13. Februar 2024
Sozialauswahl Restabwicklung
Arbeitsrecht

Sozialauswahl bei Restabwicklungsarbeiten 

Bei einer etappenweisen Betriebsstilllegung – auch wenn es „nur“ um die Restbelegschaft für Abwicklungsarbeiten geht – muss eine Sozialauswahl erfolgen. 

Das Landesarbeitsgericht (LAG) Düsseldorf hat in seinem Urteil v. 9. Januar 2024 (3 Sa 529/23) zur etappenweisen Betriebsstilllegung Folgendes entschieden: Der Arbeitgeber habe bei seiner Entscheidung, welche Arbeitnehmer er mit Abwicklungsarbeiten betraut, die Grundsätze der Sozialauswahl gemäß § 1 Abs. 3 KSchG zu beachten. Die Vergleichsgruppenbildung müsse sich dabei an der im Abwicklungsteam übernommenen und nicht an der ursprünglich ausgeübten Tätigkeit orientieren. 

Darüber hinaus schließt sich das LAG der Rechtsauffassung des 6. Senats des Bundesarbeitsgerichts (BAG) an. Dieser beabsichtigt in Anwendung der Rechtsprechung des EuGH einen Kurswechsel der bisherigen Rechtsprechung. Danach sollen Fehler im Anzeigeverfahren nach den §§ 17 ff. KSchG nicht mehr zur Unwirksamkeit der Kündigungen führen. Die Divergenzanfrage wegen Abweichung von der Rechtsprechung des 2. Senats steht noch zur Entscheidung. Der 2. Senat hat hierzu nun erneut den EuGH angefragt (vgl. hierzu BAG, 2 AS 22/23).

Sachverhalt: Etappenweise Betriebsstilllegung aufgrund von Restabwicklungsarbeiten 

Der Entscheidung des LAG lag eine Kündigungsschutzklage zugrunde. Die Beklagte war Herstellerin und Vertreiberin von Aluminiumgussteilen und beschäftigte zuletzt knapp 600 Arbeitnehmer. Nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens wurde die Geschäftstätigkeit zum 31. Dezember 2022 eingestellt. Bereits zum 1. Januar 2023 wurde ein Großteil der Arbeitnehmer, dem auch der Kläger angehörte, freigestellt, während 53 Arbeitnehmer als Teil eines „Abwicklungsteams“ weiterarbeiteten. 13 der Arbeitnehmer dieses Abwicklungsteams wurde zum 31. März 2023 und den verbleibenden 40 zum 30. Juni 2023 gekündigt. Das Arbeitsverhältnis des Klägers kündigte die Beklagte zum 31. März 2023. Insgesamt betrachtet kam es also aufgrund der Restabwicklungsarbeiten zu einer etappenweisen Betriebsstilllegung mit zwei Beendigungsterminen. Der Kläger erhob Kündigungsschutzklage.

Vergleichsgruppenbildung und Sozialauswahl bei etappenweiser Betriebsstillegung

Das LAG bestätigte die Vorinstanz (ArbG Solingen, Urteil v. 13. April 2023 – 3 Ca 126/23, n.v.) und stellte aufgrund fehlerhafter Sozialauswahl die Unwirksamkeit der Kündigung fest. Auch bei einer etappenweisen Betriebsstilllegung habe der Arbeitgeber die Grundsätze der Sozialauswahl zu beachten. Dieser habe keine freie Auswahl, wem er früher oder später kündige. Es seien grundsätzlich die sozial schutzwürdigsten Arbeitnehmer mit den Abwicklungsarbeiten zu beschäftigen. 

Die Beklagte habe die Vergleichsgruppen falsch gebildet und daher die Sozialauswahl methodisch fehlerhaft durchgeführt. Denn sie hatte die Vergleichsgruppe allein anhand der ursprünglich ausgeübten Tätigkeiten bestimmt. Richtigerweise hätten die Vergleichsgruppe jedoch anhand der Tätigkeiten gebildet werden müssen, die noch im Abwicklungsteam anfielen. Dabei sei entscheidend zu berücksichtigen, welche Arbeitnehmer für die noch anfallenden Abwicklungsarbeiten geeignet gewesen wären. 

