Welche Stolpersteine drohen, wenn einige Arbeitnehmer noch nach der Betriebsstilllegung für Abwicklungsarbeiten benötigt werden, zeigt der Fall Air Berlin.
Als Air Berlin im November 2017 Insolvenz anmeldete, war das Schicksal der rund 6.000 Arbeitnehmer eine der in der Presse am meisten diskutierten Fragen. Bereits ein halbes Jahr später hatten etwa 3.000 von ihnen einen neuen Arbeitsplatz gefunden, die meisten bei anderen Fluggesellschaften. Hunderte andere wurden zunächst in Transfergesellschaften betreut.
Welle von Kündigungsschutzklagen
Dennoch rollte die von Anfang an erwartete Welle von Kündigungsschutzklagen auf die Justiz zu: 2.155 Arbeitnehmer erhoben Klage bei dem Arbeitsgericht Berlin (Stand: 14. Januar 2019). Daneben wurden auch einige Klagen in Düsseldorf anhängig gemacht. Viele der klagenden Arbeitnehmer wandten ein, ihre Kündigung sei wegen eines Betriebs(teil-)übergangs nach § 613a BGB unwirksam. Den Betriebs(teil-)übergang erblickten sie darin, dass bestimmte Vermögenswerte von Air Berlin an andere Fluggesellschaften veräußert worden waren.
In fast allen Fällen lehnten die Arbeitsgerichte einen Betriebs(teil-)übergang ab (vgl. LAG Düsseldorf, Urteil v. 17. Oktober 2018 – 1 Sa 337/18; LAG Berlin-Brandenburg, Urteil v. 08. Dezember 2017 – 6 TaBVGa 1484/17). Lediglich die 41. Kammer des ArbG Berlin sah in der Überlassung von Flugzeugen mit Bedienungspersonal einen Betriebsteilübergang (ArbG Berlin, Urteil v. 25. Oktober 2018 – 41 Ca 16495/17).
Erste Entscheidung des LAG Berlin-Brandenburg: Sozialauswahl auch in der Insolvenz
Mittlerweile sind ca. 1.700 Kündigungsschutzverfahren in erster Instanz abgeschlossen. In ungefähr 700 von ihnen wurde Berufung bei dem Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg eingelegt. Während bislang nur eine Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf veröffentlicht war, liegt nunmehr die, soweit ersichtlich, erste sich mit Kündigungen bei Air Berlin befassende Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg im Volltext vor (Urteil v. 13. Dezember 2018 – 5 Sa 1257/18).
Das Interessante an dieser Entscheidung: Die Arbeitnehmerin in diesem Fall hatte sich nicht auf einen Betriebs(teil-)übergang berufen. Sie hatte vielmehr auf ein Detail hingewiesen, das in den Medien wenig Beachtung fand, aber bei vielen Betriebsstillegungen vorkommt: Der Insolvenzverwalter von Air Berlin beschäftigte einige Mitarbeiter auch noch nach der Betriebsstillegung. Sie wurden mit Abwicklungsarbeiten betraut. Dies betraf Beschäftigte aus den Abteilungen Buchhaltung, Guest Relation/Claim-Management, Recht, Personal und IT.
Die Arbeitnehmerin im konkreten Fall hatte eingewandt, sie sei sozial schutzwürdiger als eine Kollegin. Diese Kollegin sei in der „InsO-Hotline“ eingesetzt worden. Dort habe sie Anrufe von Gläubigern entgegengenommen, Forderungen in eine „Excel“-Tabelle eingetragen und einfache Fragen zur Forderungsaufstellung beantwortet. All diese Tätigkeiten hätte auch sie, so die klagende Arbeitnehmerin, verrichten können. Der Insolvenzverwalter hätte daher nicht sie, sondern die Kollegin entlassen müssen.
Dieser Auffassung der Arbeitnehmerin hatte sich bereits das Arbeitsgericht angeschlossen. Das Landesarbeitsgericht hat diese Entscheidung nun bestätigt. Dabei hat das Landesarbeitsgericht klargestellt, dass die in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zur Sozialauswahl auch in der Insolvenz uneingeschränkt Anwendung finden.
