE gelten

Im vorliegenden Fall, den das BAG nun dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt hat (vgl. BAG, Beschluss v. 18. August 2020 – 1 ABR 43/18 (A)), geht es darum, inwieweit Rechte von Gewerkschaften, die sich aus dem MitbestG ergeben, auch nach der Umwandlung in eine SE gelten müssen.

Die an der Umwandlung beteiligte Gesellschaft ist vorliegend eine Aktiengesellschaft deutschen Rechts, bei der die Vorschriften des MitbestG galten. Es war ein 16-köpfiger Aufsichtsrat gebildet worden, der paritätisch besetzt war. Unter den Aufsichtsratsmitgliedern der Arbeitnehmer waren gemäß den gesetzlichen Vorgaben zwei Gewerkschaftsvertreter. Im Jahr 2014 wurde die Gesellschaft in eine dualistische SE umgewandelt. Sie verfügt derzeit über einen 18-köpfigen paritätisch besetzten Aufsichtsrat. Ein Teil der auf die Arbeitnehmer entfallenen Sitze im Aufsichtsrat ist für von den Gewerkschaften vorgeschlagene und von den Arbeitnehmern zu wählenden Personen reserviert. Die Beteiligungsvereinbarung sieht allerdings die Möglichkeit einer Verkleinerung des Aufsichtsrats auf 12 Mitglieder vor. In diesem Fall kann die Gewerkschaft zwar Wahlvorschläge für die Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer unterbreiten, ein getrennter Wahlgang findet aber nicht statt. Die Folge ist, dass den Gewerkschaften keine Sitze im Aufsichtsrat der SE garantiert sind, da Gewerkschaftsvertreter nicht gewählt werden müssen.

Eine in der SE vertretene Gewerkschaft hält diese Regelung der Beteiligungsvereinbarung für unwirksam, da sie gegen das Verschlechterungsverbot in § 21 Abs. 6 SEBG verstoße. In den ersten beiden Instanzen war die Gewerkschaft erfolglos. Der Antrag wurde jeweils zurückgewiesen, ein Verstoß gegen das Verschlechterungsverbot nicht angenommen.

LAG Baden-Württemberg: Sitzgarantie der Gewerkschaften nicht vom Verschlechterungsverbot erfasst

Das LAG Baden-Württemberg (Beschluss v. 9. Oktober 2018 – 19 TaBV 1/18) argumentierte, dass bereits der Wortlaut des § 21 Abs. 6 SEBG gegen einen umfassenden Bestandsschutz für sämtliche Gewerkschaftsrechte aus dem MitbestG spreche, da lediglich von einer „Arbeitnehmerbeteiligung″ die Rede sei. Auch die Vorgaben der europäischen Richtlinie stünden dem nicht entgegen, da diese keine zwingende Vertretung von Gewerkschaften im Aufsichtsrat vorsähen. Darüber hinaus begründete das LAG seine Entscheidung mit dem Sinn und Zweck des Verschlechterungsverbots. Dieses solle einerseits Mindestanforderungen für die Mitbestimmung sichern, andererseits aber dem Gedanken der SE-Mitbestimmung nicht zuwiderlaufen, dass die Beteiligungsrechte der Arbeitnehmer durch autonome Vereinbarungen gesichert werden.

Vorabentscheidungsersuchen des BAG: Gesondertes Auswahlverfahren für von Gewerkschaften vorgeschlagene Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer?

Der Pressemitteilung des BAG (Nr. 27/20 vom 18. August 2020) ist nun zu entnehmen, dass sich das BAG der Argumentation des LAG Baden-Württemberg nicht ohne Weiteres anschließen möchte.

Stattdessen hat der Erste Senat des BAG den EuGH angerufen und um Klärung der Frage gebeten, ob § 21 Abs. 6 SEBG bei der Gründung einer SE durch Umwandlung einer paritätisch mitbestimmten Aktiengesellschaft vorgibt, dass in der Beteiligungsvereinbarung zur Mitbestimmung ein gesondertes Auswahlverfahren für von Gewerkschaften vorgeschlagene Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer zu gewährleisten ist.

Bis zur Entscheidung des EuGH über das Vorabentscheidungsersuchen wird das Rechtsbeschwerdeverfahren ausgesetzt.

Die Entscheidung des EuGH bleibt abzuwarten

Mit Spannung kann erwartet werden, wie sich der EuGH hier positionieren wird. Im Kern geht es darum, wie die Vorgaben der Richtlinie auszulegen sind und was insbesondere unter „alle Komponenten der Arbeitnehmerbeteiligung″ zu verstehen ist, da in Bezug auf diese Komponenten das „gleiche Ausmaß″ in der Beteiligungsvereinbarung zu gewährleisten ist.

Zu hoffen bleibt, dass der EuGH diesen Bestandsschutz auf ein einheitliches europarechtlich gebotenes Mindestmaß beschränkt und nicht vorsehen wird, dass auch sämtliche nationale Besonderheiten, die vor der Umwandlung gegolten haben, in der SE fortgelten müssen. Dies würde dem Grundgedanken des Mitbestimmungsrechts der SE unseres Erachtens nicht gerecht werden.

In einer SE als europäische Rechtsform soll ein Mitbestimmungssystem gelten, das vorrangig zwischen Leitung und Arbeitnehmervertretern einvernehmlich im Rahmen einer Beteiligungsvereinbarung festgelegt wird und von nationalen Vorgaben für die Mitbestimmung grundsätzlich losgelöst ist. Nationale Eigenheiten sollen nicht ohne weiteres in der SE fortgeschrieben werden. Je stärker aber Eigenheiten der nationalen Mitbestimmungssystem für die SE im Rahmen einer Umwandlung unabdingbar gelten, desto stärker wird die Idee einer einheitlichen europäischen Mitbestimmung geschwächt. Es bleibt daher zu hoffen, dass der EuGH dem Grundgedanken der europäischen Mitbestimmung Rechnung trägt, dass zwischen Leitung und Arbeitnehmervertretern ein für den Einzelfall möglichst „passgenaues″ Mitbestimmungssystem vereinbart wird.

Da die Leitung nicht in der Lage ist, einseitig ein Mitbestimmungssystem gegen den Willen der Arbeitnehmervertreter im BVG durchzusetzen, könnte von Seiten der Rechtsprechung berechtigt darauf vertraut werden, dass die Regelungen einer Beteiligungsvereinbarung einen im Einzelfall angemessenen Ausgleich der beiderseitigen Interessen darstellen. Wenn die Arbeitnehmervertreter im BVG keine für die Gewerkschaften garantierten Sitze im Aufsichtsrat der SE für erforderlich erachten, dürfte es hierfür aus Sicht der Arbeitnehmervertreter gute Gründe geben. Es ist nicht erforderlich, dass diese von der Rechtsprechung „vor sich selbst geschützt″ werden.

* Gemeint sind Beschäftigte jeder Geschlechtsidentität. Lediglich der leichteren Lesbarkeit halber wird künftig bei allen Bezeichnungen nur noch die grammatikalisch männliche Form verwendet.

Tags: Aufsichtsrat Gewerkschaft Mitbestimmung SE Sitzgarantie Umwandlung