Die Voraussetzungen für betriebsbedingte Kündigungen 

Zunächst setzen betriebsbedingte Kündigungen gem. § 1 Abs. 2 KSchG voraus, dass dringende betriebliche Erfordernisse vorliegen, die die Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers im betroffenen Betrieb oder in einem anderen Betrieb des Unternehmens dauerhaft entgegenstehen. 

Ein dringendes betriebliches Erfordernis kann sich aus externen Faktoren wie Auftragsmangel oder Umsatzrückgang mit entsprechender Umsetzungsentscheidung des Arbeitgebers, aber auch aus internen Gründen wie Umstrukturierungen oder Organisationsänderungen, ergeben. Der Beschäftigungsbedarf muss dauerhaft entfallen. Dies hat der Arbeitgeber im Falle eines Kündigungsschutzprozesses im Einzelnen darzulegen und nachzuweisen. Zudem darf kein anderer freier Arbeitsplatz im Betrieb oder in einem anderen Betrieb des Unternehmens existieren, auf dem der Arbeitnehmer – ggf. nach zumutbaren Umschulungs- oder Fortbildungsmaßnahmen (oder auch Änderung der Arbeitsbedingungen – ggf. auch im Wege der Änderungskündigung) – weiterbeschäftigt werden könnte. 

Der Arbeitgeber hat nach Durchführung der Sozialauswahl gem. § 1 Abs. 3 KSchG den sozial am wenigsten schutzwürdigen Arbeitnehmern zu kündigen. Das Auswahlverfahren erfolgt in zwei Schritten: Im ersten Schritt ist die Vergleichsgruppe zu bilden. Denn in die Sozialauswahl sind nur solche Arbeitnehmer einzubeziehen, die nach arbeitsplatzbezogenen Kriterien vergleichbar sind. Die Vergleichbarkeit bestimmt sich anhand des Arbeitsvertrags und der ausgeübten Tätigkeit. Arbeitnehmer sind vergleichbar, wenn ihnen der jeweils andere Arbeitsplatz im Rahmen des Direktionsrechts zugewiesen werden kann (sog. arbeitsplatzbezogene Vergleichbarkeit). Zudem ist die Vergleichbarkeit auf dieselbe Hierarchieebene beschränkt (sog. horizontale Vergleichbarkeit). In einem zweiten Schritt ist innerhalb dieser Vergleichsgruppe die Sozialauswahl nach den in § 1 Abs. 3 KSchG benannten Kriterien (Betriebszugehörigkeit, Lebensalter, Unterhaltspflichten, Schwerbehinderung) vorzunehmen. Dabei genießt keines der Kriterien Vorrang. Bei der Gewichtung steht dem Arbeitgeber ein Beurteilungs- und Wertungsspielraum zu. 

Sozialauswahl bei etappenweiser Betriebsstillegung

Ergibt sich bei einer Betriebsstilllegung, dass nach der eigentlichen Einstellung der Aktivitäten noch Restabwicklungsarbeiten durchzuführen sind, reichen hierzu in der Regel weniger Mitarbeiter aus. Hierdurch kommt es zu einem etappenweisen Abbau von Arbeitsplätzen. Der Arbeitgeber hat eine Sozialauswahl vorzunehmen, auch wenn nur noch befristete Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten bestehen (LAG Hamm, Urteil v. 8. Oktober 2021 – 16 Sa 374/21). Dies entspricht dem Sinn und Zweck des Kündigungsschutzgesetzes, den von einer Betriebsstilllegung betroffenen Arbeitnehmern die Arbeitsplätze so lange wie möglich zu erhalten, auch wenn es sich möglicherweise nur um eine befristete Arbeitsmöglichkeit handelt (BAG, Urteil v. 16. September 1982 – 2 AZR 271/80). Die Arbeitnehmer mit der größten sozialen Schutzbedürftigkeit sind daher grundsätzlich mit den Restarbeiten zu beschäftigen und scheiden demgemäß zuletzt aus dem Betrieb aus (BAG, Urteil v. 10. Januar 1994 – 2 AZR 50/92).

Dies gilt auch, wenn sich die Etappen nur dadurch ergeben, dass noch Aufräum- und Restabwicklungsarbeiten zu erfüllen sind. Das LAG macht hier deutlich, dass dann nicht nur auf die bisher ausgeübte Tätigkeit abgestellt werden kann. Vielmehr ist für die Frage, wer in die Vergleichsgruppe einzubeziehen ist, auch entscheidend, welche Qualifikationen für die Aufräum- und Restabwicklungsarbeiten erforderlich sind. 