Keine Sozialauswahl bei völliger Betriebsstillegung, jedoch bei schrittweiser Schließung
Trifft der Arbeitgeber die unternehmerische Entscheidung, den Betrieb vollständig stillzulegen, und kündigt er alle Arbeitsverhältnisse zu einem einheitlichen Beendigungszeitpunkt (z. B. mit Wirkung zum 31. März 2019), unterbleibt eine Sozialauswahl. Denn wenn alle Arbeitsverhältnisse beendet werden, gibt es keinen freien Arbeitsplatz mehr.
Beabsichtigt der Arbeitgeber hingegen, die werbende Tätigkeit schrittweise einzustellen, muss der Arbeitgeber auf den zuletzt entfallenden Arbeitsplätzen von mehreren vergleichbaren Arbeitnehmern des Betriebs diejenigen Arbeitnehmer einsetzen, die unter Berücksichtigung der Dauer ihrer Betriebszugehörigkeit, ihres Lebensalters, ihrer Unterhaltspflichten sowie einer etwaigen Schwerbehinderung am stärksten sozial schutzwürdig sind.
Soweit von dem Verlust ihres Arbeitsplatzes betroffene Arbeitnehmer auf einem anderen Arbeitsplatz des Betriebs, der erst zu einem späteren Zeitpunkt entfällt, beschäftigt werden können, muss der Arbeitgeber als erstes den dort beschäftigten sozial weniger schutzwürdigen Arbeitnehmer kündigen. Den dadurch vorübergehend frei werdenden Arbeitsplatz muss er dem sozial schutzwürdigeren Arbeitnehmer zuweisen.
Ferner: Sozialauswahl bei Abwicklungstätigkeiten
Eine derartige „schrittweise″ Sozialauswahl ist – wie das LAG Berlin-Brandenburg in seiner Entscheidung vom 13. Dezember 2018 (5 Sa 1257/18) hervorhebt – auch dann erforderlich, wenn der Geschäftsbetrieb zwar gänzlich eingestellt werden soll, aber einige Abteilungen (wie die Buchhaltung) noch für Abwicklungsarbeiten vorübergehend aufrechtzuerhalten sind. In diesem Fall konkurrieren alle vergleichbaren Arbeitnehmer um die wenigen verbleibenden Stellen. Der Arbeitgeber muss dann zunächst ermitteln, welche Beschäftigten vergleichbar und für diese Arbeitsplätze geeignet sind. Maßgeblich ist hier insbesondere, dass die in Rede stehenden Arbeitnehmer auf derselben Hierarchieebene tätig sind und der von dem Verlust seines Arbeitsplatzes betroffene Arbeitnehmer allein durch Ausübung des Weisungsrechts auf den „Abwicklungsarbeitsplatz″ versetzt werden kann. Unter diesen Arbeitnehmern muss der Arbeitgeber die Sozialauswahl vornehmen.
Werden für die Restarbeiten im Anschluss an die Schließung Stellen komplett neu geschaffen (hier: „InsO-Hotline″), erhalten die Arbeitnehmer die freien Stellen, ggf. durch Änderungskündigung, zugewiesen, die auf der Grundlage einer sozialen Auswahl am schutzwürdigsten sind. Auch in diesem Fall ist also eine Sozialauswahl erforderlich.
Sozialauswahl auch unabhängig von Dauer der Abwicklungsarbeiten
Um welchen Zeitraum sich das Arbeitsverhältnis dadurch, dass der Arbeitnehmer für Abwicklungsarbeiten eingesetzt wird, verlängert, ist in diesem Zusammenhang grundsätzlich irrelevant. Selbst wenn der Arbeitnehmer nur wenige Monate hinzugewinnt, muss die Sozialauswahl durchgeführt werden. Dies gilt insbesondere bei einfachen / geringqualifizierten Tätigkeiten.
Im Fall von Air Berlin hatte der Insolvenzverwalter vorgebracht, dass die Tätigkeiten in der „InsO-Hotline“ vier Monate nach dem Zeitpunkt, zu der er der klagenden Arbeitnehmerin gekündigt hatte, ohnehin beendet worden seien. Die Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten seien daher von vornherein begrenzt werden. Diesem Umstand hat das Landesarbeitsgericht jedoch keine Bedeutung beigemessen.