Zusätzliche Anforderungen aufgrund Vorliegens einer Massenentlassung

Betriebe ab 20 regelmäßig Beschäftigten müssen zudem die Regelungen der §§ 17 ff. KSchG zum Massenentlassungsverfahren beachten, sofern die Anzahl der zu beendenden Beschäftigungsverhältnisse innerhalb von 30 Tagen die in § 17 KSchG genannten Schwellenwerte überschreitet. Die Vorschriften zum Massenentlassungsverfahren sehen Informations- und Konsultationspflichten gegenüber einem etwaig bestehenden Betriebsrat vor (sog. Konsultationsverfahren), sowie Mitteilungs- und Anzeigepflichten des Arbeitgebers gegenüber der (zuständigen) Agentur für Arbeit (sog. Anzeigeverfahren).

Das LAG Düsseldorf schließt sich in seiner Entscheidung der aktuellen Rechtsprechung des 6. Senats des BAG an. Danach führen Fehler im Anzeigeverfahren nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung. Dies ist insofern interessant, als nach bisheriger Rechtsprechung des BAG Fehler im Verfahren der Massenentlassungsanzeige die Unwirksamkeit der Kündigung zur Folge hatten (vgl. BAG, Urteil v. 22. November 2012 – 2 AZR 371/11; BAG, Urteil v. 13. Februar 2020 – 6 AZR 146/19). 

Allerdings möchte der 6. Senat des BAG – auf Basis der Rechtsprechung des EuGH (2. Kammer, Urteil v. 13. Juli 2023 – C-134/22) – von dieser strengen Rechtsfolge nunmehr abweichen. Die Nichtigkeit der ausgesprochenen Kündigungen sei die falsche Rechtsfolge für Fehler im Anzeigeverfahren. Dem 6. Senat liegen derzeit drei Verfahren vor, bei denen den Arbeitgebern unterschiedliche Fehler im Anzeigeverfahren unterlaufen waren. Bevor jedoch der 6. Senat in diesen Verfahren Urteile unter Berücksichtigung seiner neuen Rechtsauffassung fällen kann, muss zunächst der 2. Senat des BAG (oder der ggf. zu bildende Große Senat) der sich daraus ergebenden Rechtsprechungsänderung zustimmen. Dieser hat die Rechtsfrage nunmehr allerdings (erneut) dem EuGH vorgelegt (BAG, 2 AS 22/23). Umso beachtlicher ist die (aus unserer Sicht zutreffende) Würdigung des LAG Düsseldorf zur Massenentlassung. Hierauf kam es in der konkreten Entscheidung letztlich nicht an, da die Wirksamkeit der Kündigung bereits an der fehlerhaften Sozialauswahl scheiterte.

Von der sich ankündigenden obergerichtlichen Rechtsprechungsänderung unberührt bleibt hingegen der Umgang mit Fehlern im Konsultationsverfahren. So wies der 6. Senat in seiner Divergenzanfrage ausdrücklich darauf hin, dass die bisherige Rechtsprechung zu Fehlern des Arbeitgebers im Konsultationsverfahren Fortbestand haben soll. Damit werden Fehler bei der Beteiligung des Betriebsrats weiterhin zur Unwirksamkeit der ausgesprochenen Kündigungen führen.

Fazit

Für die betriebsbedingte Kündigung bestehen hohe rechtliche Hürden. Auch wenn die Stilllegung des gesamten Betriebs bereits absehbar ist, hat der Arbeitgeber bei einem etappenweisen Stellenabbau die gesetzlichen Vorgaben der Sozialauswahl einzuhalten. Bereits die fehlerhafte Vergleichsgruppenbildung führt zur Unwirksamkeit der Kündigung. 

Mit Blick auf die nach wie vor unklare Rechtslage zu Fehlern im Anzeigeverfahren nach § 17 ff. KSchG sind Arbeitgeber gut beraten, auch die Einhaltung dieser Vorgaben sicherzustellen. 

* Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Um der leichteren Lesbarkeit willen wird im Beitrag die grammatikalisch männliche Form verwendet.

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