Der Arbeitgeber kann die Sozialauswahl auch nicht dadurch vermeiden, dass er mit dem Betriebsrat vereinbart, welche Arbeitnehmer für die Abwicklungstätigkeiten eingesetzt werden und welche nicht. Auch dies hatte der Insolvenzverwalter im Air-Berlin-Fall versucht. Das Landesarbeitsgericht hat jedoch auch dieses Argument verworfen. Denn die klagende Arbeitnehmerin hatte gar nicht zu den Beschäftigten gehört, unter denen der Insolvenzverwalter und der Betriebsrat eine Auswahl getroffen hatten. Sie war von vornherein nicht für Abwicklungstätigkeiten in Betracht gezogen worden, weil der Insolvenzverwalter – im Ergebnis fehlerhaft – davon ausgegangen war, dass sie für eine Tätigkeit in der „InsO-Hotline“ eine mehrwöchige Einarbeitungszeit benötigen würde.
In die Auswahlentscheidung einzubeziehen sind natürlich nur die Arbeitnehmer, die für die in Rede stehende Stelle auch geeignet sind. Insofern hatte der Insolvenzverwalter eingewandt, die klagende Arbeitnehmerin hätte in der „InsO-Hotline“ nicht eingesetzt werden können, weil sie einer mehrwöchigen Einarbeitungszeit bedurft hätte. Zur Schonung der Insolvenzmasse habe er daher für die „InsO-Hotline“ auf solche Mitarbeiter zurückgegriffen, die diese Arbeiten sofort oder nach einer Einarbeitung von nur wenigen Tagen hätten verrichten können.
Dieses Argument wäre zwar grundsätzlich geeignet, eine Weiterbeschäftigung auf dem Abwicklungsarbeitsplatz auszuschließen. Allerdings hat das Landesarbeitsgericht diesen Einwand im Streitfall nicht gelten lassen. Denn für das Gericht war nicht nachvollziehbar, warum die Klägerin mehr als ein paar Tage Einarbeitung benötigt hätte, um Anrufern einfache Fragen zur Forderungsaufstellung zu beantworten.
Nachholung der Sozialauswahl ist möglich
An dieser Stelle hätte der Air-Berlin-Fall noch nicht zu Ende sein müssen. Denn es ist nicht zwingend erforderlich, dass die Sozialauswahl tatsächlich vor Ausspruch der Kündigung stattgefunden hat. Die Rechtsprechung akzeptiert es, wenn der Arbeitgeber erstmals im Kündigungsschutzprozess die Sozialdaten aller vergleichbaren Arbeitnehmer vorträgt und sich hierbei herausstellt, dass der klagende Arbeitnehmer sozial weniger schutzwürdig ist als die nicht entlassenen Mitarbeiter.
Der Arbeitnehmer kann sich auf Fehler also nur dann berufen, wenn er bei ordnungsgemäßer Auswahlentscheidung nicht gekündigt worden wäre. Im Fall von Air Berlin kamen die Gerichte hierzu aber nicht, weil der Insolvenzverwalter die erforderlichen Sozialdaten nicht vollständig vorgetragen hatte.
Fazit: Grundsätze der Sozialauswahl auch in der Insolvenz beachten
Die Entscheidung des LAG Berlin-Brandenburg zeigt anschaulich, dass die Vorgaben des Kündigungsschutzgesetzes auch in der Insolvenz zu beachten sind. Wirtschaftliche Schwierigkeiten genügen für sich genommen nicht. Erforderlich ist vielmehr ein schlüssiges unternehmerisches Konzept, welches den Stellenwegfall plausibel macht.
Eine vorausschauende arbeitsrechtliche Vorbereitung von Entlassungen ist hierfür unerlässlich. Wichtig ist dabei insbesondere die Sozialauswahl. In der Praxis erfolgt deren Durchführung oftmals IT-gestützt unter Einsatz spezialisierter Legal Tech Tools (z. B. CMS Select). Deren Verwendung ist nicht nur zeit- und kostensparend, sondern vor allem einfach und rechtssicher. Dies gilt nicht nur in der Luftfahrtindustrie (Air Berlin, Germania), sondern auch in allen anderen Branchen.